Café Europa – Folge 4

Wie ein Fähnchen im Wind

Im irischen Dundalk feierte man die Hochzeit mit dem Kontinent einst im Restaurant Europa. Doch der Honeymoon ist vorbei. Serie «Café Europa», Folge 4.

Von Michael Kuratli (Text und Bilder), 21.05.2019

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«Café Europa», Folge 4: Wie ein Fähnchen im Wind
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Früher umrahmten zwei Europa­flaggen den Schriftzug des «Europa» im Zentrum von Dundalk. Das war angesagt. Europa war hip. Europa war Zukunft. Europa strahlte Optimismus aus. Das war einmal. Hip ist es schon lange nicht mehr, und von Optimismus keine Spur. Zeit für einen Tapeten­wechsel, fand Rocco di Tommaso, einer der italienischen Betreiber des Restaurants.

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Ist dort, wo Europa draufsteht, auch Europa drin? Die Reporterinnen Solmaz Khorsand und Michael Kuratli haben Lokale aufgesucht, Cafés, Restaurants, Imbisse und Kinos, die «Europa» heissen – wie der Kontinent. Sie zeigen ihn in seiner Vielfalt. Und gelegentlich in seiner Einfalt. Willkommen in den Cafés Europa dieses Kontinents. Entscheiden Sie selbst, ob Sie weiterziehen oder verweilen wollen.

Seit ein paar Jahren sind die Europa­flaggen ersetzt. Stattdessen prangen zwei andere Fahnen von der Fassade. Rechts die grün-weiss-rote Flagge Italiens, ein Tribut an die Herkunft des Betreibers. Links die irische, grün-weiss-orange­farbene.

Back to the roots heisst es im «Europa». Denn stolz auf die Staaten­gemeinschaft ist man hier längst nicht mehr. Vom einst begeisterten Club­mitglied wandelte sich Irland zur gereizten Teenager­tochter, die von den Eltern im fernen Brüssel gemassregelt wird.

Verflogene EUphorie

Burger, Pommes, Milch­shake. Die Menü­karte des «Europa» könnte amerikanischer nicht sein. Junge Pärchen bestellen an der Theke Chicken Wings to go, Familien und ältere Semester quetschen sich in die Diner-Boxen mit den schwarzen Kunst­leder­polstern und ordern bis spät in die Nacht Fast Food. Die pastell­grünen Wände verstärken das Gefühl, man sässe mitten im 20. Jahr­hundert irgendwo im Mittleren Westen der USA.

«Mit dem Brexit wird sich für uns nicht viel ändern»: Tomas und Teresa.

Doch tatsächlich steht das «Europa» in einer kleinen Küsten­stadt auf halbem Weg zwischen Dublin und Belfast, wenige Kilometer südlich der irisch-nordirischen Grenze. Schuhe und Zigaretten wurden früher in der Stadt hergestellt, Lokomotiven repariert. Heute sind es unter anderem chinesische Tech-Firmen, die den Bewohnern von Dundalk dank radikal niedrigen Unternehmens­steuern Arbeit verschaffen.

Der amerikanische Stil des «Europa» verwundert nicht, wenn man um die Vergangenheit des Restaurants weiss. In den Sechziger­jahren eröffnete es als Filiale einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Am Interieur und an der Karte schraubte der spätere Besitzer, ebenfalls ein italienischer Einwanderer, nur wenig.

Doch als Irland und Gross­britannien 1973 der Europäischen Gemeinschaft beitraten, war der Besitzer begeistert. Europa sollte die Kunden an seine Theke locken. EVROPA buchstabieren die griechisch anmutenden Mosaike darauf seither erhaben. Europa statt des amerikanischen Traums, das war die Zukunft!

Doch der Lack ist ab. Rocco erzählt von der damaligen Begeisterung seines Vorgängers wie von einem schwer nachvollziehbaren Einfall eines Irren.

Paddy vs. Paddy

Zur Mittagszeit führen zwei Herren Mitte sechzig ein angeregtes Gespräch in einer der schmalen Boxen. «My name is Paddy, of course», sagt der eine schalkhaft. Einen irischeren Namen gibt es tatsächlich kaum. Auf denselben Namen hört auch sein Gegenüber. Beide sind in Dundalk aufgewachsen. Doch dort hören die Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Er lebe seit zwanzig Jahren im spanischen Alicante und sei nur für die Pass­erneuerung in der alten Heimat, erzählt der schmächtigere der beiden Männer, während er sorgfältig seinen frittierten Fisch zerlegt.

