Was tun gegen die Auflösung der Gesellschaft?

Die Sozialwissenschaftler Heinz Bude und Christophe Guilluy legen eine harte Kritik der Gegenwart vor. Ihre Lösungsansätze sind jedoch grundverschieden: Rettet uns die Solidarität – oder der Populismus?

Von Isolde Charim, 04.05.2019

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Leben wir in einer «No Society», wie der französische Autor Christophe Guilluy behauptet – oder beginnt jetzt die Zukunft einer neuen «Solidarität», auf die der Soziologe Heinz Bude setzt? Zwei Bücher, zwei programmatische Titel, ein eigentümliches Verhältnis: Denn die zwei so gegenteiligen, ja wider­sprüchlichen Aussichten gehen von einem ähnlichen, ja oft identischen Befund aus.

Dieser Befund lautet: Die «eigentümliche Periode des Neoliberalismus» (Bude) hat zu einer «Verwüstung der Gesellschaft» (Guilluy) geführt.

Wir haben heute eine neue Sozial­ordnung, die auf dem Ausschluss der alten Mittelklasse beruht: Diese erfahre einen Abstieg, der nicht nur ökonomisch, sondern auch und vor allem kulturell und geografisch sei. Bude sprach schon 2008 von den «Ausgeschlossenen». Und Guilluy prägte bereits 2014 den Begriff der «France péripherique», der ein Phänomen wie die «Gelbwesten» gewisser­massen vorwegnahm. Zentral für die tief greifende Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist der Verlust des «Gemeinguts» (Guilluy); der Verlust «der Verpflichtung auf ein gemeinsames Anliegen» (Bude). Ohne diese integrierende Dimension, so die Autoren, komme es zur Spaltung, ja zur Auflösung der Gesellschaft.

Aber nicht nur konstatieren beide dieselben Pathologien des Gesellschaftlichen – wobei sie sich übrigens auch mit einem Autor wie Andreas Reckwitz einig sind. Sie erkennen auch beide eine Besonderheit des gegenwärtigen Moments, in dem sich das alte gesellschaftliche Modell erschöpft habe. Was es jetzt brauche, sei eine Überwindung, eine Abrechnung mit dem Neoliberalismus.

Offen aber bleibt die Frage: Ist eine Gesellschaft der «starken Einzelnen» (Bude) überhaupt noch eine Gesellschaft? Und was ist dann mit den schwachen Einzelnen?

Oder ist eine Gesellschaft, die sich in ein Innen und ein Aussen teilt – in jene, die dazugehören, und jene, die ausgeschlossen sind –, eine Gesellschaft also, die nicht alle umfasst, eben keine Gesellschaft mehr? Sondern eine «No Society», wie Christophe Guilluy behauptet?

Bei Guilluy geraten da zwei Begriffe in Konflikt: die titelgebende «No Society» und die «relative Gesellschaft». Relativ meint dabei nicht einfach nur eine partielle Gesellschaft, sondern vielmehr eine, in der keine Klasse Träger eines für alle gültigen Modells mehr ist. In der keine Klasse die Gesellschaft, die Lebens­weise und die Werte «inkarniert» – so Guilluys heimlicher Zentral­begriff: «Inkarnation».

Kein Abgesang, sondern eine grosse Idee

Dieser Begriff birgt ein ganzes Gesellschafts­modell, eine bestimmte Vorstellung von dem, was uns verbindet: als ob eine Klasse Trägerin, also Inbegriff im emphatischen Sinn, der gesamten Gesellschaft sein könnte. Und diese Klasse war in den glorreichen Jahren 1945 bis 1975, die Guilluys Massstab sind, eben die alte Mittelklasse. Diese habe damals die Gesellschaft inkarniert. Und nun sei sie ihres Status als eines «kulturellen Referenten» verlustig gegangen.

