Zahlenakrobatik mit dem Freisinn

120’000: Keine Partei hat so viele Mitglieder wie die FDP. Die Zahl hat sich seit 1979 nicht geändert. Kann das wirklich sein?

Von Andrea Arezina, 02.05.2019

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Letzten Monat befragte die FDP ihre Partei­mitglieder zu «einem der meistdiskutierten Politik­bereiche»: der Umwelt- und Klimapolitik. Die Befragung, welche die FDP mit dem Hashtag #KlimaUmfrage bewarb, gebe den Mitgliedern die Möglichkeit, die Parteipolitik der nächsten vier Jahre zu formen, versprach die Parteileitung – und bezeichnete das Ganze als «einmaligen Effort» in der Parteigeschichte.

120’000 Mitglieder wollte die Partei nach ihrer Meinung befragen. 100’000 Franken waren dafür vorgesehen. Ende April lief die Frist ab. 14’198 Mitglieder, knapp 12 Prozent der Basis, haben geantwortet. Erste Ergebnisse liegen vor: 78 Prozent befürworten ein stärkeres Engagement der FDP im Bereich Klima- und Umweltschutz. Die Partei­spitze hält sich vorerst mit einer Wertung zurück. In zwei Monaten will sie ein Positions­papier präsentieren, das sich auf die Antworten stützt.

Dabei stellt sich die Frage: Hat die FDP diese Umfrage wirklich bei 120’000 Mitgliedern durchgeführt? Und: Hat die Partei überhaupt so viele Mitglieder?

Die SVP, die wählerstärkste Partei der Schweiz, verfügt nach eigenen Angaben über rund 80’000 Mitglieder. Die CVP gibt 100’000 an. Die SP antwortet: 31’307. Die Grünen sagen, es seien ungefähr 9000. Und die Grünliberalen gehen davon aus, dass es bald 4500 sein werden.

Mit 120’000 Mitgliedern wäre die FDP (mit 16,4 Prozent Wähleranteil) also die mitgliederstärkste Partei der Schweiz. Man könnte sagen: Die am stärksten im Volk verankerte Partei. Und nicht nur das: Sie wäre auch die einzige Partei der Schweiz, die seit 1979 kein einziges Mitglied verloren hat.

Kann das sein?

Anruf in der FDP-Zentrale. Die Fragen: Wie viele Mitglieder hat die Partei? Wie viele sind letztes Jahr dazugekommen? Wie viele ausgetreten? Wie viele zahlten ihren Mitglieder­beitrag? Und werden Mitglieder auch aufgeführt, wenn sie keinen Beitrag zahlen?

Die Antwort des Medien­sprechers der FDP ist immer die gleiche: «Kann ich Ihnen leider nicht sagen.» Und: «Diese Informationen liegen bei den Kantonal- und Ortsparteien.»

Das heisst: abtelefonieren oder anschreiben von 26 Kantonal­parteien, der Frauen­sektion, der FDP International und den Jung­freisinnigen. Um eine Erkenntnis dieser Expedition gleich vorwegzunehmen: Mitgliederzahlen – heikles Thema.

Aber der Reihe nach.

Einen Tausender an Mitgliedern draufgelegt

Andreas Ladner ist Professor für Politik­wissenschaft an der Universität Lausanne. Er leitet verschiedene Projekte des Schweizerischen Nationalfonds im Bereich der Kommunal- und Parteien­forschung. Vor zwanzig Jahren hat er für ein nationales Forschungs­projekt die Mitglieder­zahlen der verschiedenen Parteien erhoben. Es ist bis heute die aktuellste Studie. Eine neue sei in Planung, sagt Ladner.

Schon damals betrug die von der FDP propagierte Mitglieder­zahl 120’000 und mehr. Ladner telefonierte die Kantonal­parteien ab. Und merkte, dass diese Zahl nicht stimmen konnte. Er kam zu einem ernüchternden Schluss: «Nicht alle Kantonal­parteien wussten genau, wie viele Mitglieder sie hatten.»

Einige Kantonal­parteien hätten damals bei ihren Angaben vielleicht einen Tausender an Mitgliedern draufgelegt, sagt Ladner. Aber selbst dann konnte die Zahl von 120’000 nicht stimmen. Ladner schätzte aufgrund seiner Recherchen, dass die FDP im Jahr 2001 zwischen 87’000 und 100’000 Mitglieder hatte.

Die FDP spricht aber weiterhin stets von 120’000 Mitgliedern. Wie kommt sie auf die markant höhere Zahl?

Ladner kann nur spekulieren: «Nicht alle Mitglieder der FDP wissen, dass sie Mitglied der FDP sind.» Wahrscheinlich seien sie wegen einer Spende oder einer Unterschrift irgendwann in eine Datei gerutscht. Die Kantonal­parteien der FDP haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, wer Partei­mitglied ist und wer nicht: Reicht es, einmal Interesse an der Partei bekundet zu haben? Oder muss man regelmässig den Mitglieder­beitrag zahlen?

