Das Karussell

Finanzbehörden der EU werden ausgetrickst und erstatten nie gezahlte Mehrwertsteuern. Der Schaden: 50 Milliarden Euro pro Jahr. Unsere Recherche zeigt: Auch Schweizer Betrüger waren involviert – und sind es wohl bis heute.

Von Sylke Gruhnwald, Marguerite Meyer, Markus Reichert (ZDF) (Text) und Benjamin Güdel (Illustrationen), 07.05.2019

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Sie handeln mit Kartoffeln, Zwiebeln, Handys, Computern. Es könnten aber auch Autos, Metalle oder CO2-Zertifikate sein, sagt Pedro Seixas Felicio, der Ermittler. Was gehandelt werde, sei unwichtig, es komme nur darauf an, wie die Ware zwischen Ländern hin und her geschoben wird. Nämlich so, dass die Steuer­behörden die Übersicht verlieren. Mit dem alleinigen Ziel, sich Mehrwert­steuern erstatten zu lassen, die man nie bezahlt hat.

Das Prinzip: Schein­firmen gründen, Stroh­männer als Geschäfts­führer anstellen, Waren quer durch Europa schicken, Rechnungen fälschen, Spuren verwischen – um so die Steuer­behörden der 28 EU-Länder in Goldesel zu verwandeln. Der Schaden für die EU: rund 50 Milliarden Euro pro Jahr.

Den Haag, März 2019: Pedro Seixas Felicio sitzt in einem Konferenz­raum im bunkerartigen Hauptsitz von Europol, der europäischen Polizei­behörde. Er leitet hier das Ressort Wirtschafts­kriminalität. «Der Schaden ist immens», sagt er, «kein anderer Betrug kostet die EU mehr Geld.» Das Wort «Karussell» trifft es gut: Die immer gleiche Ware dreht ihre Runden durch Europa mit dem einzigen Zweck, bei jedem Grenz­übertritt einen neuen illegalen Steuer­gewinn abzuwerfen.

«Ein Profit von 100 Prozent ist leicht möglich, bei nur 5 Umdrehungen des Karussells», sagt Seixas. «Wir haben Fälle, da wurde eine Ware 50-mal im Kreis gehandelt. Stellen Sie sich vor, wie hoch der Gewinn dann ist.» Und wie viel Geld dann an anderer Stelle fehle, «für Bildung, für Gesundheit, für das Justiz­system, für die Sicherheit».

Es ist die alte Geschichte. Es geht um Steuern. Es geht um Recht und Gesetz, aber auch um Gerechtigkeit: darum, wer wie beiträgt zum Gemeinwohl und wer sich aus der Verantwortung stiehlt – oder sogar betrügt und das komplexe internationale Finanz­wesen auf kriminelle Weise missbraucht. Die «Panama Papers» haben gezeigt, wie Unternehmen und Privat­personen ihre Gewinne in Steuer­oasen vor dem Fiskus verstecken. Die Cum-Ex-Files haben gezeigt, wie sich Betrüger mit Buchungs­tricks nie gezahlte Steuern zurück­erstatten lassen. Diese Geschichte zeigt, wie sie mithilfe von Mehrwertsteuer­karussellen den Staat ausnehmen.

Wir werden sehen: Auch über den Schweizer Finanzplatz floss das Karussell­geld. Und der Republik ist es gelungen, erstmals zwei Schweizer ausfindig zu machen, die ihre Finger mit drin hatten in den betrügerischen Mehrwertsteuerkarussellen.

Gestatten: «der Kaufmann» und «der Banker».

Die Recherche

Ein internationaler Betrug lässt sich nur international recherchieren. Erneut haben sich deshalb 35 Zeitungen, Recherche­portale, TV- und Radiosender quer durch Europa zusammen­getan, um gemeinsam mehr herauszufinden. Darunter «Libération» in Paris, «Reporter» in Luxemburg, das Investigativ­magazin «Frontal 21» des deutschen Fernseh­senders ZDF und die Republik in der Schweiz. Das Berliner Recherche­zentrum Correctiv hat die Arbeit der 63 Journalistinnen koordiniert.

