Europäischer Frühling

Die EU-Bürger verteidigen ihre Demokratie gegen den Rechts­populismus und frischen ihr Parlament auf. Zeit, dass die Schweiz aus ihrem europapolitischen Dornröschen­schlaf erwacht – und ihre Anbindung zur EU endlich festigt.

Ein Kommentar von Simon Schmid, 27.05.2019

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Keinen Rechtsrutsch – sondern eine liberale, ökologische, progressive und gesamt­gesellschaftliche Mobilisierung: Das haben die Parlaments­wahlen vom vergangenen Wochen­ende der EU und ihren Mitglieds­staaten gebracht.

Sicher, die neue Legislative ist bunter, fragmentierter und auch polarisierter als zuvor. Christ- und Sozial­demokraten, die beiden Volkspartei­blöcke, haben ihre Mehrheit verloren. Intensive Diskussionen um die Kommissions­bildung stehen in Brüssel bevor. Neue Koalitionen unter den roten, gelben, grünen und blauen Parteien werden nötig sein, um in Sach­themen voranzukommen.

Aber eines ist glasklar: Europa schwenkt nach den Wahlen nicht auf einen Rechts­kurs ein. Der Splitter­block am rechten Parteien­rand hat im Vergleich zu den letzten Wahlen von 2014 zwar leicht zugelegt: von 155 auf 181 Sitze. Er kommt damit auf einen Anteil von 24 Prozent im 751-köpfigen Parlament.

Viel wichtiger ist jedoch, dass gleichzeitig das ökologisch-liberale Lager gewonnen hat. Auf 360 Sitze kamen die Parteien links der Mitte bisher, wenn man die Linken, die Sozial­demokraten, die Grünen und die Liberalen zusammenzählte. 377 Sitze werden es in der neuen Legislatur sein, gemäss der sich abzeichnenden Fraktionsbildung. Progressiv-proeuropäische Kräfte stellen im neuen Parlament erstmals über die Hälfte des Personals.

Dieses Ergebnis ist Anlass, den Aufmerksamkeits­radar neu zu justieren. Rechts­populisten haben zuletzt die Schlag­zeilen dominiert. Salvini, Le Pen, Strache, Meuthen und ihre neue Fraktion – die Medien schrieben zeitweise über nichts anderes. Praktisch vergessen ging der andere grosse Trend: dass in der Mitte, im politischen Zentrum vieler europäischer Länder, seit einigen Jahren ein bedeutender Stimmungs­wandel über die Bühne geht.

Und zwar in die andere Richtung – zu mehr Europa. Gemäss Euro­barometer, der wichtigsten unionsweiten Umfrage, lag die Zustimmung zur EU zuletzt auf dem höchsten Wert seit 25 Jahren. 62 Prozent der EU-Bürger sind der Ansicht, die EU-Mitgliedschaft sei für ihr Land eine gute Sache. Vor acht Jahren, beim Ausbruch der Eurokrise, lag dieser Wert noch bei 47 Prozent.

Europa bewegt die Gemüter. Das lässt sich auch an der Wahl­beteiligung ablesen. Sie lag am Wochenende mit 51 Prozent erstmals seit 1994 wieder über der Hälfte. Natürlich ist dies auch eine Reaktion auf das Aufstreben von rechts. Doch der hohe Mobilisierungs­effekt beweist: Das Elektorat sorgt sich um die Europäische Union. Gerade die jungen Wähler haben entscheidend zur Stärkung der linken, liberalen und progressiven Parteien beigetragen.

Die gesellschaftliche Mitte ist also widerstandsfähiger, als man ihr das zugetraut hat. Der Populismus hat seinen Peak erreicht – oder sogar überschritten.

Nein, dieses Europa wird nicht auseinanderbrechen

Eine solche Behauptung mag seltsam anmuten nach einer Wahl, die Parteien wie der italienischen Lega oder den Schwedendemokraten teils satte Gewinne gebracht hat. Fakt ist allerdings, dass allein die grüne Fraktion praktisch gleich viele Sitze errungen hat wie die rechtsnationale EAPN.

