«Es sind Zweifel angebracht, ob die ETH-Verantwortlichen in allen Fällen richtig gehandelt haben»

Verfahrensfehler, Führungsversagen, Korruptionsvorwürfe: Erstmals fordert mit Bildungspolitiker Christoph Eymann ein Parlamentarier eine politische Untersuchung der Vorgänge an der ETH. «Ich begrüsse die Untersuchung der Finanzkontrolle, zweifle aber, dass sie genügt», sagt der Basler Nationalrat.

Ein Interview von Dennis Bühler, 28.05.2019

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«Die ETH wird von inoffiziellen Koalitionen gelenkt, die sämtliche Macht auf sich vereinigen», sagte Physikprofessorin Ursula Keller in einem Interview mit der Republik – und sprach öffentlich von Machtmissbrauch, Sexismus und Korruption an der renommiertesten Hochschule der Schweiz. Die ETH wies die Vorwürfe umgehend zurück. Und ETH-Präsident Joël Mesot zeigte sich «schockiert und enttäuscht»: «Solche Interviews» würden «auf dem Weg des Miteinanders» in «keinster Art und Weise» weiterhelfen.

Inzwischen sind zwei Monate vergangen. Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments ist alarmiert. Die Eidgenössische Finanzkontrolle hat Anfang Mai eine ausserordentliche Prüfung der Finanzvergaben eingeleitet und die ETH eine Administrativ­untersuchung.

Darüber hinaus blieb es auffallend ruhig. Kein Politiker schien sich mit der ETH anlegen zu wollen, die – von Gesetzes wegen – so unkontrolliert ist wie kaum eine andere Institution im Land.

Jetzt äussert sich erstmals ein Parlamentarier zu den Vorgängen an der ETH: Christoph Eymann, Basler LDP-Nationalrat, Mitglied der FDP-Fraktion und der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), ist einer der profiliertesten Bildungspolitiker der Schweiz. Der 68-Jährige präsidierte die Schweizerische Universitäts­konferenz und die Konferenz der kantonalen Erziehungs­direktorinnen und Erziehungs­direktoren.

Herr Eymann, seit einiger Zeit brodelt es an der ETH. Was läuft Ihrer Meinung nach schief an der renommiertesten Schweizer Hochschule?
Leider bestehen mehrere Schieflagen. Auch wenn die Situation aus der Distanz chaotisch anmutet und entsprechend schwer zu überblicken ist – etliche Doktoranden, Professoren und die Schulleitung beharken sich mit Beschwerden und Untersuchungen –, scheint mir etwas klar zu sein: Die Ursachen- und möglicherweise auch Symptom­bekämpfung dauert viel zu lang. Der gegenwärtig herrschende Unsicherheits­zustand an der ETH betrifft zu viele Personen während zu langer Zeit. Nach meinem Führungs­verständnis wäre rasches Handeln geboten.

Wer müsste handeln – und wie?
Gefordert ist die Schulleitung, aber auch der ETH-Rat als Aufsichts­gremium. Beide haben es zugelassen, dass sich aus dem kolportierten Mobbingfall am Astronomie-Institut ein Sog entwickelt hat: Die Probleme griffen auf andere Departemente und Professuren über. Wenn sich eine solche Krise flächenartig ausbreitet, müsste die Führung entschieden, aber pragmatisch intervenieren. Statt stets den vorgesehenen Instanzenweg zu beschreiten, der ungemein viel Energie und Geld kostet und von der Lehr- und Forschungstätigkeit ablenkt, hätte man frühzeitig den Dialog mit allen Involvierten suchen müssen. Ich bedauere es, dass die ETH offenbar immer gleich ihre Juristen vorschickt.

Physik-Professorin Ursula Keller hat im Republik-Interview Ende März schwere Vorwürfe gegen die ETH-Leitung erhoben: Sie sprach von Machtmissbrauch, Sexismus und Korruption. Die ETH-Leitung widersprach heftig. Halten Sie Kellers Vorwürfe für plausibel?
Für eine seriöse Beantwortung dieser Frage fehlen mir die Informationen. Es hätte aber gar nie zu einem solch zerfahrenen Konflikt kommen dürfen, wie er zwischen der ETH und Keller offensichtlich herrscht.