Gemeinsam haben wir rund 315’000 Seiten Ermittlungs­akten und Konto­auszüge, mitgeschnittene Telefonate und E-Mails ausgewertet. Am heutigen 7. Mai 2019 erscheint die Recherche zeitgleich in allen 28 EU-Ländern, zudem in Norwegen und in der Schweiz.

In Spanien diente ein Mehrwert­steuerkarussell wohl dazu, ein Terror­netzwerk zu finanzieren. Der mutmassliche Hintermann steht am heutigen 7. Mai in Madrid vor Gericht. Von der spanischen Exklave Melilla aus soll ein Netzwerk aus 40 Firmen betrieben worden sein, das Dänemark um rund 8 Millionen Euro betrogen hat. Unter anderem diente das Geld dazu, Reisen von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat zu finanzieren.

In Frankreich liessen Betrüger ein Mehrwertsteuer­karussell rund um CO2-Zertifikate kreisen, mit dem sie mindestens 1,6 Milliarden Euro illegal erwirtschafteten – der grösste Steuer­betrugsfall in der Geschichte des Landes.

In Grossbritannien beträgt der Schaden mehrere hundert Millionen Pfund. Einer der mutmasslichen Drahtzieher solcher Mehrwertsteuer­karusselle lebt auf der Insel: der Brite Peter Virdee, genannt «Batman», eine schillernde Gestalt in Mass­anzug und Sikh-Turban, der als Immobilien­mogul und Philanthrop auftritt. Abgewickelt wurden die Deals über die Deutsche Bank – deren involvierte Händler bereits wegen Steuerbetrugs verurteilt wurden. Die deutschen Strafverfolger bemühen sich um die Auslieferung Virdees, die Bundes­republik Deutschland zählt wohl zu den Geschädigten. Allein in Deutschland soll durch Mehrwertsteuer­karusselle jährlich ein Schaden von schätzungsweise 5 bis 14 Milliarden Euro entstehen. Genaue Zahlen kennt das deutsche Finanz­ministerium allerdings nicht. Gemäss Recherchen der Journalisten­kooperation #GrandTheftEurope blockiert Deutschland einen effektiven Kampf gegen Mehrwertsteuerbetrug.

In der Slowakei flog ein Mehrwertsteuer­karussell auf, das Kinder­überraschungs­eier zwischen Ländern hin und her geschoben hatte.

Was die Kollegen quer durch Europa noch herausgefunden haben, steht auf der Themenseite zu #GrandTheftEurope.

Und in der Schweiz?

Der Kaufmann

Ein Industrie­quartier irgendwo im Kanton Zug. Sauber bündige Trottoir­kanten, Funktions­bauten mit silberfarbenen Roll­läden, Parkplätze voller Bau­maschinen, eine Pension mit 5-Franken-Solarium. Die Strassen sind leer. Es nieselt.

Da, ein längliches Geschäfts­haus in Plastikblau. Doch an der Klingel fehlt sein Name. Anruf beim Kaufmann, er lotst per Handy durch die Flure. An seiner Büro­tür hängt ein Blatt Papier: «Zutritt für Sorgen und Ängste strengstens verboten.»

Ein Mann bittet herein. Er ist Mitte sechzig, sicher 1.90 Meter gross, kurze Haare, Brille, dunkle Jeans, weiss-blau gestreiftes Kurzarm­hemd. Er macht einen entspannten Eindruck. Ein Dutzend Gesprächs­anfragen habe er zu Mehrwertsteuer­karussellen erhalten und alle abgelehnt; dies sei sein erstes Interview zu dem Thema.

Das Büro besteht aus einem grossen Zimmer. Ein Schreibtisch, eine Sitzgruppe, ein paar Regale. Nüchtern und unaufgeräumt wirkt es. Neben dem Couchtisch: eine Buddha­statue und ein rotes Glasherz, daneben: einige halb offene Kartons, ein Stapel Kisten mit Tee, von «einem Importeurs­kollegen, der ihn nicht loswird».

