Mindestens in drei Welten

Nachwuchshoffnung? Newcomerin? Beides trifft auf Priya Ragu nicht mehr wirklich zu. Die tamilisch-schweizerische Soulmusikerin startet gerade eine globale Musikkarriere – ohne Plattenfirma.

Von Timo Posselt, 25.05.2019

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«Ich will nicht auf Druck des Labels den Produzenten oder die Richtung wechseln müssen»: Priya Ragu. Christopher Kuhn

Wie ein seidener Vorhang bei offenem Fenster schwebt ihre Stimme – zum Beispiel im Song «Leaf High» zu schwärmerischen Synthies und einem Schlaf­wandler-Beat. Priya Ragu macht seit zwölf Jahren Musik und gilt etwa seit der Hälfte davon als Nachwuchs­talent und Geheim­tipp. Erfolgs­verwöhnt ist sie nicht. Aber 2019 könnte ihr Jahr werden. Denn Priya Ragu startet gerade eigenhändig ihre Musik­karriere. So, wie sie das tut, wäre es vor Jahren noch undenkbar gewesen. Sie hat zwar einen Manager und Produzenten – ihren Bruder Roshaan, alias Japhna Gold –, aber keine Plattenfirma.

Allüren sind Priya Ragu fremd. Bei unserem Treffen begrüsst sie mich mit einer Umarmung und erzählt begeistert vom Leben als Musikerin: «Wir reisen, haben eine Vision, fahren nach Indien und verwirklichen unsere Vorstellungen, obwohl wir fast kein Geld haben. Wir geben Konzerte, und die Menschen haben Freude daran.» Das war nicht immer so.

Routineleben statt Musikkarriere

2013 stand Priya Ragu auf dem wichtigsten Pop-Sprung­brett der Schweiz: Sie war Finalistin der «Demotape-Clinic» des Festivals M4Music. Obwohl sie damals ohne Preis nach Hause ging, erntete sie Lob seitens der Jury. Das bestärkte sie darin, weiterzumachen. Sie trat ein weiteres Mal an, ging wieder leer aus. Das zweite Mal steckte sie es nicht so leicht weg. «Es war demotivierend», sagt sie heute. Ragu verzichtete danach auf Open-Mic-Anlässe. Die ewigen Fragen nach ihrer Musik­karriere konnte sie nicht mehr hören. 2017 wurde sie dreissig. Sie arbeitete Vollzeit als kaufmännische Angestellte in einem Büro und fragte sich: «Was habe ich davon ausser einem regelmässigen Einkommen und ein paar freien Wochen­enden?» Das routine life, wie sie es nennt, gab ihr nichts mehr. «Es war schwer, mir das einzugestehen.»

Auf die Quarterlife-Crisis reagiert Priya Ragu wie die meisten Mittel­schichtlerinnen ihrer Generation. Sie wirft den Brotjob hin und fliegt weg. Fünf Monate New York und eine selbstgestellte Aufgabe: zehn Songs schreiben. In der Gross­stadt kennt sie fast niemanden, zieht von WG zu WG und schreibt die Songs erst in den letzten Wochen. Via Skype ist sie mit ihrem Bruder in Kontakt. Bevor sie wieder in den Flieger steigt, schickt sie ihm Demo­versionen von zehn neuen Songs.

Zurück in der Schweiz landet Priya Ragu weich: Sie folgt dem Angebot ihrer ehemaligen Arbeit­geberin für ein Teilzeit­pensum. Endlich hat sie genug freie Zeit, um die Songs mit ihrem Bruder im Studio in Oerlikon einzuspielen. Ein Produktions­beitrag des Zürcher Pop­kredits deckt einen Teil der Studio­kosten. Doch das allermeiste, was in ihrer Karriere steckt, bezahlte Priya Ragu aus der eigenen Tasche.

Künstlerische Unabhängigkeit

Für diese Do-it-yourself-Karriere hat sie sich bewusst entschieden. Vor Jahren stand sie vor der Wahl: Kurz vor Vertrags­abschluss liess sie den Deal mit einem Label platzen. Es sei ihr wichtig, authentische Musik zu machen, sagt Ragu. «Ich will nicht auf Druck des Labels den Produzenten oder die Richtung wechseln müssen.» Denn bei solchen Überlegungen ginge es bloss ums Verkaufen. Die Geschliffenheit der Produktion ihrer Songs mag vielleicht täuschen, aber Priya Ragu zielt nicht in erster Linie auf kommerziellen Erfolg, sondern auf künstlerische Eigenständigkeit.