«Professorin Ursula Keller ist ein Aushängeschild des Schweizer Forschungsplatzes. Umso ernster sind ihre Vorwürfe zu nehmen.»
Nationalrat und Bildungspolitiker Christoph Eymann.

Wie meinen Sie das?
Würde an der ETH ein Klima des Vertrauens herrschen, könnte ein Konflikt nicht derart eskalieren. Und er würde auch nicht öffentlich ausgetragen. Entweder hatte Ursula Keller nicht das Gefühl, die Probleme mit der Schulleitung oder gar der Aufsichtsbehörde vertrauensvoll besprechen zu können, im Notfall unter Umgehung des Dienstweges; oder ihre Hinweise und Gesprächsanfragen wurden von der Leitung ignoriert. Ich weiss nicht, welche Schritte und Bemühungen zur Schadensbehebung oder -begrenzung vor dem Gang an die Öffentlichkeit erfolgt sind.

Professorin Keller hat die Missstände intern seit Jahren angesprochen, wie uns vorliegende Dokumente belegen. Im Herbst 2018 richtete sie schliesslich eine Aufsichts­beschwerde an den ETH-Rat, weil nie jemand etwas unternommen hatte.
Wenn das zutrifft, war ihre öffentliche Intervention, die von Zivilcourage zeugt, ultima ratio. Verantwortungsträger, die sich trauen, gegen den Strom zu schwimmen, zeigen neben Mut auch Verbundenheit zu ihrer Institution.

Ursula Keller studierte einst selbst an der ETH. Inzwischen ist sie zur Direktorin eines Forschungsschwerpunkts des Schweizerischen Nationalfonds aufgestiegen, wird weltweit gefeiert und erhielt 2017 für ihr Lebenswerk den renommierten Erfinderpreis. Bereitet es Ihnen Sorgen, wenn jemand wie Keller derart drastische Vorwürfe erhebt?
Das tut es in der Tat. Keller ist ein Aushängeschild des Schweizer Forschungsplatzes. Umso ernster sind ihre Vorwürfe zu nehmen.

Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hat wegen Kellers Vorwürfen Anfang Mai eine ausserordentliche Prüfung der ETH und der EPFL in Lausanne angesetzt. Was erhoffen Sie sich davon?
Ich begrüsse die Untersuchung der EFK, zweifle aber, dass sie genügt. Ich frage mich, ob nicht die Parlamentarische Verwaltungs­kontrolle Befugnisse und Übung hätte, diese mehrschichtige Problematik mit der ihr eigenen hohen Kompetenz und Nüchternheit zu analysieren. Momentan kümmern sich – ausser der Finanzkontrolle – ausschliesslich Betroffene um die Situation. Unabhängige Expertise ist bei der EFK zwar in hohem Masse vorhanden, eine Beschränkung rein auf das Finanzielle würde bei der ETH aber zu kurz greifen.

Die Finanzkontrolle wird eine Analyse liefern. Durchgreifen aber kann, falls gefordert, nur die Politik.
Das ist so. Die EFK liefert Fakten, deckt möglicher­weise Fehler und Gesetzes­verletzungen auf und gibt vielleicht Empfehlungen ab. Die Politik ist dann gehalten, die Konklusionen dieser Fach­leute genau zu analysieren. Nach meiner Erfahrung, die ich als Regierungsrat im Kanton Basel-Stadt sammeln konnte, ist man gut beraten, diese Grundlagen in Entscheide einzubeziehen.

Im Republik-Interview sagte Ursula Keller: «Was wir gegenwärtig erleben, ist der Anfang vom Untergang.» Erhalte die ETH nicht schleunigst eine Unternehmensführung, in der die Kompetenzen klar getrennt seien, werde sie sich nicht an der Weltspitze halten. Fürchten Sie ebenfalls um den Weltrang der ETH?
Ja, diese never ending story schadet der ETH. Und das ist sehr schlimm. Die Hochschule beschäftigt sich im Vorfeld der so wichtigen politischen Entscheidungs­findung zur Botschaft über die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI) 2021 bis 2024 zu stark mit sich selbst. Zudem hat man den Eindruck, dass niemand den «Steuerknüppel» in der Hand hält, um zum geordneten Betrieb zurückzufinden.