Hier, in diesem Büro, war 2010 die Durch­suchung; so aufgebracht war der Kaufmann, dass er einen Akten­ordner nach einem Beamten warf. So zumindest erinnert er sich. In einer Aktennotiz der Strafverfolger ist von «Bewerfen mit Papier» die Rede.

Er stammt aus dem Wallis, setzt gleich ohne Umschweife im Dialekt an, wechselt kurz darauf auf solides Hoch­deutsch und bleibt dabei. Sein linker Arm ist bewegungslos, eine vererbte Muskel­krankheit, erklärt er später, doch man bemerkt es kaum, so geschickt drapiert er den Arm auf der Stuhllehne.

«Ja, es begann 2008, 2009, das erste Treffen am Flughafen, wir haben uns dann x-mal getroffen», hebt er an.

Aber eigentlich beginnt es noch viel früher.

Nämlich bei der Eidgenössischen Steuer­verwaltung in Bern, wo er zwanzig Jahre lang tätig ist und sich hocharbeitet zum Sektionschef. Er sagt, er habe damals einigen «ans Bein gepinkelt», deswegen, vermutet er, sei er dann auch so hart «drangekommen». Unter anderem legt er sich mit Hans Hess an, Steuer­anwalt von Franz Beckenbauer und Obwaldner Regierungsrat, später FDP-Ständerat; die Zeitungen berichten über die Steueraffäre. 2001 scheidet der Kaufmann aus dem Staats­dienst aus und macht sich als diplomierter Steuer­experte selbstständig. Nicht in der Innenstadt. Nicht in einem Altbau in bester Lage. Sondern in ebendiesem Büro, in einem grauen Gewerbe­park, irgendwo im Kanton Zug.

Wie er dann auf die falsche Bahn gerät, ist unklar. Weitschweifig erzählt der Kaufmann von allem Möglichen. Doch präzise Nachfragen dazu, wie alles abläuft, wie er seine Kompagnons kennenlernt, wie er die Deals abwickelt, umkreist er nebulös. Und genauso offen bleibt die Frage nach dem Warum. Warum macht ein renommierter Steuer­beamter, der an der Universität St. Gallen unterrichtet, Artikel und Bücher schreibt, bei illegalen Karussell­geschäften mit? Das sagt er nicht.

Einerseits redet er offen und ohne Scheu – und spricht dabei oft von sich als «man». Einerseits sagt er, man könne ihn mit seinem richtigen Namen nennen; andererseits will er das Gerichts­urteil gegen sich nicht heraus­geben, das sei «etwas sehr Persönliches». Einerseits akzeptiert er das Urteil und die Gefängnis­strafe; andererseits redet er weitschweifig davon, dass er doch damals alles in Ordnung bringen wollte mit den Steuern und alles nur auf einer grossen Intrige beruhe.

Aus den Akten, die der Republik vorliegen, geht hervor, dass er sich um 2009 zusammentut mit zwei Männern, einem Rohstoff­händler aus Pakistan und einem Mittels­mann. Fünf Monate lang schieben sie auf dem Papier Kupfer­kathoden im Wert von 25 Millionen Euro zwischen Rotterdam, Deutschland und dem Kanton Zug hin und her und streichen, mithilfe gefälschter Rechnungen eines Kegelbahn­bauers bei Heidelberg, die deutsche Vorsteuer in Höhe von 19 Prozent ein.

Der illegale Gewinn: mindestens 4,2 Millionen Euro.

Doch zu dilettantisch gehen sie vor, zu schlecht sind die Rechnungen gefälscht, es dauert nicht lange, da werden die deutschen Behörden aufmerksam – und deren Schweizer Kollegen leisten Rechtshilfe. Denn das Bundes­strafgericht in Bellinzona hat 2007 geurteilt. Ein Mehrwertsteuerkarussell ist ein Betrug gemäss Art. 146 Strafgesetzbuch, woraus folgt: Die Schweiz muss Rechtshilfe leisten. So auch in diesem Fall.