Paddy ist der Einzige weit und breit, der die Staaten­gemeinschaft preist: «Europa hat den Menschen viel gebracht», sagt er. «Wir waren ein armes Land, und auf einmal wurden Jobs geschaffen. Die Leute wurden reich.» Tatsächlich machte die Republik seit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft den Aufstieg vom Armenhaus des Kontinents zu einer der wohlhabendsten westlichen Nationen. Irland war bis vor zehn Jahren stets Netto­empfänger im Beitrags­verkehr von und nach Brüssel. Tech-Firmen wie Dell, Apple und Google begannen ihre Europa­geschäfte über die steuergünstige Insel abzuwickeln und liessen Dublin zur internationalen Metropole avancieren.

Der andere Paddy führt ein Secondhand-Möbelgeschäft in der Stadt und mischt seine zermanschten Karotten und den Lauch auf seinem Teller mit dem Kartoffel­stock. Begeisterung für die EU kann er keine aufbringen. «Europa hat noch nie irgend­jemandem etwas gebracht», sagt er und zerrt das Fett seines Schweins­schnitzels mit den Fingern vom Muskel. Sein Gesicht ist von einem Haut­ausschlag gereizt, seine kleinen Augen blicken stechend in den Raum. «Wir sollten auch unseren Brexit haben, dann wären wir endlich wieder frei», sagt er. Dann setzt er zu einer alten Kritik an: Niemand habe den Lissabon-Vertrag gelesen. Er habe ihn gelesen. «Und darin steht, dass ab 2020 alle Länder ihre Souveränität verlieren.» Paddy Nummer eins schüttelt nur den Kopf und isst still seinen Fisch.

Irland lehnte 2008 den Vertrag über die Reform der EU ab. Wie zuvor die Niederlande und Frankreich die EU-Verfassung verwarfen, überwog auch auf der Insel auf einmal die Skepsis gegenüber dem immer weiter wachsenden Bündnis, das mehr Kompetenzen nach Brüssel verschieben wollte und auf dem Weg war, vom Staaten­bündnis zum Supranational­staat zu werden.

Es brauchte eine zweite Abstimmung über den Lissabon-Vertrag. Schliesslich rang sich Irland doch noch zu einem Bekenntnis zur Staaten­gemeinschaft durch. Zu überzeugten Europäern machte das aber niemanden mehr.

Das Pendel schlug um. Plötzlich wollte die EU etwas von den Iren, die wirtschaftlich doch gerade erst auf die Beine gekommen waren. In den letzten Jahren machte sich die EU dann auch noch über die Steuer­praktiken der Insel her und verdonnerte Apple dazu, dem irischen Staat 14 Milliarden Euro draufzuzahlen. Geld, das Irland gar nie wollte, weil es die mächtigen Giganten nicht unnötig vergrämen will. Zurzeit droht auch noch eine Untersuchung gegen Google. Das EU-Parlament bezeichnet Irland seit neuestem als Steueroase.

Die EU macht den Iren das Geschäft madig. Der Honeymoon mit dem Festland ist definitiv passé.

Troubles in der Provinz

Und das, obwohl es erst mit der Hilfe der EU gelang, den fast dreissig Jahre währenden Konflikt um Nord­irland zu entschärfen. Auch das malerische Dundalk mit seinen Backstein­reihen­häusern blieb von den «Troubles» damals nicht verschont. Kurz vor Weihnachten 1975 explodierte eine Auto­bombe vor einem Pub im Zentrum, beim Restaurant Europa um die Ecke. Kurz hinter der Grenze im Norden eröffnete ein Attentäter mit einer Maschinen­pistole in derselben Nacht an einer Tankstelle das Feuer. 5 Menschen starben insgesamt, 26 wurden verletzt.

Szenen wie diese waren während fast dreissig Jahren Alltag in Nord­irland und an der Grenze zur irischen Republik. 3700 Menschen starben gemäss dem Historiker Diarmaid Ferriter insgesamt bei Terror­anschlägen der Irish Republican Army (IRA), der Ulster Volunteer Force (UVF) und anderer gewaltsamer Gruppen bis zur Unter­zeichnung des Karfreitags­abkommens 1998. Seit zwanzig Jahren herrscht wieder eine Ruhe, die wesentlich besser zur unaufgeregten Provinzialität der kleinen Industrie­stadt passt. Doch die Angst vor einer neuen Terror­welle in Nord­irland dominiert die öffentliche Diskussion wieder, insbesondere seit den jüngsten Anschlägen in Londonderry am 19. Januar dieses Jahres und dem Tod einer Journalistin bei Ausschreitungen im April.

