Warum man ehemals jugendliche Straftäter nicht verwahren soll

Jugendliche, die eine Straftat begangen haben, müssen mit 25 Jahren zwingend entlassen werden. Eine gefährliche Sicherheitslücke? Gefährlicher wäre es, Ungefährliche zu verwahren, schreibt die Strafrechtlerin Anna Coninx.

Ein Gastbeitrag von Anna Coninx, 08.05.2019

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Vergangene Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) die Schweiz in einem viel beachteten Fall verurteilt: Die jahrelange fürsorgerische Unterbringung (FU) eines ehemals jugendlichen Straftäters war unrechtmässig. Der Betroffene, der sogenannte Prostituierten­mörder Tobi B., soll mit 25’000 Euro entschädigt werden. Die schweizerischen Behörden werden den Fall nun neu beurteilen müssen.

Auch politisch dürfte das Urteil Folgen haben: Seit Jahren ist ein parlamentarischer Vorstoss hängig, der gesetzliche Voraussetzungen verlangt, um ehemals jugendliche Straftäter langfristig zu inhaftieren.

Der Fall Tobi B.

Zur Vorgeschichte: 2008 ermordete der damals 17-jährige Tobi B. eine Prostituierte, nachdem er sich mehrfach sexuell an ihr vergangen hatte. Er wurde zur jugendstrafrechtlichen Maximalstrafe von vier Jahren Freiheits­entzug verurteilt. Ausserdem ordnete das Gericht die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt sowie eine ambulante Behandlung an.

Mit der Vollendung des 22. Altersjahrs hätte Tobi B. laut Jugend­strafgesetz entlassen werden müssen. Sämtliche jugendstrafrechtlichen Massnahmen sind auf «Schutz und Erziehung» ausgerichtet. Sie enden mit dem Übergang ins Erwachsenen­alter (heute liegt die Obergrenze bei 25 Jahren).

Tobi B. zu entlassen, erschien den Behörden aber zu heikel. Sie inhaftierten ihn stattdessen im August 2012 in einem Hochsicherheits­trakt der Straf­anstalt Lenzburg. Begründet wurde dieser Schritt mit einer sogenannt fürsorgerischen Unterbringung, die möglich ist, wenn sich jemand selbst gefährdet (damals hiess die Massnahme noch fürsorgerischer Freiheitsentzug, FFE).

Tobi B. wehrte sich gegen diesen Entscheid bis vor Bundes­gericht. Denn die Psychiater attestierten ihm eine schwere psychische Störung und eine hohe Rückfall­gefahr, nicht aber eine Selbst­gefährdung. Das Bundes­gericht war dennoch der Ansicht, dass die FU von Tobi zulässig sei. Die Lausanner Richter stellten sich auf den Standpunkt, dass wer die Sicherheit anderer bedrohe, auch sich selbst gefährde. Schliesslich müsse er damit rechnen, strafrechtlich verurteilt zu werden.

Tobi B. wurde also inhaftiert, um ihn vor einer allfälligen Inhaftierung zu schützen. Konkret war er 23 Stunden am Tag in Einzel­haft eingeschlossen und unter höchsten Sicherheits­vorkehrungen faktisch verwahrt. Offensichtlich handelte es sich hierbei um eine verquere Form der Fürsorge.

Das Bundesgericht wurde von vielen Experten heftig kritisiert. Trotzdem bestätigte es das Konstrukt «Selbst­gefährdung wegen Fremd­gefährdung» in einem anderen Fall. Dabei liess man sich von ergebnisorientiertem Effizienz­denken jenseits von Gerechtigkeits­überlegungen leiten. Um das gewünschte Resultat zu erzielen, verletzte man rechtsstaatliche Garantien (Legalitäts­prinzip) und missachtete die offenkundige rechtliche Systematik (Unterscheidung von Selbst- und Fremdgefährdung).

Der Entscheid des EGMR vergangene Woche erfolgte denn auch wenig überraschend und einstimmig: Tobi B. war ohne gesetzliche Grundlage inhaftiert worden.

Das Problem ist damit aber nicht vom Tisch, und der Fall von Tobi B. und vergleichbare Fälle sind nicht gelöst. Denn wenn das Verdikt lautet: «Keine gesetzliche Grundlage», dann antwortet der Gesetz­geber gewöhnlich: «Dann schaffen wir eine.»

Die Motion Caroni

Bereits 2016 hat das Parlament eine Motion von FDP-Ständerat Andrea Caroni mit dem Titel «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» überwiesen. Im Ständerat beklagte sich Caroni darüber, dass man einen ehemals jugendlichen Straf­täter rauslassen müsse, auch wenn «alle Alarmsignale auf Rot stehen». Erst wenn wieder eine Tat geschehe, könne man strafrechtlich gegen den Täter vorgehen. Um diese Lücke zu schliessen, soll der Bundesrat die nötigen Gesetzes­änderungen vorschlagen, um ehemals jugendliche Straftäter nach Ende der jugendstrafrechtlichen Massnahme nahtlos in eine Erwachsenen-Massnahme zu überführen, wenn das aus Sicherheits­gründen notwendig scheint.

Im Klartext: Wer als Kind oder Jugendlicher delinquiert hat, riskiert nach Vollendung des 25. Altersjahrs, wie ein Erwachsener verwahrt zu werden.