Fakt ist auch, dass keine Rechtsaussen­partei in Europa jemals deutlich über einen Wähler­anteil von 30 Prozent gekommen ist (bis auf Viktor Orbáns Fidesz, die bis zuletzt noch zur Europäischen Volkspartei gehörte). Selbst der SVP gelang dies zu ihren besten Zeiten in der Schweiz nicht. Derweil blieben die spanische Vox und die deutsche AfD bei einem Anteil von 6 beziehungsweise 11 Prozent.

Nein, dieses Europa wird nicht auseinanderbrechen, so wie es EU-Freunde in der Euro­krise befürchteten und EU-Feinde nach dem Brexit herbeisehnten.

Im Gegenteil. Die Krisen, die die EU in den vergangenen Jahren durchgemacht hat, haben die Union stärker gemacht. Es gibt heute eine Banken­union, es gibt Euro-Rettungs­schirme und Ansätze einer gemeinsamen Finanz­politik. Klar: Diese Konstrukte funktionieren noch nicht optimal. Aber sie stellen gegenüber der Vorkrisenzeit einen bedeutenden Integrations­schritt dar.

Wie für den Euro gilt auch für die EU: Sie ist gekommen, um zu bleiben. Und sie wird sich weiterentwickeln – über die Krisen, die sie durchmachen muss.

Eine dieser Krisen nahm ihren Anfang vor drei Jahren mit der Wahl von Donald Trump. Sie rückt mit dem offenen Handels­krieg zwischen den USA und China immer stärker ins Bewusstsein: die Krise der Aussen­politik. Auf eine liberale und regel­gebundene Welt­ordnung zu zählen, ist für die Länder Europas keine Option mehr. Sei es mit Wirtschafts­sanktionen gegen den Iran oder mit Monster­krediten entlang der neuen Seiden­strasse: Die beiden Grossmächte betreiben Interessen­politik mit zunehmender Aggressivität. Um nicht zwischen West und Ost zerrieben zu werden, gibt es für die europäischen Staaten nur eins: aussenpolitische Kooperation. Weitere Integrations­schritte in der Grenz- und Sicherheits­politik sind absehbar.

Eine zweite Krise hat sich bei der Technologie zugespitzt. Auch hier sitzen die EU-Staaten zwischen Hammer und Amboss. Hier die milliarden­schweren, das westliche Internet beherrschenden Konzerne aus dem Silicon Valley; dort ihre technisch teils noch versierteren chinesischen Pendants, welche die dortige Digital­gesellschaft dominieren – unter den globalen Top 20 ist kein einziges europäisches Digitalunternehmen. Um gegenüber Facebook und Google, Alibaba und Huawei nicht in die totale Abhängigkeit zu geraten, haben EU-Kommission und Parlament mit Kartellverfahren und neuen Gesetzen zum Datenschutz bereits einiges in Bewegung gebracht. Weitere Emanzipations­schritte auf dem digitalen Terrain würden nicht überraschen.

Eine dritte Krise braut sich seit Jahr­zehnten zusammen – und mobilisiert nun erstmals die breite Masse: der Klima­wandel. Dass es sich dabei um ein länder­übergreifendes Problem handelt, liegt auf der Hand. Dass es dafür internationale Lösungen braucht, ebenso. Tatsache ist: Die EU ist bereits heute der wichtigste Akteur, über den die koordinierten Efforts laufen. Sie legt die Zertifikats­menge im europa­weiten Emissions­handels­system fest und ist zuständig für Grenz­werte wie den CO2-Ausstoss von Personen­wagen. Grüne, aber auch linke und liberale Politiker werden in den nächsten Jahren auf ein stärkeres Engagement zum Klima­schutz drängen – auf EU-Ebene.

Selbstverständlich gibt es auf diesen Politik­feldern auch Integrations­gegner. Manche von ihnen reiten aktuell auf einer Erfolgs­welle, zum Beispiel Matteo Salvini, Italiens Innen­minister und starker Mann (Marine Le Pen erhielt in Frankreich übrigens weniger Stimmen als vor fünf Jahren). Welchen Widerstand sie bei der Sicherheits- und der Sozial­politik leisten werden, wird sich weisen – in ihren Programmen finden sich teils auch linke Forderungen.