Am Mittwoch, 8. September 2010, um 8.20 Uhr stehen deutsche Steuer­fahnder, Zuger Polizisten und eine Schweizer Staatsanwältin des Bundes vor diesem Büro im Kanton Zug und beschlag­nahmen Computer und Dokumente des Kaufmanns.

Dass gegen ihn ermittelt wurde, dass es einen internationalen Haftbefehl gab, habe er nicht gewusst, und so sei er drei Jahre später Anfang Februar 2013 nach London gereist, wo er verhaftet und kurz darauf nach Deutschland ausgeliefert worden sei, erzählt er. Dort sei er wegen Steuer­hinterziehung zu einer Freiheits­strafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt worden.

Doch schon nach knapp zwei Jahren kommt er frei und wird in die Schweiz abgeschoben. Am 16. Dezember 2014 setzen ihn deutsche Beamte in Weil am Rhein ab. In dem Hemd, der Hose und der Jacke, die er bei der Verhaftung in London trug, läuft er über die Grenze nach Basel, auf dem Rücken den schwarzen Nylon­rucksack, den er damals dabei hatte. So erinnert er sich. Der Rucksack liegt heute neben seinem Schreibtisch.

Heute, sagt der Kaufmann, berate er andere Steuer­berater und besuche nebenher die Senioren­universität in Luzern. Die Profite von damals habe er nie gesehen. Was geblieben sei aus seiner Zeit im Gefängnis: Schulden. Spätestens diesen Sommer möchte er sie beglichen haben, dann geht er in Pension. «Und bis dahin möchte ich alles aufgeräumt haben. Ich möchte mit dem allen nichts mehr zu tun haben.»

Als Steuerbeamter lernte er die Mehrwertsteuer­karusselle kennen; als Steuer­berater wendete er sie an. Der Kaufmann kennt beide Seiten. Er sagt: Natürlich könnte man die Lücken schliessen. Wenn man es wollte.

Warum haben Sie bei dem Karussell­geschäft mitgemacht?
Ich kenne diese Karussell­geschäfte seit vielen Jahren, mich interessiert die ganze Steuer­problematik. Ich frage mich immer: Wieso kann man Karussell­geschäfte machen?

Nämlich?
Weil die Gesetze Lücken haben. Es wäre kein Problem, diese Lücken zu schliessen. Wenn man wollte.

Und wer müsste wollen?
Die Politik, der Gesetz­geber. Wenn der das will, wenn die die Probleme erkennen würden, dann könnte das Problem gelöst werden.

Die Staaten verlieren eine Menge Geld. Ist das kein Grund, die Gesetzes­lücken zu schliessen?
Ich rede vom System Schweiz. Wir haben viele Gesetzes­lücken. Die sind gewollt. Die Politik ist für mich der verlängerte Arm der Wirtschaft, und wenn die Wirtschaft nicht will, dann macht die Politik nichts.

Warum braucht man für Karussell­geschäfte Firmen mit Konten in der Schweiz?
Es ist gängig, in der Praxis, dass da Schweizer Firmen oder andere Firmen ausserhalb der EU einbezogen sind. Wir sind das Vorbild für Offshore-Gesellschaften. Die gesetzlichen Grundlagen, dass es die Offshore-Gesellschaften gibt, die schafft die Politik.

Finanzplatz Schweiz

Was zu der Frage führt: Welche Rolle spielt die Schweiz?

In der Schweiz ist die Mehrwertsteuer mit 7,7 Prozent im Vergleich zu den EU-Mitglieds­ländern tief. Getreide, Medikamente und Bücher werden gar niedriger besteuert. So ist das Land grundsätzlich weniger interessant für Firmen, welche die Mehrwert­steuer in einem Karussell umgehen wollen. Da lohnt sich beispielsweise das Einsacken von 19 Prozent Mehrwert­steuer in Deutschland viel mehr. Deshalb sind Mehrwertsteuer­karusselle innerhalb der Schweiz zwar denkbar, aber nicht besonders lohnenswert.