In den Büchern des Soziologen Andreas Reckwitz, insbesondere in seinem hochgelobten Band «Die Gesellschaft der Singularitäten», findet sich Vergleichbares, wenn er schreibt, die alte Mittelklasse sei der «Goldstandard», «Mass und Mitte» der alten, standardisierten Gesellschaft gewesen. Aber im Vergleich wird auch der Unterschied deutlich: Bei Reckwitz ist solche «Inkarnation» das Merkmal einer bestimmten Sozialordnung, nämlich jener der «nivellierten Mittelstands­gesellschaft»; sie ist aber nicht das Merkmal von Gesellschaft schlechthin. Und wenn wir heute in einer anderen Gesellschaft leben, dann ist diese genau dadurch bestimmt, dass sie sich eben nicht mehr durch «Inkarnation» – zu der Guilluy zurückwill – konstituiert. Eine solche Gesellschaft ist heute obsolet geworden.

Heinz Bude hat ganz anderes im Sinn als eine Gesellschaft, die sich am Ideal der Nachkriegs­jahre orientiert. Bei ihm folgt auf einen Pessimismus der Analyse ein Optimismus des Begriffs (wie man in Abwandlung von Gramsci sagen könnte). Sah er 2008 in fataler Skepsis noch eine «Ernüchterung des Fortschritts­glaubens», ein Ende der grossen Erzählung von der «Bewältigung der sozialen Frage durch eine erweiterte Integration der Gesellschaft», so stemmt er den Entwicklungen heute etwas entgegen: den Begriff der Solidarität. Nicht als Abgesang, sondern mit Blick auf «die Zukunft einer grossen Idee». Dieser Untertitel lehnt sich an bei Sigmund Freud und markiert sogleich einen Unterschied. Ging es bei Freud um die «Zukunft einer Illusion» – also um den Untergang der Religion als infantile Wunsch­erfüllung –, so geht es Bude um die Auferstehung einer potenten Idee.

Der Anklang an den Begründer der Psycho­analyse hinterlässt beim Leser jedoch den Verdacht, es könnte sich bei dieser grossen Idee auch um einen Wunsch handeln. Dies umso mehr, als Budes Ausgangs­punkt ein Begehren ist: Aus der Enttäuschung des neoliberalen Versprechens, auf den Einzelnen zu setzen, gehe ein neuer «Wir-Bedarf» hervor. Ein Begehren nach Gesellschaft, die mehr sei als eine Addition von Einzelnen. Es ist erstaunlich, dass ein Soziologe von einem Begehren ausgeht – aber Bude ist in mehr als nur in dieser Hinsicht kein Soziologe im engen Sinn.

Die Sehnsucht nach einem Wir, die Bude voraussetzt, entspringt einem gesellschaftlichen Vakuum, einer Leere. Der Weg, diese Leere zu füllen, sei eben Solidarität – die Ressource des Wirs. Solidarität aber ist nicht nur Ressource, sondern zugleich auch Gefahr, wie Bude schreibt – Gefahr, dieses Wir eben nicht herzustellen, sondern zu zerstören.

Wenn etwa Guilluy dem durchaus düsteren Befund der Gegenwart noch einen zusätzlichen Drall gibt. Wenn er aus der gesellschaftlichen Spaltung einen Verrat der oberen Klassen an den unteren macht. Wenn er diese verlassen, geopfert, verleugnet sieht.

Toleranz als verkleidete Klassenverachtung

Wenn Reckwitz von einer kulturellen Entwertung der alten Mittelklasse spricht, dann wird diese bei Guilluy zu einer konzertierten Vernebelungs­aktion des Klassen­verrats. Eine Verfemung der populären Klassen unter tatkräftiger Mitarbeit des medial-akademischen Betriebs. Guilluy interpretiert Toleranz und offene Gesellschaft als verkleidete Klassen­verachtung – Teil des Plans, die Gesellschaft zum Verschwinden zu bringen. Wenn Guilluy dann nach Solidarität ruft, wird diese zu einem spaltenden Moment: Die Anhänger der populären Klassen sollen sich solidarisch gegen die Vertreter der offenen Gesellschaft wenden. So wird Solidarität zu einer Kampf­formel, die ein umfassendes Wir gerade verhindert.