Könnten der ETH finanzielle Konsequenzen erwachsen, wenn bei ihr bis zur in einem Jahr anstehenden Parlamentsdebatte über die BFI-Botschaft keine Ruhe einkehrt?
Die Unruhen und die Frage, wer dafür verantwortlich ist, werden bei der Diskussion um die Finanzierung der ETH mit Sicherheit ein Thema sein. Ich gehe aber davon aus, dass die Mitglieder der Eidgenössischen Räte keine «Strafaktionen» durchführen werden. Das wäre unangebracht und würde zu einem Akt der Sippenhaftung verkommen, weil eine weit überwiegende Anzahl von ETH-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern betroffen wäre, die mit diesen aktuellen Problemen gar nichts zu tun hat.

Die Politik hat bis anhin kaum auf das Bekanntwerden der systematischen Probleme an der ETH reagiert. Wie erklären Sie sich das?
Ich habe bisher auf Interventionen verzichtet, weil ich davon ausging, dass die zuständigen Verantwortlichen die Probleme im Rahmen der gegebenen Ablaufregelungen lösen – damit meine ich nicht nur die Verantwortlichen bei der ETH, sondern auch die Mitglieder der parlamentarischen Geschäftsprüfungs­kommission. So erging es möglicherweise auch Kolleginnen und Kollegen im National- und Ständerat. Die Probleme scheinen aber nicht in absehbarer Zeit lösbar. Das Interesse wird in den Räten nun mit Sicherheit zunehmen, was nachvollziehbar ist.

Hätte Bildungsminister Guy Parmelin die Vorgänge an der ETH nicht längst zur Chefsache erklären müssen?
Ich gehe davon aus, dass Bundesrat Parmelin und die Chefin des Staats­sekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) interveniert haben und weiter dranbleiben. Erschwerend ist, dass beide neu im Amt sind und sich erst den Durchblick verschaffen müssen. Es gilt aber für die politisch Verantwortlichen auch, die Autonomie der Hochschule, die sehr wichtig ist, nicht ohne Not einzuschränken.

Alle vier Jahre definiert der Bundesrat den Leistungsauftrag des ETH-Bereichs, den dafür nötigen Zahlungsrahmen bewilligt das Parlament. Davon abgesehen aber wird die Unabhängigkeit des ETH-Bereichs nicht zuletzt wegen der Forschungsfreiheit grossgeschrieben. Zu Recht?
Ja, diese Unabhängigkeit muss zwingend bestehen bleiben. Die Politik muss die Gefässe zur Verfügung stellen und für ausreichende Finanzen sorgen, die Inhalte müssen von den Verantwortlichen für Lehre und Forschung bestimmt werden. Es mag für Aussenstehende seltsam klingen, wenn sie hören, dass in der Schweiz zwei wichtige Institutionen von der Politik nahezu unkontrolliert sind – nebst dem ETH-Bereich ist das der Schweizerische Nationalfonds. Doch das System hat sich bewährt. Nicht es hat versagt.

Die Aufsicht über den ETH-Bereich obliegt dem ETH-Rat. Ist dieses elfköpfige Gremium unabhängig genug?
Für mich stellt sich beim ETH-Rat nicht die Frage nach Abhängigkeit. Vielmehr geht es für mich um Fachkompetenz, Kenntnisse der Hochschul­landschaft und die entsprechende Politik. Als in Zürich und Lausanne auf operativer Ebene starke Führungs­persönlichkeiten wie der damalige ETH-Präsident Ralph Eichler und der damalige EPFL-Präsident Patrick Aebischer den Ton angaben, hat man den ETH-Rat gar nicht wahrgenommen. Entweder gab es damals keine ähnlichen Probleme, oder aber Eichler und Aebischer haben sie auf ihrer Ebene gelöst.

Und heute?
Verfügen die ETH und die EPFL mit Joël Mesot und Martin Vetterli aus meiner Sicht ebenfalls über sehr gute Chefs.