Auch die Bankenaufsicht Finma sagt, das Thema habe bei ihnen «keine besonderen» Spuren hinterlassen. Mehr könne man daher nicht sagen.

Die Zollverwaltung antwortet auf Anfrage der Republik: «Die Eidgenössische Zoll­verwaltung hat bisher keine Straf­untersuchungen in diesem Bereich geführt. Es gibt nach unserem Wissen keine Fälle in der Schweiz. Dies führen wir darauf zurück, dass das Mehrwertsteuer­system in der Schweiz anders ist als in der EU.»

Wohl aber habe man «in der Vergangenheit im Rahmen der internationalen Amts- und Rechtshilfe verschiedene Ersuchen von ausländischen Strafuntersuchungs­behörden vollzogen». Dazu könne man aber keine Stellung nehmen.

Die Meldestelle für Geld­wäscherei erwähnt in ihren Berichten einen einzigen Schweizer Fall. Steuer­experten und ein ehemaliger Ermittler sagen: Es wäre theoretisch möglich, aber kaum im grossen Stil.

Pedro Seixas Felicio, Leiter Wirtschafts­kriminalität bei Europol, sagt: «Früher brachten die Banden ihre illegalen Gewinne in Länder wie die Schweiz und Luxemburg. Auf Druck der EU passten sich diese Länder der EU an und begannen Informationen auszutauschen. So kam Dubai ins Spiel.» Vor allem über Dubai und andere ausser­europäische Steuervermeidungs­plätze würden die illegalen Finanz­ströme heute abgewickelt.

Aber nicht nur. Das zeigt dieser Fall.

Der Banker

Auf der Website eines ehemaligen Arbeitgebers findet sich noch ein Mitarbeiter­bild: Die grauen Haare sind akkurat gestutzt, das Jackett ist dezent grau, der Hemdkragen gestärkt, die dunkelblaue Hermès-Krawatte perfekt gebunden. Seriös wirkt er, der heute 59-Jährige, am Zürcher Parade­platz passte er gut ins Bild. Doch auch er hat mitgemacht, wurde erwischt und rechtskräftig verurteilt zu sechs Jahren Freiheits­strafe. Der Mann, Spitzname in der Branche: «der Banker», gehörte zu einer Bande, die Mehrwertsteuerkarusselle mit Emissionszertifikaten betrieb – ein Netz aus Strohmännern, Bankern, Treuhändern und Steuer­experten, die insgesamt rund 125 Millionen Euro an Steuern hinterzogen haben sollen.

Zuerst arbeitet er in Zürich in der Vermögens­verwaltung von Merrill Lynch, dann bei der Credit Suisse in London, schreibt der Banker auf seinem Linkedin-Profil. 2002 lernt er über Umwege Peter Virdee kennen, den «Batman». Sie sollen sich später im noblen Londoner Stadtteil Mayfair beim Asiaten um die Ecke getroffen haben.

Der Banker steigt ein. Sein Job: Konten für deutsche Schein­firmen zu eröffnen, um Geld­ströme zu verschleiern und Sender und Empfänger der Gelder zu tarnen. Das Schema ist immer gleich: Die Strohmänner kommen mit dem Zug aus Deutschland, der Banker holt sie am Bahnhof ab. Er, der seriöse Banker, achtet sehr wohl auf Äusserlichkeiten: Einer der aus Deutschland anreisenden Strohmänner kommt in Flipflops und trägt die Geschäfts­unterlagen für den Banktermin in einem Plastiksack bei sich. Was den Banker ziemlich geärgert habe.

Er erhält die Vollmachten für die Konten und leitet das Geld, das aus den illegalen Mehrwertsteuer­karussellen auf die Konten fliesst, weiter in die Steueroase Panama und auf andere Konten in der Schweiz.

Der Republik liegen die Konto­auszüge vor. Sie belegen, dass Millionen­beträge von Strohfirmen auf Konten bei der UBS, der Credit Suisse und der Liechten­steinischen Landesbank geflossen sind. Zu konkreten Transaktionen äussern sich die Banken nicht und verweisen auf ihre hohen Standards im Kampf gegen Geldwäsche.