Caronis reitet mit seinem Vorstoss auf einer besorgniserregenden Welle des Zeitgeistes, der von einem übermässigen Sicherheits­denken geprägt ist: «Better safe than sorry» lautet das Motto – Vorsicht ist besser als Nachsicht. Statt Verbrechen nachträglich zu bestrafen, will man unbedingt dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt.

Menschen sind keine Ampeln

Tatsächlich könnte man fragen: Warum soll der Staat nicht alles tun, um potenzielle Rückfälle zu verhindern, auch wenn ehemals jugendliche Straftäter wie Erwachsene verwahrt werden?

Bloss: Menschen sind keine Ampeln, sie besitzen keine Warnleucht­signale. Die Alarm­signale stehen bei einem möglichen Rückfall­täter nie «auf Rot», weil wir bei der Frage, ob jemand künftig delinquieren wird, immer mit widersprüchlichen Hinweisen konfrontiert sind. Wir wissen nie, ob in Zukunft ein Verbrechen passiert.

Gerade bei ehemals jugendlichen Straf­tätern ist die Gefährlichkeits­prognose besonders schwierig. Laut Ulrich Eisenberg, einem der führenden Jugend­strafrechtler, ist ein «hinreichend valides jugendspezifisches Prognose­verfahren nicht vorhanden». Psychische Störungen im Jugend­alter sind in der Regel stark von der Entwicklung des Jugendlichen abhängig und Behandlungs­prognosen kaum zu erstellen.

Prognoseverfahren stützen sich typischerweise auf bisheriges Legalverhalten. Jugendliche Straf­täter sind aber meist Erst­täter. Dazu kommen nur die Erfahrungen aus dem jugendstrafrechtlichen Vollzug. Aber wie soll dieses Umfeld, das übermässig auf Sicherung und Disziplinierung ausgerichtet ist und kaum Selbst­bestimmung und Selbst­verantwortung zulässt, ein aussagekräftiger Indikator für künftiges Verhalten sein?

Es ist schlicht nicht ersichtlich, wie man zuverlässig prognostizieren kann, dass ein ehemals jugendlicher Straftäter in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere Straftat begeht. Aber nur mit einer solchen Gefährlichkeitsprognose könnte man jemanden verwahren.

Die Risikoanalyse

Entschieden zurückweisen muss man auch die Versuchung, potenzielle Gefährlichkeit zu pathologisieren und anstelle einer Verwahrung eine stationäre therapeutische Massnahme nach Artikel 59, Absatz 3 im Strafgesetzbuch anzuordnen, im Volksmund auch «kleine Verwahrung» genannt. Grundsätzlich scheint die Hemmung, einen Straf­täter aus «therapeutischen Gründen» wegzusperren, weniger gross. Dabei wird leicht verkannt, dass die kleine Verwahrung in der Praxis auf eine ordentliche Verwahrung hinausläuft: Sie ist im Wesentlichen zeitlich unbeschränkt und wird oftmals in Straf­anstalten ohne entsprechendes Therapie­angebot vollzogen.

Angesichts der Schwere des Freiheits­entzugs sollte die stationäre Massnahme (wie die Verwahrung) nur dann angeordnet werden können, wenn schwere Delikte mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine dafür nötige zuverlässige Gefährlichkeits­prognose, die eine faire und legitime Grundlage für die zeitlich unbeschränkte Inhaftierung darstellt, kann aber bei ehemals jugendlichen Straftätern nicht erbracht werden.

Die Kernfrage lautet also: Wer muss die Last tragen, dass die Zukunft nicht voraussehbar ist, dass das Wissen über allfällige künftige Kriminalität unzureichend ist?

Unschuldige zu inhaftieren, ist der Inbegriff von staatlich zugefügtem Unrecht. Deshalb gilt im Rechts­staat der Grund­satz: Im Zweifel für den Angeklagten. Mindestens so grosses Unrecht ist es aber, Ungefährliche zu inhaftieren.

Zweifellos ist die Ohnmacht des Opfers und seiner Angehörigen gross, wenn jemand erneut delinquiert, der präventiv hätte inhaftiert werden können. Aber wie gross ist die Ohnmacht jener Menschen (und ihrer Angehörigen), die – in Wirklichkeit ungefährlich – wegen einer vagen Gefährlichkeits­prognose im Hochsicherheits­trakt gesichert werden?

Oder anders ausgedrückt: So fehleranfällig wie die Gefährlichkeits­prognose ist, hätte die Einführung einer Verwahrung oder einer stationären Massnahme für ehemals jugendliche Straf­täter vor allem eine Wirkung – die Wahrscheinlichkeit stiege massiv, dass ein Ungefährlicher ungerechtfertigt inhaftiert würde. Das Risiko, dass ein Ungefährlicher inhaftiert wird, wäre dann grösser, als dass jemand Opfer eines Rückfalltäters wird. Ein solches Gesetz sollten wir nicht schaffen.

Zur Autorin

Anna Coninx ist Assistenzprofessorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Luzern. Sie habilitiert zum Thema «Verbrechensbekämpfung jenseits der Schuldstrafe. Grund und Grenzen eingriffsintensiver präventiver Massnahmen».

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