Ein wesentliches Problem ist, dass manche dieser Figuren in der Regierung ihrer jeweiligen Länder sind. Mit Matteo Salvini, Pedro Sánchez, Emmanuel Macron und Angela Merkel kommen die Anführer der vier Schwer­gewichte Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland zurzeit aus vier verschiedenen Parteien – von der Rechtsaussen­fraktion, den Sozial­demokraten, den Liberalen und den Christ­demokraten. Im Europäischen Rat, wo bei aussen-, finanz- und sozialpolitischen Entscheiden Einstimmigkeit gefordert ist, macht das die Entscheidungs­findung für die engere Zusammen­arbeit nicht leichter.

Trotzdem wird der Kooperations­druck über kurz oder lang auch in diesem Gremium steigen. Wegen der latenten Bedrohung durch die Populisten, wegen der progressiven Kräfte – und durch die geopolitische Exposition.

Ja, die Schweiz muss sich Europa annähern

Auch die Schweiz sollte angesichts dieser sich abzeichnenden Entwicklungen aufwachen. Und ihren europa­politischen Dornröschen­schlaf beenden, in dem sie seit über einem Jahrzehnt schlummert. Bloss nicht zu offensiv für Europa einstehen – bloss nicht den Eindruck erwecken, man strebe einen EU-Beitritt an: An dieser Maxime haben nicht nur der Bundesrat, sondern auch die Mitte­parteien bis hin zu Links-Grün ihre Europa­politik ausgerichtet. Dies, um der SVP ja keine Angriffs­fläche zu bieten, ihr keinen Auftrieb zu geben.

Doch die Schweizerische Volks­partei hat ihren Zenit überschritten. Verluste bei Kantons­wahlen kennzeichneten die laufende Legislatur – Verluste blühen der Partei auch auf nationaler Ebene im Herbst. Zeit, aus der Deckung zu gehen und wieder affirmativer über die Europäische Union zu diskutieren.

Ja, die Schweiz muss sich Europa strategisch annähern. Und neue Perspektiven für eine offene, fortschrittliche, gestaltende Politik ausloten.

Sicher: Die Schweiz soll beim Rahmen­abkommen mit der EU genau hinschauen und auf Nachverhandlungen zu den flankierenden Massnahmen pochen. Der Kleinkrieg um Anmelde­fristen und Kontroll­modalitäten darf aber nicht den Blick darauf verstellen, was mittelfristig im Vordergrund steht: eine engere Anbindung an das Staaten­gebilde, das die Schweiz geografisch vollständig umgibt, mit dem sie die intensivsten Handels­beziehungen pflegt und dem sie auch hinsichtlich ihrer kulturellen Werte am nächsten steht.

Die Schweiz profitiert vom EU-Binnenmarkt stärker als jedes andere Land. Sie profitiert von der Sicherheits­politik, vom Schengen-Raum – und übrigens auch von der Klima­politik: Wichtige Teile davon wie die Schadstoff­grenzen bei Autos übernimmt sie bereits heute eins zu eins. An den Emissionshandel, der bald auch den Flugverkehr abdeckt, dockt sie nächstes Jahr an. Bei der Gestaltung all dieser Systeme nicht mitzureden, ist absurd.

Europa hat soeben seine Demokratie erfolgreich aufgefrischt. Der Moment, um intensiver daran teilzuhaben, wird auch für die Schweiz bald kommen.

Update am 31. Mai 2019: Gemäss der Zusammenstellung von Europe Elects eine Woche nach der Wahl haben die diversen Rechtsparteien total 181 Sitze errungen (die erste Schätzung am Morgen nach der Wahl ging von 177 Sitzen aus). Das Mitte-Links-Lager hat 377 Sitze errungen (erste Schätzung: 383 Sitze), die Grünen haben 76 Sitze (erste Schätzung: 75 Sitze) und die EAPN 77 Sitze (erste Schätzung: 74 Sitze) errungen. Der Text wurde entsprechend aufdatiert.

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