Wenn ich Sie richtig verstehe, heisst das: Das Versagen orten Sie eine Ebene höher – beim ETH-Rat und bei dessen langjährigem Präsidenten Fritz Schiesser, der Ende April zurückgetreten ist.
Ich versuche, stimmungslabile Haltungen zu vermeiden. Unter dem Eindruck der bestehenden Probleme könnte man versucht sein, eine negative Beurteilung der Ära Schiesser abzugeben. Das kann und will ich nicht. Es wäre auch ungerecht und arrogant von mir, weil mir viele Kenntnisse zur Beurteilung fehlen. Viele Jahre haben sich Politiker mit ins positive Scheinwerferlicht der ETH gestellt. Der Erfolg hat viele Väter, die Niederlage ist eine Waise, hat einmal ein weiser Mensch festgehalten. Aber: Tatsache ist, dass es in der Ära Schiesser neben vielen Erfolgen nicht gelungen ist, diese Probleme zu beheben. Das wird Fritz Schiesser selbst am meisten ärgern.

Die Frage nach der Unabhängigkeit stellt sich, weil im ETH-Rat auch die Präsidenten der ETH und der EPFL sitzen. Das bedeutet: Joël Mesot und Martin Vetterli überwachen sich selbst. Ein Governance-Problem?
Aus meiner Sicht wird dem Begriff «Governance» zurzeit zu stark gehuldigt. Alle Kantonsregierungen haben tausende Stunden und sehr viel Geld aufgewendet, um Governance-Richtlinien zu erlassen. Das Pendel ist momentan in der Position des Höchstausschlags. Mit gesundem Menschenverstand, Eigenverantwortung und Selbstbeschränkung als Korrektiv für Machtmissbrauch würden wir keine schlechteren Resultate haben als mit Vorschriften. Ich bin sicher, dass Joël Mesot und Martin Vetterli die gebotene Zurückhaltung üben werden.

Mit dem vormaligen Ständerat Schiesser kürte der Bundesrat im Jahr 2007 einen Politiker zum ETH-Ratspräsidenten, nachdem bis dahin stets verdiente Wissenschaftler diese Funktion innegehabt hatten. Aus welcher Sparte soll seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger kommen?
Eine Einengung wäre kontraproduktiv, zumal es für das Präsidium dieser wichtigen Hochschule in der Schweiz keine beliebig grosse Anzahl Kandidatinnen und Kandidaten gibt. Es könnte sehr wohl jemand aus der Politik mit profunder Kenntnis der Hochschul- und der übrigen Bildungs­landschaft dieses Amt führen. Führungserfahrung ist unabdingbar.

An wen denken Sie?
Einer, der dieses Amt bestimmt sehr gut ausüben könnte, ist Bernhard Pulver, der hervorragende ehemalige Berner Bildungsdirektor.

Das dürfte schwierig werden – der 53-jährige ehemalige Grünen-Politiker Pulver hat gerade erst das Verwaltungsrats­präsidium der Insel-Gruppe übernommen. Wollen nicht Sie selbst ETH-Ratspräsident werden?
(Schmunzelt.) Die Aufgabe ist reizvoll, kommt für mich aber nicht infrage. Nicht nur, weil man seine eigenen Fähigkeiten niemals überschätzen sollte. Sondern auch, weil ich mit meinen 68 Jahren zu alt bin, um dem ETH-Rat die nötige mehrjährige Kontinuität zu verleihen. Und zudem kandidiere ich im Herbst erneut für den Nationalrat.

Was, wenn auch Pulver absagt?
Dann sähe ich mich in der Wissenschaft um, wenn ich im Bundesrat sässe und den Präsidenten des ETH-Rats zu bestimmen hätte. Entscheidend ist, dass eine Person gewählt wird, die über Ausstrahlung verfügt, sich aber auch im Managementbereich zurechtfindet. Bedenkenlos zutrauen würde ich dies beispiellos EPFL-Präsident Martin Vetterli.

Unter der Leitung der interimistischen Präsidentin Beth Krasna wird der ETH-Rat in den nächsten Wochen entscheiden müssen, ob mit der Astronomie-Professorin Marcella Carollo zum ersten Mal in der 164-jährigen Geschichte der ETH eine Professorin entlassen werden soll. Welchen Entscheid würden Sie dem ETH-Rat nahelegen?
Es wäre anmassend, wenn ich aus meiner Distanz zu diesen Ereignissen Ratschläge zu Entlassung oder Nichtentlassung geben würde. Seltsam aber ist es, wenn Empfehlungen eines Fachgremiums nicht beachtet werden.

