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Freispruch für E-Mail-Schlötterlinge

Von Brigitte Hürlimann, 10.05.2019

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Kurz vor Ostern haben vor dem Obergericht des Kantons Zürich eine Anwältin und ein Anwalt die Klingen gekreuzt – im Namen ihrer am Prozess nicht anwesenden Klienten. Es ging um Schlötterlinge, die ein 57-jähriger Ingenieur seinem Geschäfts­partner, einem 56-jährigen Arzt, angehängt hat. Per E-Mail. Und, herrjemine, die unschönen Wörter gingen auch noch mittels carbon copy, also via «cc», an einen Dritten. Der kannte die beiden Geschäfts­herren und vor allem deren erbitterten Streit allerdings bestens und schon lange.

Thema des Berufungs­prozesses war üble Nachrede. Der Ingenieur, der die E-Mails geschrieben hatte, kämpfte um einen vollständigen Freispruch. Der Arzt, der sich in seiner Ehre angegriffen fühlte, verlangte einen vollständigen Schuldspruch für seinen Kontrahenten. Und für sich selber eine Prozess­entschädigung.

Das Obergericht mochte sein Urteil damals nicht mündlich eröffnen und kurz begründen. Inzwischen ist es verfasst und verschickt worden, auch an die Republik. Es trägt das Datum des Prozesses. Und siehe da: Der beschuldigte E-Mail-Schreiber wird freigesprochen. Ohne Wenn und Aber. Und mit einer fast schon gesellschafts­philosophischen Begründung.

Im Zentrum der obergerichtlichen Überlegungen steht die Frage, wann jemand schuldig gesprochen werden muss, weil er einen anderen eines strafbaren Verhaltens bezichtigt. Im konkreten Fall ging es um den Vorwurf des Ingenieurs, der Arzt habe einen Betrugs­versuch unternommen. Die Berufungs­instanz sagt, solche Äusserungen müssten in einem Gesamt­zusammenhang gewürdigt werden. Und dieser sieht so aus, dass sich die beiden Herren schon lange in einem erbitterten Streit befinden, eine Vielzahl von Klagen erhoben haben.

Und ausserdem, so das Obergericht weiter, sei der Begriff der Ehre «wie kaum ein anderer Begriff im Strafgesetz­buch stark mit dem Zeitgeist verbunden». Das bedeutet: Die Auslegung oder Wertung des Begriffs der Ehre «unterliegt stark dem gesellschaftlichen Wandel, dem sich die Recht­sprechung nicht einfach gänzlich entziehen kann. In der heutigen freiheitlichen, offenen und toleranten Gesellschaft ist jeder in viel stärkerem Masse seines eigenen Glückes Schmied, als dies früher der Fall war, wo beispielsweise das berufliche Fortkommen und existenzielle Dinge weitgehend mit Ehre, Ansehen und dem Stand verknüpft waren.»

Aber Obacht: In der modernen Gesellschaft lauern die Gefahren der «allgemeinen medialen Überflutung, die immer mehr auf oberflächlichen situativen Meinungs­äusserungen als auf seriösen Fakten und Analysen basiert». Dies habe zur Folge, «dass Äusserungen oft nicht mehr dieselbe Ernsthaftigkeit zugemessen wird wie in früheren Zeiten, ja oftmals schon am Folgetag wieder in Vergessenheit geraten».

Der langen Rede kurzer Sinn: Das Obergericht findet, es brauche eine gewisse Erheblichkeit der Beleidigung, die sich von den «alltäglich erlebten Abschätzigkeiten deutlich unterscheidet». Und diese Erheblichkeit sieht das Gericht bei der beanstandeten E-Mail-Botschaft nicht. Daran ändere auch die carbon copy nichts, weil es sich bei diesem einzigen Drittempfänger um einen Eingeweihten handle.

Ob mit diesen Worten das Schlusswort gesprochen ist, bleibt offen, denn der Entscheid kann noch vor Bundes­gericht gezogen werden.

Urteil SB180179 des Zürcher Obergerichts vom 18. April 2019, schriftlich eröffnet im Mai 2019.

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