Binswanger

Rettet den Kapitalismus!

Ohne Regulierung ist die Marktwirtschaft dem Untergang geweiht, schreibt Joseph Stiglitz in seinem neuen Buch. Bloss: Dafür ist heute schon fast eine Revolution nötig.

Von Daniel Binswanger, 04.05.2019

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Vor gut einer Woche, quasi pünktlich zum 1. Mai, ist «People, Power and Profits: Progressive Capitalism for an Age of Discontent» erschienen (Das Volk, die Macht und der Profit: Ein progressiver Kapitalismus in Zeiten der Polarisierung). Das neue Buch von Nobelpreis­träger Joseph Stiglitz ist ein breiter Rundumschlag, nicht nur eine düstere Gegenwarts­diagnostik, sondern eine politische Programmschrift.

«Es ist Zeit für grosse Veränderungen», verkündet Stiglitz gleich zu Beginn. «Sanfte Reformen, kleine Ajustierungen unseres politischen und ökonomischen Systems sind angesichts der Herausforderungen nicht ausreichend.» Die Lage, erklärt Stiglitz angesichts der ins dritte Jahr gegangenen Trump-Herrschaft nicht ganz überraschenderweise, sei dramatisch. Aber er hat auch eine gute Nachricht: «Es ist immer noch nicht zu spät, den Kapitalismus vor sich selber zu retten.»

Stiglitz hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Zwar ist das Genre des progressiven Rettet-den-Kapitalismus-Pamphlets mittlerweile recht verbreitet, und Stiglitz bietet ein Gross­panorama der akuten Brenn­punkte, das für umfassende Detail­analysen nur stellenweise Raum bietet. Aber es gelingt ihm, auf die zentralen gesellschaftlichen Problem­felder eine kohärente Perspektive zu eröffnen und eine stringente Analyse zu entwickeln, die zwar stark auf die USA fokussiert ist, aber auch in einem weiteren Kontext ihre Gültigkeit hat.

Der ehemalige Chefökonom der Weltbank ist alles andere als ein Feind des Marktes, ein Feind der Globalisierung, ein Feind des Kapitalismus. Doch mit der Autorität des hochdekorierten Spezialisten für Markt­versagen (er bekam seinen Nobelpreis für seine Arbeiten über Markt­verzerrungen durch Informations­asymmetrien) entwickelt Stiglitz eine zentrale These auf schlagende Weise: Markt­wirtschaft ist im Prinzip etwas Wunderbares, Konkurrenz und Wettbewerb sind ein Segen. Aber Märkte, die sich selber überlassen werden, haben eine fatale Neigung, nicht dem Wettbewerb, sondern den stärksten Markt­teilnehmern zu dienen. Sie fördern häufig nicht die Konkurrenz, sondern die Hegemonie von einzelnen Playern.

Echter Wettbewerb ist störungsanfällig, schutzbedürftig – und deshalb immer wieder angewiesen auf intensive Regulierung und einen starken Staat. Weil der Neoliberalismus die Märkte dereguliert und die Staaten geschwächt hat, müssen die USA – und die meisten anderen Länder – heute nicht nur mit Populismus und sozialen Verwerfungen kämpfen. Der Markt­fundamentalismus bedroht die Markt­wirtschaft selber.

In gewisser Weise ist Stiglitz’ Essay eine Kritik von Adam Smith’ klassischem Grundlagen­werk «Der Wohlstand der Nationen», auf das er immer wieder zurückkommt. «Zweihundert Jahre wissenschaftliche Forschung haben uns besser verstehen lassen, warum Smith’ ‹unsichtbare Hand› nicht sichtbar ist: weil sie nicht existiert», meint Stiglitz lakonisch. In den Standard­lehrbüchern der Ökonomie, so der Columbia-Professor, finde man auf jeder Seite x-mal den Begriff Wettbewerb. Eine Vokabel, die immer nur ganz am Rande vorkomme, sei Macht. Stiglitz ist überzeugt, dass hier ein Missverhältnis vorliegt, das den Realitäten des Wirtschafts­geschehens in keiner Weise entspricht. Ins Zentrum von zahlreichen Analysen stellt er deshalb, ganz im Gegensatz zu Smith, den Begriff der Marktmacht.

Das zentrale Kapitel des Buches heisst «Marktmacht und Ausbeutung» und belegt anhand zahlreicher konkreter Beispiele und volkswirtschaftlicher Kennzahlen, dass immer höhere Unternehmens­gewinne erzielt werden nicht durch Innovation, Leistung und Produktivitäts­steigerung, sondern durch Renten, sogenannte Gewinn­extraktionen, die aufgrund von Monopolen, Informations­asymmetrien, Preis­diktaten oder anderen Wettbewerbs­verzerrungen durchgesetzt werden können. Nicht die Kapital­rendite im eigentlichen Sinn, sondern auf Markt­macht beruhende Situations­renten haben einen immer grösseren Anteil am volkswirtschaftlichen Gesamt­einkommen – und der grösste Teil dieser Renten, so zeigen Untersuchungen, die Stiglitz ausführlich darstellt, fällt an in Form von Unternehmensprofiten.