Sie sprechen die Stellungnahme der extra einberufenen sechsköpfigen Entlassungs­kommission an, deren Urteil eindeutig war: Carollo soll nicht entlassen werden.
So ist es. Ich habe nicht verstanden, weshalb sich die ETH-Schulleitung über diese Empfehlung hinweggesetzt hat.

Im Fall Carollo spielten die Ombudspersonen eine wichtige Rolle, die als Anlaufstellen bei Konflikten dienen, die im direkten Gespräch nicht gelöst werden können. Bisher üben das Amt vor allem emeritierte ETH-Professoren aus. Müsste dies korrigiert werden, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten?
Ich zweifle nicht an der Unabhängigkeit der Ombudspersonen. Ganz allgemein ist es wichtig, dass sie ihre Kompetenzen nicht überschreiten – genauso wenig wie die Mitglieder der Schulleitung, die Departementsleiter und so weiter. Es sind Zweifel angebracht, ob die ETH-Verantwortlichen in den letzten Jahren in allen Fällen richtig gehandelt haben.

Auslöser der Affäre Carollo waren Doktorandinnen und Postdocs, die gegen die aus ihrer Sicht schikanierende Betreuerin aufbegehrten. Losgelöst vom konkreten Fall: Wie beurteilen Sie das systemimmanent spannungsbeladene Verhältnis zwischen Doktoranden und Professoren?
Es besteht für die ETH – und im Sog dieser Ereignisse auch für andere Hochschulen – die Gefahr des Exzellenzverlusts. Professorinnen und Professoren, die hohe Ansprüche an die Doktorierenden stellen, sind zu loben und nicht zu tadeln oder zu inkriminieren. Ich spreche nicht von Belästigungen oder Schikanen, aber sehr wohl davon, dass das Verfassen einer Dissertation kein Nine-to-five-Job ist. Die ETH verdankt ihre ausgezeichnete internationale Position der Exzellenz.

Fürchten Sie um diese Position?
Im globalen Wettbewerb besteht die ETH nur, wenn ihre Dozentinnen und Dozenten bereit sind, viel von ihren Mitarbeitenden zu fordern. Ein Dozent, der aus Gründen mangelnder Qualität eine Doktorarbeit ablehnt, begeht keine Verletzung eines Menschenrechts. Dozierende müssen es aushalten, dass sie nicht jeden Tag von allen wohlgelitten sind.

Es fällt in etlichen Fällen auf, dass die ETH angegriffenen Professorinnen nicht mitteilt, wer genau sie womit belastet, damit die anklagenden Studenten, Doktoranden und Postdocs keine Konsequenzen fürchten müssen. Finden Sie anonyme Anschuldigungen akzeptabel?
Offenbar hat die ETH-Leitung Fehler bei den Verfahren gemacht. Wenn es zutrifft, dass rechtsstaatliche Verfahren seitens ETH missachtet worden sind, ist das verwerflich. Anonyme Anschuldigungen, die zu solch jahrelangen Verfahren führen, dürfen nicht akzeptiert werden. Genauso wenig geht es an, dass Vorwürfe vage und unkonkret bleiben, da sich Beschuldigte so kaum wehren können.

Professoren, die unter Beschuss der ETH stehen, berichten von genau solchen Methoden. Professorin Marcella Carollo ist ja kein Einzelfall.
Es gibt eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Angestellten, und die gilt selbstverständlich auch gegenüber Dozierenden. Diese Pflicht wird so vernachlässigt.

Die ETH bestreitet die Verletzung solcher Pflichten und stellt sich auf den Standpunkt, alle Verfahrens­vorschriften eingehalten und ausschliesslich im Interesse der Hochschule gehandelt zu haben.
Ich möchte Folgendes zu bedenken geben: Müssen die Angeschuldigten ihre hohen Anwaltskosten selbst bezahlen? Kann jemand, der um seine berufliche Zukunft fürchten muss, ohne sich einer Verfehlung bewusst zu sein, die Konzentration für den Alltagsjob aufbringen? Es geht hier nicht nur um die Summe der einzelnen Verfahren, es geht um die Stimmung innerhalb der Hochschule und – weit bedeutender – um ihre Exzellenz. Wenn Professorinnen und Professoren fürchten müssen, des Mobbings ihrer Doktoranden beschuldigt zu werden, steigt die Bereitschaft, weniger von ihnen zu fordern. Mit fatalen Folgen für die ETH und andere Universitäten.