Nicht so im «Europa». Die Kartoffeln blubbern in der Fritteuse, das Telefon klingelt: «Hello, Europa?» Rocco nimmt Bestellungen auf, Tomas schabt Burger vom Herd auf Brötchen. Sechs Familien­mitglieder arbeiten hier mit, mit den Kindern von Tomas und Teresa auch schon die nächste Generation.

Dass mit dem Austritt Gross­britanniens und einer harten Grenze auch die Gewalt zurückkehrt, glaubt Tomas nicht. «Mit dem Brexit wird sich nicht viel ändern», sagt er. «Vielleicht im Norden, aber nicht hier bei uns.» Er sagt es, als wäre Nord­irland nicht gleich um die Ecke, sondern ein weit entferntes Land. Auch die Gäste im «Europa» antworten mit einem Schulter­zucken. Irgendwie ist das alles ganz schön weit weg. Nord­irland, Europa, was kümmert uns das? Sollen die Briten doch aus der EU aussteigen. Wahrscheinlich haben sie eh recht.

Aber was passiert wirklich, wenn das Karfreitags­abkommen nicht mehr gewürdigt wird?

Komplexer Friede

142 Gebiete, vom Tourismus über eine gemeinsame Hochschul­bildung bis zur Energie- und Kommunikations­versorgung, liegen den EU- und den Karfreitagsabkommen zugrunde. Nordirische Bürgerinnen haben seit dem Friedens­abkommen auch das uneingeschränkte Recht, einen irischen Pass zu beantragen. Seit Gross­britannien die EU verlassen will, haben viele diese Regelung in Anspruch genommen und das Passamt in Dublin beschäftigt.

Die EU ist ausserdem ein nicht zu unterschätzender Wirtschafts­faktor im Norden. Sie investierte zwischen 1990 und 2010 mehr als 2,5 Milliarden Pfund in Nordirland. Noch heute machen die EU-Subventionen 87 Prozent des Einkommens der Bauern in Nordirland aus, im Rest Gross­britanniens nur etwas mehr als die Hälfte.

Könnte nicht etwas mächtig schiefgehen, wenn diese stabilisierenden Faktoren wegfielen?

Paddy, der Europa­skeptiker, winkt ab. Er fürchtet sich vor allem um die irischen Bauern, wenn ein Zoll zu Gross­britannien entsteht. «Wohin sollen wir mit all der Milch? Europa interessiert sich doch einen Scheiss­dreck für unsere Milch. Wir brauchen Gross­britannien, nicht die EU.»

Die Lösung des Konflikts sieht der europa­freundliche Paddy in der Wieder­vereinigung der Insel. «Niemand mag die Briten», sagt er. «Wenn sie nur endlich Nordirland abtreten würden, wären alle Probleme gelöst.» Er spricht leise und blickt dabei an seinem Gesprächs­partner vorbei, als würde man gemeinsam ein Kunstwerk im Museum begutachten.

The European Reich

Theoretisch wäre eine Wieder­vereinigung der Insel sogar möglich. Auch das steht im Karfreitags­abkommen. Nur müssten die Bevölkerungen beider Teile einer Vereinigung zustimmen. Lange hielt der Norden davon nichts. Schliesslich war die irische Republik über Jahrzehnte von der katholischen Kirche geprägt. Irland gehörte zu den Ländern mit den strengsten Abtreibungs- und Ehegesetzen Westeuropas.

Doch das Land machte in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine starke Liberalisierung durch. Scheidungen und Abtreibungen sind heute legal, genauso wie die gleich­geschlechtliche Ehe. Der Einfluss der katholischen Kirche auf Politik und Gesellschaft wurde stark zurückgedrängt. Ein Umstand, der die protestantischen Nordiren zusammen mit den unabsehbaren Folgen des Brexit einer Wieder­vereinigung gewogen stimmen könnte.

Über ein vereinigtes Irland sind sich Paddy und Paddy gerade noch einig. Doch dann nimmt der europa­kritische Möbelhändler-Paddy wieder eine radikale Abzweigung. «Viel lieber würde ich unter einer britischen Flagge stehen als unter einer deutschen. Europa, das ist nur die Weiter­führung des Deutschen Reichs.» Er verabschiedet sich mit dem Hitlergruss. «Sie haben uns mit dem Schwert nicht gekriegt. Jetzt kriegen sie uns mit dem Stift.»

Der andere Paddy ist etwas beschämt. Er beschwichtigt: «Die Leute mögen Europa hier.»

Und Europa ist ja auch nicht gleich Europa. In Dundalk mögen sie es jedenfalls. Vor allem, seit die irische Flagge an der Fassade hängt.

Café Europa

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