Am schärfsten rechnet Stiglitz – nebst der Pharma-Industrie – mit den Tech-Giganten Google, Amazon, Facebook und Microsoft ab, die ihre gewaltige, in diesen Dimensionen noch nie da gewesene Kartell­macht dazu nutzen, Innovation und Konkurrenz nicht zu fördern, sondern zu verhindern. Stiglitz spricht sich für eine massive Verschärfung des Kartell­rechts und eine partielle Zerschlagung der Tech-Giganten aus. Sie verhindern nicht nur Wettbewerb und Fortschritt, sondern tragen aufgrund der überzogenen, eigentlich parasitären Profite, die sie generieren, massiv zur immer stärker ansteigenden Ungleichheit bei.

Im Grunde geht es Stiglitz nur darum, das kapitalistische Basis­programm zu restaurieren – also Produktivität und Wachstum so dynamisch wie möglich voranzubringen. Das ist jedoch nur möglich, wenn Märkte vernünftig reguliert werden, die erdrückende Markt­macht von Einzel­unternehmen gebrochen wird – und wenn die Früchte des Wachstums und die Kaufkraft an die Gesamt­bevölkerung zurückgegeben werden.

An welcher Idealvorstellung orientiert sich Stiglitz? An der Mittelstands­gesellschaft. Das sind die USA dereinst gewesen, aber es hat sich eine spektakuläre Transformation vollzogen: In den vergangenen 40 Jahren haben sich die Einkommens­verhältnisse der unteren 90 Prozent praktisch nicht verändert, während das oberste Prozent durch die Decke gegangen ist. Junge Amerikaner, die in den 1960er-Jahren in den Arbeits­markt eintraten, hatten eine 90-Prozent-Chance, einmal mehr zu verdienen als ihre Eltern. Heute liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent.

Die Treiber dieser Entwicklung sind natürlich die Globalisierung, die Automatisierung und die Informations­technologie – sowie die neoliberale Revolution. Stiglitz’ Analysen schlagen den Bogen von Reagan zu Trump, wobei Letzterer mit seiner Korruptheit, seinen Dauerlügen, seiner Wissenschafts­feindlichkeit und dem alle Rekorde brechenden deficit spending trotz aller Kontinuitäten nur noch als die Neandertal-Version von Reagan gelten kann. Trump oder der Neokonservatismus auf Crack: Auch diese Entwicklungs­linien zeichnet Stiglitz mit spitzer Feder nach. Aber er betont, dass sowohl die Globalisierung als auch die Automatisierung nach wie vor eine immense Chance darstellen und zu begrüssen seien – nur müsste endlich damit angefangen werden, den schwerwiegenden Problemen, die sie auch mit sich bringen, mit einschneidenden politischen Initiativen zu begegnen.

Globalisierung und Freihandel fördern die globale Prosperität, machen aber Opfer. Konsequenter Lohn­schutz, intelligente Umschulungs­programme, starke soziale Sicherungs­systeme: Ohne systematische Unterstützung für die Verlierer der Globalisierung werden die westlichen Demokratien immer stärker destabilisiert werden. Die Automatisierung wird ohne einschneidende politische Veränderungen schon gar nicht zu bewältigen sein: Eine Dienstleistungs­industrie, die im sekundären Sektor überflüssig gewordene Arbeits­kräfte absorbieren kann, wird sich nur entwickeln, wenn die Kaufkraft in der gesamten Bevölkerung erhalten bleibt, das heisst, wenn die staatliche Umverteilung ausgebaut wird. Roboter, die Produkte herstellen, welche sich nur noch eine kleine Elite kaufen kann, werden weder das Wachstum noch die Prosperität voranbringen. Im Gegenteil: Sie werden die Wirtschafts­entwicklung zum Stillstand bringen.

Eigentlich hat Stiglitz ein geradezu bürgerliches Programm. Er will einen funktionierenden Mittel­stand, Chancen­gleichheit, möglichst freie Märkte, möglichst fairen Wettbewerb, möglichst kreative Innovation, maximale Produktivität und nachhaltiges Wachstum. Damit diese Ziele erreicht werden können, müssen die Früchte des Wachstums geteilt werden. An dem Punkt, an dem wir heute sind, erfordert ein solches Programm jedoch schon beinahe eine Revolution.

Illustration: Alex Solman

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