Ragu wirft damit auch ein Schlag­licht auf die Eigenheiten des Schweizer Popbetriebs.

«Was habe ich von einer Vollzeitstelle ausser einem regelmässigen Einkommen und ein paar freien Wochenenden?» Christopher Kuhn

Die wenigsten können hierzulande von Pop­musik leben. Es gibt zwar wichtige Förderstellen wie das Festival M4Music, Pro Helvetia und den Zürcher Popkredit. Diese sind jedoch weit weniger aktiv und innovativ als zum Beispiel Förder­stellen in Schweden, Belgien oder Island. Ausserdem ist der Schweizer Musik­markt klein und mit seinen Sprach­grenzen zusätzlich fragmentiert. Entweder du landest einen Hit wie Lo & Leduc mit «079», du bist eine Schweizer Institution wie Patent Ochsner, Stephan Eicher, Züri West, oder dein Erfolg beschränkt sich von Anfang an nicht nur auf die Schweiz, wie es zum Beispiel bei Sophie Hunger, Faber oder der Basler Black-Metal-Gospel-Band Zeal & Ardor der Fall war.

Während einige wenige Head­liner an den grossen Festivals absurd hohe Gagen kassieren, ist es für junge Künstlerinnen schwierig, sich ein zahlendes Publikum aufzubauen. Immer mehr Acts drängen auf einen kleinen Konzert­markt. Inzwischen haben Veranstaltungs­orte begonnen, das Risiko auf die Künstler abzuwälzen: Statt voller Gage erhalten sie einen Teil der Ticket­verkäufe. Es ist die Realität im Schweizer Pop: Viele haben neben ihren Karrieren einen Brotjob, um von irgendetwas leben zu können.

Dennoch ist Musik für Priya Ragu nicht nur ein teures Hobby. Das widerspricht ihrem Selbst­verständnis. Der Bürojob ist vielmehr die Bedingung dafür, die künstlerische Hoheit über das eigene Werk zu behalten. In einer Stadt wie Zürich mit ihren horrenden Lebens­kosten verstärkt sich der finanzielle Druck.

Doch es gibt Hoffnung. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte spielt Musikerinnen wie Priya Ragu in die Hände. Während Tonträger­verkäufe kaum mehr etwas abwerfen, kann sie auf den digitalen Kanälen ihre Musik leicht auf der ganzen Welt verbreiten. So wurde Priya Ragu zum Beispiel auf Spotify in amerikanischen Städten anfänglich öfter gehört als in Zürich. Über Instagram ist sie in direktem Kontakt mit ihrer Fanbase. Als «damnshestamil» postet sie Fotos vom Video­dreh in Mumbay und repostet Fan-Videos von Kindern, die zu ihrem Sound hopsen. Auf Instagram fand sie Regisseure und Tänzerinnen für ihre Videos. Die Plattform ist damit Teil ihrer Pop-Persona.

Mit Musik aufgewachsen

Bis jetzt meistert Priya Ragu den Spagat zwischen Büro und Pop. Sollten mehr Konzert­anfragen reinflattern, muss sie etwas ändern. Sie sieht gelassen in die Zukunft, vielleicht weil sie jeden Tag eine Viertel­stunde meditiert. Die Spiritualität, von der auch ihre Songs getragen sind, gab ihr das hinduistische Eltern­haus mit. Schon im Kindes­alter reisten Priya und ihre Familie nach Indien und besuchten Tempel. Auch wenn sie sich nur noch an die Strapazen erinnert, prägten sie solche Reisen: «In meinem Unterbewusstsein nahm ich das auf.» Und sie bleibt weiterhin spirituell auf der Suche. Damit ist Ragu in ihrem Freundes­kreis eine der wenigen.

Die abgegriffene Erzählung der migrantischen Musikerin, die in zwei Welten lebt, greift auch bei Priya Ragu zu kurz. Denn obwohl ihre Eltern aus Sri Lanka nach St. Gallen zogen, fühlt sie sich bis anhin Indien stärker verbunden als dem Insel­staat. Es sind also mindestens schon drei Welten. Und es werden mehr als vier, wenn man Ragu nach ihren musikalischen Einflüssen fragt.

