Fall Villiger: Schlechte Arbeit ist nicht strafbar

Der ausserordentlich eingesetzte Staatsanwalt widerspricht den Luzerner Ermittlern in der Justizaffäre um Beat Villiger. Er sieht sehr wohl Anhaltspunkte für die Fälschung eines Kaufvertrags. Doch das Verfahren wegen Begünstigung und Amtsmissbrauch stellt er ein.

Von Carlos Hanimann, 15.05.2019

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Am Anfang steht ein Geheimnis. Und um es so zu halten, folgt eine Lüge. Und noch eine. Und noch eine. Bis ein Lügengebäude steht – so hoch wie ein Wolkenkratzer, so leicht zu erschüttern wie ein Kartenhaus.

Letzten Herbst zieht die Republik an einer dieser Karten.

Ein Durcheinander aus Halbwahrheiten, Widersprüchen, Erinnerungslücken fällt in sich zusammen.

Das ist der Fall Beat Villiger ganz zu Beginn: Ein Politiker zeugt ein aussereheliches Kind und gerät dann, weil er dieses Geheimnis bewahren will, immer tiefer in ein Schlamassel.

Im vergangenen Oktober berichtete die Republik über dieses Schlamassel, als sie kurz vor den Wahlen in Zug aufdeckte, wie im Vorjahr gegen den Zuger Justizdirektor ermittelt worden war. Es war um Urkundenfälschung und Strassenverkehrsdelikte gegangen, doch die Luzerner Ermittler hatten das Verfahren eingestellt. Die Republik machte Widersprüche in der Strafuntersuchung öffentlich, mehrere Strafrechtsexperten kritisierten die Verfahrenseinstellung, der CVP-Regierungsrat Villiger versuchte die Republik an einer Berichterstattung zu hindern.

Der Fall Villiger hatte eine private, eine politische und eine juristische Dimension: Da war das aussereheliche Kind (das Villiger von sich aus publik machte und das für die Republik nie ein Thema war), die anstehenden Wahlen und die umstrittene Verfahrens­einstellung. Zentral war im Ganzen die Frage, ob Beat Villiger einen Kaufvertrag rückdatiert oder gefälscht hatte, um sich der Strafverfolgung zu entziehen.

«Korrektes» Vorgehen? Mitnichten!

Der Fall Villiger war aber auch ein Fall Luzerner Staatsanwaltschaft: Hatten die Strafverfolger den Regierungsrat geschont, als sie das Verfahren gegen ihn einstellten?

Im Dezember 2018 erstattete eine Privatperson in Luzern Anzeige gegen die beteiligten Staatsanwälte. Der Vorwurf: Begünstigung und Amtsmissbrauch.

Jetzt sind die Untersuchungen zur Justizaffäre abgeschlossen. Den Luzerner Strafverfolgern lässt sich kein strafbares Verhalten zur Last legen. Im Klartext: Beat Villiger wurde nicht begünstigt; die Staatsanwälte missbrauchten ihr Amt nicht.

Handelten die Staatsanwälte also «korrekt», wie letzte Woche zu lesen war? Ist der Abschluss der Untersuchung wirklich «eine Erleichterung», wie Oberstaatsanwalt Daniel Burri der «Luzerner Zeitung» sagte? Kommt das Untersuchungsergebnis «einem Freispruch gleich»?

Mitnichten.

Wer sich nicht nur mit der knappen Medienmitteilung zufriedengibt, sondern die 29-seitige Einstellungsverfügung der ausserordentlich eingesetzten Staatsanwälte Ulrich Weder und Andreas Eckert studiert, kommt zu einer ganz anderen Einsicht.

Weder dokumentiert darin Merkwürdiges, Widersprüchliches und Neues. Und er sitzt in den Einvernahmen immer wieder einem Staatsanwalt gegenüber, der an plötzlichem Gedächtnisverlust leidet. Insbesondere dann, wenn er auf Widersprüche angesprochen wird.

Reine Schikane

Wer vergangenen Mittwoch die Medienmitteilung zum Abschluss der ausserordentlichen Untersuchung zur Arbeit der Luzerner Staatsanwaltschaft im Fall Beat Villiger las, konnte zum Schluss kommen, dass alles einwandfrei und korrekt abgelaufen war.

Doch der Eindruck täuschte.