Bude hingegen sucht eine andere, eine neue Art von Solidarität. Unter all den «Heilungs­begriffen», die man heute zurückerobern will – wie Patriotismus, Heimat oder Nation –, hat Bude mit Sicherheit den wichtigsten und dringlichsten ausgesucht. Ihm ist es dabei aber nicht um die alte Kampf­solidarität zu tun. Er macht sich vielmehr auf die Suche nach einer möglichen Neukonzeption. Wie bekommt der neoliberale Einzelne, der «Selbstbesorgte», ein Gefühl fürs Zusammen­leben? Um diese Frage zu beantworten, sichtet Bude die Bestände. Dabei sammelt er das, was er braucht, und schreitet dort voran, wo das jeweilige Modell in einer Sackgasse mündet. Kein soziologisches, sondern ein ideen­geschichtliches Verfahren, um einen Begriff neu zu erobern.

Bude sucht ein Konzept für Solidarität unter Nicht­gleichen, unter Nicht­ähnlichen. Da fallen schon etliche Modelle weg. Etwa die fraternité, die den politischen Körper des Königs durch den Körper des französischen Volks ersetzt – Solidarität also, die auf Inkarnation beruht. Für Bude wäre dies das genaue Gegen­modell zu dem, was er sucht. Hier wird deutlich, warum Guilluys Vorstellung nicht mehr als Gesellschafts­modell taugt: Inkarnation der Gesellschaft in einem einzigen Träger ist zutiefst antipluralistisch. Heute braucht es ein anderes Band.

In Zeiten von Veränderung und Bedrohung, so Bude, braucht es mehr als eine rechtliche Regulierung der Gesellschaft. Auch mehr als «nur» den Sozialstaat mit seinem Paternalismus. Es braucht eine umfassende Solidarität der Nicht­ähnlichen.

Dass Bude dazu keine näheren Angaben macht – wer zählt dazu, wo soll diese neue Solidarität stattfinden und wo sind deren Grenzen? –, ist kein Manko, sondern Programm. Eben weil die gesuchte Solidarität sich nicht auf ein vorgegebenes, auf ein bestehendes Kollektiv bezieht. Sie ist vielmehr Vorgriff auf «ein Drittes», das erst herzustellen ist – auf ein grösseres Wir, «in das mein Wir und dein Wir eingehen können». Solidarität – und hier kommt wieder Budes Untertitel ins Spiel – wäre also eine Wette auf die Zukunft. Im Unterschied zu Guilluy, der zu der alten Nation zurückwill, mit der populären Klasse als privilegiertem Träger.

Guilluys Furor gegen die neuen Eliten verkehrt sich in eine absurde Romantisierung: Während er oben nur Egoismus und Narzissmus ausmacht, gerät ihm das Volk zur Inkarnation von Solidarität. Unerwähnt bleibt dabei, dass dies eine partielle, eine exkludierende Solidarität ist.

«Nadelöhr des Ichs»

Bude hingegen möchte mit seiner umfassenden Solidarität keinen Schritt zurück machen, sondern verfolgt seine Idee nach vorne – durch den Neoliberalismus hindurch. Denn dieser bedeutet eine Vereinzelung, in der jeder nur auf sich schaut. Und wir erleben heute dessen Abwehr in Form einer Vielzahl von «kleinen Solidaritäten», die sich gegen andere Communitys abgrenzen – das, was Guilluy so treffend die «Zeit der kleinen Gesellschaften» nennt. Demgegenüber sucht Bude nun eine neue grosse Solidarität, ausgerechnet durch «das Nadelöhr des Ichs» hindurch.

Eine Solidarität also, die nicht vom einzelnen Individuum absieht wie die der Kommunisten und die zugleich über diesen Einzelnen hinausgeht. Wo findet man diese?

Solidarität war immer schon Erleben und darin eine Intensitäts­erfahrung. Bude geht es offenbar darum, diese bislang verkappte Dimension nun zu ihrer expliziten zu machen. Solidarität soll explizit als Erlebnis, als Steigerung von Lebens­intensität verstanden werden, ja sogar als Angebot eines höchsten Erlebens: jenem nämlich, von sich als Einzelnem, als Vereinzeltem abzusehen. Das soll keine moralische Erinnerung an unsere wechselseitige Abhängigkeit sein. Sondern ein Angebot, die Fülle eines Wirs zu erleben.