Im Elternhaus lief ständig Musik. Neben Stevie Wonder und Bob Marley war das vor allem der Sound aus «Kollywood», wie die tamilische Film­industrie aus dem Stadtteil Kodambakkam in Chennai heisst, einer Stadt im südostindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Film­komponisten wie Deva, A. R. Rahman und Ilaiyaraaja sind in Indien Superstars. In ihren eklektischen Arrangements vermischen sie elektronische mit traditionell indischen und westlichen Instrumenten. Die Musik aus Tamil Nadu hallt heute in den Songs von Priya Ragu nach. Zusammen mit dem Neo-Soul, der einst ihre Stimme weckte.

Ein Haus, ein Licht, ein Song

Als Teenager entdeckte Ragu den amerikanischen Neo-Soul, und eine weitere Welt tat sich auf. Mitte der Neunziger prägte man im Umfeld von R’n’B und Hip-Hop ein neues Genre für einen Sound, der zeitgenössisch und doch nostalgisch klang. Seine Beats waren gedämpfter, die Kompositionen jazziger und der Gesang eleganter als bei allem, was Priya auf dem Computer ihres Bruders finden konnte. Der Neo-Soul machte mit der 13-jährigen Priya Ragu schliesslich das, was Popmusik oft mit Teenagern tut: Er stiftete Identifikation. Lauryn Hill und Brandy wurden Ragus Heldinnen.

Sie notierte deren Texte, sang die Songs nach und nahm sich selbst auf Band auf. Heute reiht sie in ihrer musikalischen Sozialisation den Neo-Soul neben die tamilischen «Kollywood»-Songs und die Soul-Ahnen Stevie Wonder und Donny Hathaway. So klingt auch «Lighthouse», die zweite Single des noch unveröffentlichten Debütalbums. Ein Bass hievt Wärme durch die Laut­sprecher, eine Querflöte summt Zuversicht, und Priya Ragus Stimme bettet sich in Samt. Sie singt von einem Haus aus Licht, das in jedem Menschen stehen soll. Ein Beat legt gedämpfte Mechanik nach, und in der ersten Strophe faltet sich das «Lighthouse» auf, als fühle es sich zerknittert nach einer schlaflosen Nacht.

Der Beat legt Tempo zu, bis er nach drei Minuten gen Osten davongaloppiert: Hindugott Govinda wird angerufen, und von nun an stampfen Djembe und die tamilischen Trommeln Mridangam und Thavil. Im Video von «Lighthouse» macht Priya Ragu dazu das Chin-Mudra: Zeigefinger und Daumen liegen aufeinander, die anderen Finger sind ausgestreckt. Dieses Zeichen soll gemäss dem Hinduismus den Energie­fluss begünstigen. Das Bild passt zu Priya Ragus Karriere. Denn inzwischen ist sie im Fluss.

Gerade veröffentlicht die Musikerin mit «Forgot About» die souligste ihrer drei Singles. Sie gehören zu einem Album, von dem sie selbst entscheiden wird, wann sie es in die digitalen Kanäle speist. Kurz nach unserem Gespräch läuft Priya Ragus «Lighthouse»-Video auf dem indischen Musik­sender VH1 India, und ein Publikum von potenziell zehn Millionen Menschen schaut zu. Daraufhin kommentieren es auf Youtube stündlich begeisterte User. Priya Ragu kennen in Indien inzwischen wohl mehr Menschen als in der Schweiz. Auf Spotify wird sie in Städten auf der ganzen Welt gehört: New York, London, Zürich, Delhi … Die Zeichen stehen also gut, dass Priya Ragu bald ihren Bürojob aufgeben muss. Es könnte der Beginn ihrer globalen Musik­karriere sein.

Tonträger und Auftritte

Priya Ragus Songs «Lighthouse», «Leaf High» und «Forgot About» findet man auf Spotify Apple Music, Deezer, Google Play, Tidal und Youtube. Ihr Debütalbum soll im Herbst erscheinen.

Konzerte: Sa., 1. Juni, Musig uf de Gass, St. Gallen; Fr., 7. Juni, Alte Schule, Horgen; Sa., 8. Juni, Imagine Festival, Basel; So., 9. Juni, Seebad Enge, Zürich; Fr., 2. August, Olten Air, Olten; Fr., 20. September, Gaskessel, Bern

Priya Ragu auf Instagram: @damnshestamil

Zum Autor

Timo Posselt, 1991 geboren, studierte in Basel und im norwegischen Bergen Deutsch, Genderstudies und Geschichte. Er schreibt als freier Journalist über Pop, Film und Literatur und lebt in Basel. Für die Republik schrieb er zuletzt über das Revival der Schweizer 80er-Jahre-Bewegung und das neue Album von Stahlberger.

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