Café Europa – Folge 2

Am Ende der Nahrungskette

In Lyons Bar de l’Europe sind die Ansprüche tief. Hier ist Europa nur eine nüchterne Dienstleistung – wenn überhaupt. Serie «Café Europa», Folge 2.

Von Michael Kuratli (Text und Bilder), 15.05.2019

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«Café Europa», Folge 2: Am Ende der Nahrungskette
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«L’Europe», das ist die Versorgungs­station des Quartiers. Wer die Bar in Lyons südlichem siebtem Arrondissement betritt, erwartet von diesem Ort genauso wenig wie vom Kontinent. Das «Europe» ist eine Rast­stätte, in die man sich kurz setzt, bis das Leben weitergeht oder ein Ende nimmt. Wo man sich seine Sarg­nägel kauft und weiterzieht.

Zur Serie «Café Europa»

Ist dort, wo Europa draufsteht, auch Europa drin? Die Reporterinnen Solmaz Khorsand und Michael Kuratli haben Lokale aufgesucht, Cafés, Restaurants, Imbisse und Kinos, die «Europa» heissen – wie der Kontinent. Sie zeigen ihn in seiner Vielfalt. Und gelegentlich in seiner Einfalt. Willkommen in den Cafés Europa dieses Kontinents. Entscheiden Sie selbst, ob Sie weiterziehen oder verweilen wollen.

Hier ist Europa längst zur Forderung der Euro­skeptiker geworden: eine nüchterne Dienst­leistung. Einst lockte der Name noch mit dem Versprechen von Wohlstand im grössten Friedens­projekt der Geschichte. In Lyon weiss man es besser. Die Bar de l’Europe versprüht den Charme eines Postschalters.

Sie gibt den Menschen, was sie brauchen: Zigaretten, Alkohol und Glücks­spiele – oder Lungen­brötchen und Spiele. Nur ohne das cäsarische Brimborium, sondern mit der Nüchternheit eines protestantischen Krämers.

Wie jeden Feier­abend sitzt Saïd Gana mit einem Flaschen­bier vor dem «Europe» und betrachtet die Passanten auf der Avenue Jean Jaurès. Aufgewachsen ist er nicht hier im Siebten, sondern weiter ausserhalb, in einer Banlieue, wie die meisten Kinder algerischer Einwanderer. Seit vergangenem Mai wohnt er aber sozusagen hier, gleich ums Eck. Freiwillig ist das allerdings nicht.

Die Nacht verbringt Saïd im Gefängnis, tagsüber arbeitet er im Auftrag des Staats im halboffenen Vollzug. Wie es dazu kam? Er macht mit seiner grossen, von der Arbeit spröden Hand eine wegwerfende Bewegung. «Des conneries», Dummheiten. Eine Zukunft sieht er für sich in Frankreich und für den Kontinent ganz allgemein keine. «L’Europe, c’est la merde», sagt er und meint nicht die Bar in seinem Rücken.

Europa für die Nützlichen

Von frühmorgens bis zum frühen Abend empfängt das «Europe» an der Ecke einer Block­rand­siedlung Gäste. Doch zum Verweilen lädt es nicht ein. Und das will es auch gar nicht.

Die Einrichtung ist schlicht und schmucklos. Das Mobiliar erinnert an eine Cafeteria, ein paar wenige Schnäpse und Sirup­flaschen stehen neben der Kaffee­maschine vor der Spiegel­wand. Zwei Bild­schirme ziehen die Blicke auf sich. Auf dem grossen läuft ein Musik­sender, der den meist verwaisten Raum beschallt, auf dem anderen die neuste Ziehung von Amigo, einer Art Instant-Lotto für zwei Euro, für das meist auf jedem Tisch Zettel und Stift stehen. Hin und wieder kommt ein pensionierter Arbeiter herein, trinkt etwas, sitzt ein wenig herum, rubbelt ein Bling-Bling auf oder starrt gespannt auf die nächste Ziehung, um dann wieder weiterzuziehen.

Dieses «Europe» hat nicht viel zu bieten. Und die Leute erwarten auch nicht viel von ihm. L’Europe, c’est la merde.

Kurz nach sieben räumt Michaël Rabaca die Tische und Stühle vom Trottoir herein. Er schliesst zwar erst in einer Stunde, aber die Klientel am Abend sei schwierig, sagt er. Kunden, die das «Europe» nicht will. Menschen, die Europa nicht mehr braucht.

Glauben beide nicht an Europa: die Brüder Jonathan und Michaël Rabaca (rechts).

Seit drei Jahren betreiben er und sein Bruder Jonathan die Bar und den integrierten Tabak-Kiosk. Jeden Morgen schliesst Jonathan um halb sieben Uhr auf und Michael um acht Uhr abends wieder zu. Praktische Öffnungs­zeiten für Menschen, die früh raus müssen. Schlechte für solche, die den Feier­abend geniessen wollen.