Wer es aber genauer wissen wollte, der musste sich gedulden. Erst Anfang dieser Woche war es Medienschaffenden erlaubt, die Einstellungsverfügung der ausserordentlichen Staatsanwälte Ulrich Weder und Andreas Eckert einzusehen. Der Kanton Luzern (und in diesem Fall auch Ulrich Weder) gaben vor, dass die Verfügung nur in den Büros der Luzerner Behörden eingesehen werden durfte. Kopien oder Fotos waren nicht erlaubt, wohl aber wortwörtliche Abschriften (von Hand oder mit Computer) oder Diktate auf Band.

Diese Vorgabe fusst auf keiner gesetzlichen Grundlage, sondern lediglich auf einer Empfehlung der Staatsanwälte-Konferenz. Sie ist reine Schikane. Denn ob Abschrift, Diktat oder Kopie – das Resultat ist das gleiche. Die Abschrift dauert nur wesentlich länger.

Dass es auch anders geht, bewies gerade erst ein anderer Innerschweizer Kanton. Der Nidwaldner Staatsanwalt Damian K. Graf hatte gegen den Walliser Staatsanwalt Rinaldo Arnold ermittelt, der von Fifa-Präsident Gianni Infantino Geschenke im Wert von knapp 20’000 Franken erhalten hatte. Dabei kam auch das ominöse dritte Treffen von Bundesanwalt Lauber mit Infantino ans Licht. Eine anonymisierte Version der Einstellungsverfügung in diesem Verfahren verschickte der Staatsanwalt problemlos per E-Mail. Nur wer eine ungeschwärzte Fassung einsehen wollte, musste sich nach Stans aufmachen.

Immerhin: Bei der Einstellungsverfügung im Fall der Luzerner Staatsanwaltschaft sprachen sich die Journalistinnen von «zentralplus», «Tages-Anzeiger», SRF und Republik ab – und teilten sich die Abschrift auf. Wir waren nicht ganz so schnell wie eine Kopiermaschine – aber fast.

Luzerner Einschätzung «nicht nachvollziehbar»

Kurzer Rückblick: Im Juli 2017 gerät Beat Villiger ins Visier der Justiz, weil er einer Bekannten ohne Führerschein seinen BMW ausleiht. Sie wird erwischt. Die Staatsanwaltschaft aber drückt ein Auge zu und will das Verfahren einstellen. Dann gerät die Bekannte im November 2017 wieder mit Villigers Wagen, aber ohne Führerschein in eine Kontrolle. Jetzt behauptet sie, der Wagen gehöre längst ihr. Und zeigt den Polizisten einen Kaufvertrag, datierend vom Mai 2017. Die Polizisten wittern eine Urkundenfälschung. Doch die Staatsanwaltschaft drückt wieder ein Auge zu und stellt das Verfahren ein.

Der pensionierte Zürcher Staatsanwalt Ulrich Weder hat jetzt untersucht, ob die Luzerner Staatsanwaltschaft Villiger begünstigt und sich des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht hat. Dafür befragte er zwei Staatsanwälte und drei Polizisten, aber nicht Beat Villiger. Er studierte die Akten aus dem Verfahren gegen Villiger, gegen die Fahrerin und gegen einen Polizisten, der der Amtsgeheimnisverletzung verdächtigt wurde.

In seiner ausführlichen und mit Details gespickten Einstellungsverfügung kommt Weder auch auf den umstrittenen Kaufvertrag zu sprechen, von dem die Polizisten vermuteten, dass er gefälscht oder manipuliert worden war.

Der Vertrag datiert vom 15. Mai. Die Fahrerin sagte der Polizei, der Vertrag sei aber erst nach der ersten Polizeikontrolle Ende Juli erstellt worden. Beat Villiger erklärte in einer Einvernahme, dass das Datum 15. Mai «nicht stimmen» könne. Es müsse wohl 15. Juni heissen. Später nannte er der Republik noch ein drittes Datum: den 4. Juni.

Der Luzerner Staatsanwalt Michael Bucher sah damals trotz des Durcheinanders «keinerlei Anhaltspunkte» für eine Fälschung oder Rückdatierung. Weder widerspricht nun dem Luzerner Staatsanwalt und schreibt: «Diese Schlussfolgerung lässt sich (…) nicht ziehen. Ganz im Gegenteil: Es bestanden (…) sehr wohl Anhaltspunkte für eine Simulation und vor allem für eine Rückdatierung dieses Kaufvertrags.»

Dass der Luzerner Staatsanwalt keinerlei Anhaltspunkte erkannte, beurteilt Weder in der Einstellungsverfügung als «nicht nachvollziehbar».

Auch der ausserordentliche Staatsanwalt Weder kann die Sache nicht abschliessend klären: «Eine Simulation und/oder Rückdatierung» lasse sich «nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen», schreibt Weder. Allerdings war das auch nicht sein Auftrag.