Tatsächlich: Anfang August 2010 wird die Credit Suisse aufgefordert, die Unterlagen zu sieben Konten an die Ermittler zu übergeben. Die Bank stellt daraufhin eigene Nach­forschungen an und zeigt fünf weitere Kunden bei der Meldestelle für Geld­wäscherei an.

Auch der Banker gerät in das Visier der Straf­ermittler: Im September 2010 durchsuchen Schweizer Fahnder sein Zuhause in Winterthur und sein Büro an der Zürcher Bahnhof­strasse. Auch er macht später den Fehler, die Schweiz zu verlassen. Mitte Dezember 2015 wird der Banker am Flughafen in Wien verhaftet, später nach Deutschland ausgeliefert, wo er 2016 zu einer Freiheits­strafe von sechs Jahren verurteilt wird und einen Teil davon absitzen muss.

Der Banker wird in die Schweiz abgeschoben. Wir erreichen ihn am Mobil­telefon, unter ebender Schweizer Nummer, die er für seine illegalen Geschäfte nutzte.

Wo leben Sie heute? Können wir uns treffen?
Das geht Sie nichts an. Nein.

Sie waren Teil einer internationalen Bande, die Steuern in Millionen­höhe hinterzogen hat.
Das ist eine alte Geschichte. Warum kommen Sie jetzt damit?

Er legt auf. Sein Profilbild auf Whatsapp: eine Panorama­aufnahme des Zürichsees.

Die Fledermaus

2012 wird ein Video auf Youtube veröffentlicht. Es zeigt einen schwarzen Bugatti Veyron mit silbernen Felgen, ausgefahrenem Spoiler und dem Nummernschild B5I. Es ist eines der schnellsten und exklusivsten Autos der Welt, 1200 PS stark, 3 Millionen Euro teuer. Irgendetwas scheint der Fahrer falsch gemacht zu haben, jedenfalls stoppt ein Polizist auf einem Fahrrad den Luxus­schlitten und redet auf den Fahrer ein. Am Steuer sitzt ein Mann in Anzug und Turban. Peter Virdee, genannt «Batman». Ist das hier sein Batmobil?

Virdee ist eine schillernde Gestalt, eine Figur wie aus einer Operette. Er selbst bezeichnet sich als Geschäftsmann und Philanthropen. Geboren und aufgewachsen in Birmingham, trägt er stets einen Turban, das religiöse Symbol der indischen Sikhs. Seine Immobilien­firma B&S Property verwaltet gemäss Angaben auf Virdees Website ein Vermögen von 4 Milliarden Pfund weltweit. Fotos auf seiner eigenen Website zeigen ihn mit der Queen, dem Popstar Rihanna, Schauspieler Mickey Rourke, dem Sprinter Usain Bolt. Er posiert auf Magazin­covern, den Turban farblich abgestimmt auf Anzug und Krawatte, und stellt seinen Luxus­fuhrpark zur Schau. Und nennt sich Professor. Denn 2015 hatte ihn die Manchester Metropolitan University als Gastdozenten eingeladen.

Geht es nach der General­staatsanwaltschaft Frankfurt, dann ist es mit dem Luxus­leben bald vorbei. Dann sitzt «Batman» bald vor einem deutschen Richter. Die Ermittler beschuldigen Peter Virdee, Drahtzieher von Mehrwertsteuerkarussellen gewesen zu sein, welche Deutschland um dreistellige Millionen­beträge geprellt haben sollen.

Deshalb überwachen die deutschen Behörden Peter Virdee, mindestens zwischen dem 31. Januar 2015 und dem 26. Januar 2017. In einem Monat, am 5. und 6. Juni 2019, soll an einem Gericht im Londoner Stadtteil Westminster ein zweites Mal über die Auslieferung Virdees nach Deutschland entschieden werden. Seine Anwälte bestreiten gegenüber der britischen Zeitung «The Mirror», dass Virdee irgendetwas mit der Sache zu tun habe: «Unser Mandant bestreitet die Vorwürfe kategorisch; er war noch nie am Emissions­handel beteiligt, geschweige denn an irgendeinem Betrug.»