150 Jahre Kolonialismus, Faschismus, Rassismus

Mit jedem Satz wird Saïd etwas melancholischer und etwas wütender auf die Eliten, die Politiker. «Du musst 10’000 Euro verdienen, dann gehts dir gut. Für alle anderen bleibt nur die Scheisse.» In seinem Fall ist das sogar wörtlich zu nehmen. Zurzeit repariert er mit anderen Häftlingen eine Kläranlage.

Wenn das mit der justice im Juli vorbei ist, will er nach Algerien. Hier hält ihn nichts mehr, mit seiner Frau ist er in Scheidung. Seine Stimmung heitert sich zwischenzeitlich nur auf, als er Fotos seines behinderten Adoptiv­sohns zeigt. Dann steckt er sein Smart­phone zurück in den blauen Overall, und seine Züge verdunkeln sich wieder.

Seine Freunde und seine Familie seien längst wieder in der alten Heimat. Dass dort politisch gerade nicht das stabilste Klima herrscht, beunruhigt ihn nicht. «Schlimmer als mit Bouteflika kann es nicht werden. Immerhin bewegt sich etwas.» Algerien habe alles: Öl, Gas, Gold. Es könnte das Katar Nord­afrikas sein, glaubt Saïd. Wären da nicht die 150 Jahre Kolonialismus, Faschismus und Rassismus aus Europa gewesen. Wenn Algerien auf die Beine komme, dann komme er in zwanzig Jahren nur noch als Tourist zurück, um an den Champs-Elysées die Schau­fenster entlang zu schlendern. Aber Europa: C’est fini. Er stürzt den letzten Schluck Bier hinunter und verabschiedet sich. Das Gefängnis wartet.

Quartier im Umbau

«Alles Ständische und Stehende verdampft.» Als Marx und Engels diese Worte vor mehr als 170 Jahren ins «Kommunistische Manifest» schrieben, wurde das Industrie­quartier im Süden Lyons erst gerade gebaut. In den letzten anderthalb Jahr­hunderten wurde das weitläufige Gelände östlich der Rhône und südlich des Bahn­viadukts Heimat für Fabriken, Lager­hallen und Tank­silos, ein Fussball­stadion und Eventlokale.

Heute ist das siebte Arrondissement jenseits der schmucken Altstadt wieder im Umbruch. 5000 Arbeiter stellten bis vor zwei Jahren auf dem riesigen Fabrik­gelände an der schnurgeraden Avenue Jean Jaurès noch Elektro­kabel her.

Gleich gegenüber der Bar de l’Europe, die damals noch die Quartier­beiz der Arbeiter war. Damals, als Europa noch etwas galt. Nur, das Quartier, in dem die Bar einst aufmachte, gibt es bald nicht mehr. Heute arbeiten noch 150 Leute in der Kabel­fabrik, daneben stehen schnittige, neue Wohn­blocks und eine Food-Markthalle, die mit Industrie-Chic ein Feinschmecker­publikum anlockt. Von der grossen Fabrik­halle, die direkt ans Trottoir anschloss, steht nur noch die Grund­mauer. Dahinter die gähnende Leere eines Bauplatzes, auf dem bald eine Handels­hochschule hingebaut werden soll.

Europa, eine Durchgangs­station

Den Namen der Bar haben Michael und Jonathan wie fast alles von ihrer Vorgängerin übernommen. Mag sein, dass er ihr damals mehr bedeutet habe. Doch zu Europa haben die beiden keine Meinung. Sie sind um die dreissig und Kinder portugiesischer Vorfahren. Michael ist gelernter Elektro­techniker, Jonathan wird in wenigen Tagen zum ersten Mal Vater.

Die Bar de l’Europe ist auch für die Brüder Rabaca nur eine Durchgangsstation.

Der ganze Barbetrieb ist ihnen eigentlich zu viel. Die Kunden, schwierig. Probleme gäbe es zwar selten, und nur die wenigsten bestellten sich schon in der Früh einen Wein. Am liebsten würden sie nur einen tabac betreiben, erzählen sie, näher am Stadt­zentrum. Damit könne man richtig viel Umsatz machen. Auch im «Europe» verkaufen sich Zigaretten besonders gut. Die Leute rauchen auch bei acht Euro pro Pack weiter. Weder die drastischen Bilder krebskranker Kinder, die die EU ihnen auf die Augen drückt, noch die einheitliche, schlackefarbene Packung mit der neutralen Schrift halten die «Europe»-Kunden vom Paffen ab.

Über den ganzen Tag verteilt kommen Kunden herein, kaufen Zigaretten und hasten weiter in Richtung Innen­stadt. Einen Kaffee hier und da. Kaum jemand bleibt länger als eine halbe Stunde sitzen. Liebe für diesen Ort kommt keine auf.

Flagge zeigen für Banken

Zwischendurch versammeln sich ein paar Eltern, die ihre Kinder im benachbarten Schwimm­bad zum Unterricht bringen. Cyril ist einer von ihnen. Seit einem Jahr erst wohnt er in Lyon, als Koch war er zuvor überall in Europa, von einer Durchgangs­station zur nächsten: An der französischen Mittelmeer­küste, in Griechenland, Lausanne und auch in den französischen Übersee­gebieten in Guyana war er zwischenzeitlich zu Hause.