Beat Villiger wollte sich auf Anfrage nicht äussern.

Die Prominenz des Beschuldigten

Insgesamt offenbart die Untersuchung von Ulrich Weder eine Konstante im ganzen Verfahren gegen Beat Villiger: Die Luzerner Strafverfolger versuchten mit allen Mitteln, die heikle Angelegenheit geräuschlos über die Bühne zu bringen.

Gleich zu Beginn des Verfahrens wurde Staatsanwalt Bucher von einem Polizisten darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Villiger «um einen Regierungsrat des Kantons Zug» handle. Vorher will er nichts von dessen Existenz gewusst haben. Bucher informierte daraufhin seine Vorgesetzten über den prominenten Beschuldigten. Fortan gingen die Luzerner Strafverfolger mit höchster Rücksicht und Zurückhaltung vor.

So sprach Bucher gewisse Dinge «bewusst nicht an, um möglichst wenig über die Beziehung von Beat Villiger [zur Fahrerin] zu schreiben». Und ehe er das Verfahren gegen Villiger einstellte, rief er seinen Vorgesetzten Thomas Reitberger an, um ihn über zwei Dinge in Kenntnis zu setzen. Erstens: dass es sich bei Villiger «um einen Regierungsrat handeln würde». Und zweitens: «dass er die aussereheliche Vaterschaft von Beat Villiger in der Einstellungs­verfügung nicht erwähnen wolle».

Buchers Vorgesetzter Thomas Reitberger sagte dem ausserordentlichen Staatsanwalt Ulrich Weder, Bucher habe das lediglich «aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes» getan. Sowohl Bucher wie auch Reitberger beteuerten, sie hätten Villiger «nie auch nur ansatzweise» bevorteilen wollen.

Der ausserordentliche Staatsanwalt Ulrich Weder befragte den Luzerner Ermittler Bucher zu diesem Anruf bei seinem Vorgesetzten. Aber Bucher sagte, er erinnere sich nicht mehr. «Wenig überzeugend», urteilt Ulrich Weder über den plötzlichen Gedächtnisverlust.

Die Zurückhaltung Buchers beim Thema der ausserehelichen Vaterschaft ist bemerkenswert. Nicht weil sie nicht nachvollziehbar wäre, sondern weil er offiziell gar nichts von Villigers Vaterschaft wusste. Villiger hatte sie in der Untersuchung gar nie zu Protokoll gegeben. Bucher sagte dem ausserordentlichen Staatsanwalt sogar, er habe die Frage nach der Vaterschaft nie explizit gestellt. Woher also wusste er davon?

Die Akten lassen nur einen Schluss zu: Bucher besprach die heiklen Dinge mit Villiger diskret, ausserhalb des Protokolls.

Nichts hören und nichts sehen

Die ausserordentliche Untersuchung von Ulrich Weder dokumentiert Fehleinschätzungen, widersprüchliche Aussagen und Erinnerungslücken bei der Luzerner Staatsanwaltschaft. Dass all das nicht zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, ist aber nur bedingt als Entlastung für die Strafverfolgungs­behörden zu sehen. Denn sie ist allein der Tatsache geschuldet, dass sehr hohe Anforderungen an die Tatbestände der Begünstigung und des Amtsmissbrauchs gestellt werden: Es bräuchte schon eine «krasse, elementare, deutliche, offensichtliche oder schwerwiegende Ermessensüberschreitung». Eine solche liegt laut Weder in diesem Fall aber nicht vor.

Weder hält ausserdem fest, dass Buchers Einstellungsverfügung im Fall Villiger ja von seinem Vorgesetzten Reitberger geprüft und genehmigt worden sei. Dieses «Vier-Augen-Prinzip» machte auch die Staatsanwaltschaft stets als Garant für saubere Arbeit geltend. Es schliesse eine Begünstigung faktisch aus, weil sich die beiden Staatsanwälte ja absprechen müssten.

Wie viel Zeit der stellvertretende Oberstaatsanwalt Thomas Reitberger in die Prüfung und Genehmigung der Einstellungsverfügung investierte, gab er Ulrich Weder auch zu Protokoll: «Insgesamt etwa eine Stunde.»

Nichts hören und nichts sehen, um später nichts sagen zu müssen – das war das Motto der Luzerner Strafverfolger im Fall Beat Villiger. Das ist schlechte Arbeit. Aber schlechte Arbeit ist nicht in jedem Fall strafbar.

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