Im Republik-Interview sagte Ursula Keller: «Als angehender Forscher, der auf das Niveau der Weltbesten kommen möchte, muss man lernen, mit Rückschlägen umzugehen, zumal man aus solchen Erfahrungen oft am meisten lernt.» Stimmen Sie zu?
Ja. Und nicht nur mit Rückschlägen, sondern auch mit Entbehrungen. In Tageszeitungen sehe ich ab und zu Inserate, die den Verzicht auf Freizeit und auf einen üblichen Arbeitstag thematisieren und gleichzeitig auf den damit erreichten Forschungserfolg hinweisen. Das trifft die Situation präzis.

Der renommierte kanadische Mobbingexperte Kenneth Westhues formulierte es gegenüber der Republik so: «Man tut, als wären die Studenten zarte, schwache, hilflose Wesen. Dabei sind sie Akademikerinnen, junge Erwachsene mit überdurchschnittlicher Intelligenz und Gewieftheit.» Geht Westhues mit Doktoranden und Postdocs zu hart ins Gericht, oder sind sie tatsächlich verweichlicht?
Zwar können solch pauschale Feststellungen gefährlich und auch verletzend sein. Doch die Tendenz geht bei einigen Studierenden offen­sichtlich dahin, weniger Leistungs­bereitschaft zu zeigen. Das trifft wohl nur auf eine Minderheit zu; eine Minderheit aber, die es versteht, sich und ihre Anliegen öffentlich zu inszenieren.

Die Doktoranden und Postdocs, die Vorwürfe gegen Marcella Carollo erhoben, beschwerten sich unter anderem, weil von ihnen Anwesenheit bis spätabends verlangt gewesen sei und sie auch an den Wochenenden permanent auf E-Mails hätten antworten müssen. Tatsächlich scheinen sich die Ansprüche der Spitzenforschung kaum mit den geltenden Schweizer Arbeitsgesetzen zu vereinbaren. Sehen Sie einen Ausweg?
Im Detail kann ich das nicht beantworten. Sicher ist zu begrüssen, dass an der ETH künftig Doktoranden nicht mehr nur von einem Professor oder einer Professorin betreut werden. Einige Universitäten kennen dieses System schon länger, es hat sich bewährt. Fernab aller Regularien aber würde es wohl schon helfen, wenn Professoren und Doktoranden vor Beginn der Promotion offen miteinander sprächen und sich nichts vorgaukelten – sie sollten sich darüber verständigen, dass ein Doktorat Knochenarbeit ist und zwingend mit dem freiwilligen Verzicht auf Freizeit einhergeht. So liessen sich Enttäuschungen und böse Überraschungen vermeiden.

Zur Person

Christoph Eymann studierte Rechtswissenschaften an der Universität Basel und schloss mit dem Doktorat ab. Mit 33 Jahren wurde er 1984 Direktor des Gewerbeverbandes Basel-Stadt. 1991 wählte ihn die Bevölkerung erstmals in den Nationalrat, zehn Jahre später kürte sie den Politiker der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) zum Regierungsrat. In dieser Funktion leitete Eymann von 2001 bis 2017 das Erziehungsdepartement. In den Jahren 2012 und 2013 präsidierte er zudem die Schweizerische Universitäts­konferenz – das gemeinsame Organ von Bund und Kantonen für die universitätspolitische Zusammenarbeit – und von 2013 bis 2017 die Konferenz der kantonalen Erziehungs­direktoren (EDK). Eineinhalb Jahre vor seinem Rücktritt aus dem Regierungsrat wurde Eymann im Herbst 2015 erneut in den Nationalrat gewählt. Dort politisiert der mittlerweile 68-Jährige in der FDP-Fraktion und sitzt in der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK). Im Oktober kandidiert er für eine weitere Amtszeit. Vergangene Woche wurde er als erster bürgerlicher Politiker zum Präsidenten der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gewählt.

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