Cyril sagt es nicht so explizit, doch seine Meinung zu Europa ist nicht weit entfernt von jener Saïds. «Die EU dient nicht den Menschen. Am Ende profitieren doch nur die Unternehmen vom grenzenlosen Markt.» Auch Präsident Macron sei nur «pour les banques», da würden auch die Europa­flaggen und die Europa­hymne, mit denen er sich schmückt, nicht helfen.

Wie alle im «Europe» sympathisiert auch Cyril mit den Gelb­westen, die noch immer jedes Wochen­ende demonstrieren. Nur dass sie etwas erreichen werden, glaubt er – ebenfalls im Einklang mit der allgemeinen Meinung in der Bar – nicht. Die Hoffnung, dass sich noch etwas Grund­legendes verändert im Koordinaten­netz der EU, oder zumindest der französischen Politik, ist hier längst gestorben.

Brachliegender Unmut

Macron, der einstige Hoffungs­träger der Gemässigten, der begeisterte Europäer, hat in der Bar de l’Europe in Lyon einen schweren Stand. Saïd nennt ihn unverhohlen einen «fils de pute». Eine Gruppe von Müttern, die jeden Dienstag­vormittag im «Europe» auf ihre badenden Kinder wartet, behauptet, er sei schwul. Nicht, dass das per se ein Problem wäre, beteuern sie. Nur unehrlich.

Die Gruppe setzt sich aus Algerierinnen und Marokkanerinnen zusammen, zwei mit Kopf­tuch, zwei ohne, eine deutsche Einwanderin gehört noch dazu. Sie bezeichnen sich als néo-français, aber über das leidige Thema der Integration wollen sie nicht sprechen. «Baguette, Käse und Béret, das sind nicht wir. Aber wir sind hier geboren und gehören genauso dazu.» Punkt. Das grösste Problem sei die fehlende Durchmischung. Auch sie wohnen alle weiter draussen in den Banlieues. Das siebte Arrondissement können sie sich nicht leisten.

Aber viel lieber echauffieren sie sich über die Première Dame Brigitte Macron, die sich ein noch teureres Outfit leiste als Melania Trump. «Das ist ein Affront gegenüber den hart arbeitenden Menschen, denen das Geld nicht bis Monats­ende reicht», sagt eine Mutter mit Kopf­tuch. Dann müssen auch sie schon wieder gehen, die Kinder rufen.

Das Klassen­bewusstsein ist im «Europe» ausgeprägt. Hier wissen alle, dass sie am unteren Ende der Nahrungs­kette stehen. Der Klassen­kampf wird mit harten verbalen Attacken geführt, doch von der Politik erwartet kaum jemand mehr etwas.

Von Europa erst recht nicht.

Wahlen interessieren die wenigsten, Protest und Demonstration sind nur Nachrichten, die man in der Lokalzeitung liest. «Le Progrès» titelt in diesen Tagen im März, wie sehr es der Bevölkerung in den Banlieues stinkt. Allen voran den Müll­männern. Denn seit einiger Zeit streikt die Entsorgung in Solidarität mit den Gelb­westen für bessere Arbeitsbedingungen.

Fragt man nach ihrer Arbeit, weichen die Gäste aus. Dies und das, hier und dort. Arbeit eben. «Irgendwie muss man ja die Rechnungen zahlen», sagen einige. Es klingt wie eine Entschuldigung für das, was die Leute tagtäglich über sich ergehen lassen müssen. Die am Feierabend hierherkommen, um ihr Glück wenigstens im Lotto zu versuchen.

Die Zukunft der Arbeit

Währenddessen bauen die Kräne an der Zukunft der Arbeit im siebten Arrondissement. Vorzeige­projekt der Neu­erfindung des Südens der Stadt war der Bau des Musée des Confluences beim Zusammen­fluss von Saône und Rhône. Das dekonstruktivistische Gebäude sieht aus, als hätte ein Riese nach einem Picknick am Fluss seinen Aluminium­teller und Plastik­becher ineinander gequetscht und liegen gelassen. Hier sollen Kunst und Wissenschaft höchst symbolträchtig zusammenfliessen und Lyon museumstechnisch in die obersten Ränge katapultieren. Schliesslich ist die Stadt die drittgrösste des Landes und der unumgängliche Knotenpunkt zwischen Paris und Marseille.

Daneben, auf den Terrains der ehemaligen Fabriken, schiessen die Wohnblöcke für eine neue Generation aus dem Boden. Rund um die ehemalige Arbeiterkneipe entsteht das Habitat der autoentrepreneurs, der Kreativ- und Dienstleistungs­gesellschaft.

«Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft (…)».

Im Schatten der glänzenden Neubauten sieht die Bar de l’Europe alt aus.

Café Europa

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