Einer der mutmasslichen Komplizen: «der Banker» in der Schweiz. Auch für Virdees Netzwerk soll er Konten eröffnet haben, um Gelder über die Schweiz hin und her zu schieben.

#GrandTheftEurope

Europol bezeichnet Mehrwertsteuer­karusselle als «eine der grössten Gefahren von organisierter und internationaler Kriminalität für die EU». Seit 2006 kooperiert das Schweizer Fedpol mit der europäischen Polizeibehörde. Die Strafverfolger nennen Mehrwertsteuer­betrug in einer Reihe mit Drogen­handel und Cyberkriminalität.

Es braucht die internationale Kooperation in der Strafverfolgung: Mehrwertsteuer­karusselle halten nicht an Länder­grenzen, die Täter lassen sich nicht von rot-weissen Schlag­bäumen stoppen, sie sind international vernetzt. Und ziehen gemeinsam Geld aus den Steuerkassen.

Umso erstaunlicher, dass die breite Öffentlichkeit kaum Notiz davon nimmt. Daran änderte auch die Kampagne namens #StopTheCarousel im Sommer 2017 nichts. Sie wurde von der Europäischen Kommission lanciert, auch um für eine Reform des europäischen Mehrwertsteuer­systems zu werben. Die wichtigste Neuerung soll das grösste Schlupfloch schliessen: eine Mehrwertsteuer­pflicht für Geschäfte über EU-Binnen­grenzen hinweg.

Im Herbst 2018 hat die Kommission zumindest eine abgespeckte Version präsentiert und Übergangs­lösungen eingeführt. Bis 2020 soll die Reform umgesetzt sein.

Derweil suchen sich die Karussell­fahrer neue Branchen. Die Karusselle mit Mobil­telefonen, mit Kupfer, mit Emissions­zertifikaten wurden aufgedeckt. Alle mit Schweizer Beteiligung. Und jetzt? Ein ehemaliger Karussell­fahrer sagt: Neue Branchen werden ständig erschlossen. Aktuell im Energie­sektor, im Online­handel. Dabei sind die kriminellen Banden den Strafverfolgern stets einen Schritt voraus.

Und die Schweiz funktioniert immer wieder als Drehscheibe: Hier werden Schein­firmen gegründet, hier liegen deren Bankkonten, hier wird die Spur des Betrugs verwischt.

Das zeigt der Fall des Schweizer «Kaufmanns». Das zeigt der Fall des Schweizer «Bankers». Das zeigen die Gesuche für Rechts­hilfe, die aus dem Ausland an die Schweiz gestellt werden. Und die Fälle von Schweizern, die im Ausland vor Gericht stehen.

Vom Karussell­betrug sind vor allem EU-Länder betroffen. Die Schweiz ist es nicht. Doch sie trägt dazu bei: als Hafen fürs Geld, als Sitz dubioser Firmen, als Heimat für Komplizen. Die Schweiz mag zwar nicht Teil der EU sein, doch Teil von Europa ist sie allemal – in diesem Fall in einer zweifelhaften Rolle.

Die Kooperation

Für das internationale Recherche­projekt ​#GrandTheftEurope hat sich die Republik mit 35 vom Recherche­zentrum Correctiv koordinierten Medien­partnern aus ganz Europa vernetzt. Gemeinsam hat das Netzwerk Mehrwertsteuer­karusselle durchleuchtet, einen in der Europäischen Union weit verbreiteten Steuer­betrug. Die Recherche hat zu zahlreichen Artikeln, einem Podcast und mehreren TV-Dokumentationen geführt.

Der Film

Das ZDF zeigt die Dokumentation «Der grosse Betrug: Wie Kriminelle und Terroristen Europa plündern» am Dienstag, 7. Mai 2019, um 21 Uhr. Gemacht haben den Film Hans Koberstein, Markus Reichert und Marta Orosz.

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