Ein massgeschneidertes Angebot an neoliberale Subjekte.

Solidarität als Angebot für ein reicheres Leben, so lautet also Budes Formel. Dazu muss man aber die Leute erst davon überzeugen, dass sie dabei etwas zu gewinnen haben. Nur wie: verführen? Erziehen? Appell? Überreden? Tugend? Bude verfährt anders. Er geht von einem Begehren nach Solidarität aus – das hat etwas von einem Taschen­spieler, der das voraussetzt, worauf er hinauswill.

Wenn es tatsächlich ein solches Begehren gibt – ist dieses dann wirklich das Begehren nach einem umfassenden Wir? Oder nicht vielmehr nach jenen partikularen Wirs, die die Gesellschaft heute bereits fragmentieren?

Wenn die gesuchte Solidarität eine Ressource für Linke sein soll, die sich ihrem «müden Liberalismus des schlechten Gewissens» hingeben, wie Bude, der Meister der Adjektive, das nennt – dann muss diese aber umfassend sein. Sie muss auch die Reichen umfassen. Man könne die Reichen «nicht auf den Mond katapultieren», sie müssten ihren Beitrag leisten. Dazu wird es aber «Bastionen» brauchen, so Bude.

Also doch wieder Kampf?

Allen Enttäuschungen trotzen

Guilluy hat auch Probleme mit den Eliten: Wie holt er diese zurück aus ihrer Sezession? Eine Revolution scheint ihm in Zeiten der «No Society» keine Option. Seine Hoffnung ist die neue soft power der populären Klassen: der Populismus. Diesen sieht er nicht aufseiten des Problems, sondern aufseiten der Lösung. Er ist ihm die adäquate Antwort der populären, der kollektiven Klassen auf ihren Ausschluss. Damit würden diese ihr soziales und kulturelles Kapital schützen – als ob damit nicht auch ein reaktionäres Kapital geschützt würde.

In seinem Furor, die Deklassierten zu rehabilitieren, kippt Guilluys luzide Analyse in ein dumpfes Eliten-Bashing: als sei der populistische Rassismus nur das Phantasma einer privilegierten Operetten-Antifa. Als ob die autoritären Tendenzen nur eine akademische Erfindung wären, um im Dienste der Herrschenden den Populismus zu diffamieren. So kippt Guilluys berechtigte Kritik in eine durch und durch enttäuschende Antwort.

Bude hingegen landet bei einer existenzialistischen Trotzdem-Solidarität, die ohne festen Grund allen Enttäuschungen und Entzauberungen ins Auge sieht und ihnen trotzt. Ein Entwurf, der viele Fragen aufwirft. Diese richten sich aber nicht an den Autor, sondern an uns alle. Denn genau da beginnt die neue Solidarität: beim gemeinsamen, solidarischen Nachdenken. So bleibt die Frage zur Zukunft der Gesellschaft offen. Es ist an uns, eine Antwort zu geben.

Zu den Büchern

Heinz Bude: «Solidarität. Die Zukunft einer grossen Idee». Carl-Hanser-Verlag, München 2019. 176 Seiten, ca. 29 Franken.

Christophe Guilluy: «No Society. La fin de la classe moyenne occidentale». Editions Flammarion, Paris 2018. 240 Seiten, ca. 34 Franken.

Andreas Reckwitz: «Die Gesellschaft der Singularitäten». Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017. 480 Seiten, ca. 43 Franken.

Zur Autorin

Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin. Als ständige Kolumnistin schreibt sie für den «Falter» und die TAZ. 2018 erschien ihr Buch «Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert», das mit dem Philosophischen Buchpreis des Jahres ausgezeichnet wurde. Charim lebt in Wien. Für die Republik schrieb sie bereits den Essay «Wir neuen Religiösen».

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