Zeit, die Kantonal­parteien durchzutelefonieren.

Die erste Überraschung

Erster Anruf: FDP Bern. Am Telefon heisst es: «Totalbestand 5370 Mitglieder.» Und ausserdem: «Es spielt keine Rolle, ob man den Mitglieder­betrag zahlt.»

Zweiter Anruf: Aargau. Der Sekretär arbeitet erst seit kurzem für die Partei: «Zwischen 8000 und 10’000. Aber ich würde Ihnen empfehlen, direkt bei der FDP Schweiz nachzufragen.»

Dritter Anruf: Zürich. Der Herr auf dem Partei­sekretariat ist kurz angebunden. Kein Wort zu viel: «8500. Wir wachsen. Rund 50 neue Mitglieder pro Jahr.»

So geht es weiter, Kanton für Kanton: St. Gallen, Tessin, Genf. Dann die erste Überraschung. Anruf in der Waadt. Sympathische Frau am Telefon. Sie sagt: «Mitglieder­zahlen? Ein bisschen mehr als 15’000.»

15’000? Eine beachtliche Zahl: Fast doppelt so viele wie der bevölkerungsstarke Kanton Zürich. Sind da vielleicht Sympathisanten als Mitglieder gezählt worden? Die Frau am Telefon sagt, sie kläre es ab und melde sich wieder.

Sie tut es nicht.

Also Nachfrage beim Experten, Professor Ladner: Kann das stimmen, dass die Waadt 15’000 Mitglieder hat? «Nein», sagt Ladner. «Nicht, wenn Zürich 8500 hat. Die Waadt ist bevölkerungsmässig nur halb so gross wie Zürich, und die FDP ist dort nicht stärker organisiert. Es kann nicht sein, dass die Waadt fast doppelt so viele Partei­mitglieder hat.»

Vermutlich, sagt Ladner, würden hier tatsächlich Sympathisanten mit zahlenden Partei­mitgliedern vermischt. Deshalb sei es auch schwierig, die Mitglieder­zahlen der Parteien zu vergleichen. Jede Partei zähle anders.

«Rufen Sie den Präsidenten an»

Nächster Anruf: Luzern. Wie viele Mitglieder hat Ihre Kantonalpartei? «Oh, das ist eine gute Frage.» Eine Antwort darauf kann der Geschäfts­führer der FDP Luzern nicht geben. Er verweist auf die unterste Parteiebene.

Gar nicht reden will man in Solothurn. Die Frau am Telefon sagt, sie sei neu hier. Sie wisse nicht Bescheid. Man solle doch bitte bei den einzelnen Ortsparteien nachfragen. Die Expedition droht uferlos zu werden.

Beim nächsten Anruf in Solothurn ist eine erfahrene Sekretärin am Apparat. Aber auch sie sagt: «Ich kann Ihnen nichts sagen.» Sie arbeite zwar schon länger auf dem Sekretariat, aber sie wisse es wirklich nicht. «Rufen Sie den Präsidenten an!»

Nachfrage beim Präsidenten also: Herr Präsident, wie viele Mitglieder hat die FDP Solothurn? Die Antwort war zu erwarten: Auch er weiss es nicht. Man habe erst vor kurzem damit begonnen, die Mitglieder zu zählen. Vorher seien nur Sympathisantinnen erfasst worden.

So geht es weiter: Einige wollen die genaue Zahl nicht nennen, etwa die FDP International («dreistellig»), andere wie die FDP Schwyz, Appenzell und Schaffhausen verweisen auf die Orts­parteien oder antworten gar nicht.

Die Expedition steckt fest. Das wird endgültig klar, als die Finanz­verantwortliche der FDP-Frauen eine E-Mail schreibt: «Wie ich gehört habe, versuchen Sie nachzuprüfen, ob die FDP wirklich 120’000 Mitglieder hat. (…) Die einzig verlässliche Gesamtzahl ist die Zahl, die nur die FDP Schweiz liefern kann.»

Zurück auf Feld 1: Die einzig wahre Zahl ist die, die nicht wahr sein kann.

Einen Tag später meldet sich der Mediensprecher der FDP Schweiz von sich aus: Was plant die Republik, Frau Arezina?

Er stellt eine Frage, aber es wirkt eher so, als ob er etwas loswerden möchte: Er sagt etwas nicht sehr Freundliches über die Professionalität auf den untersten Partei­ebenen, das er später dann doch nicht mehr gesagt haben will.

Das Geheimnis

Zeit für eine Bilanz: Die Republik hat alle Kantonal­parteien angefragt. Achtzehn davon haben geantwortet. Zählt man sie zusammen, kommt man auf rund 80’000 Mitglieder. Es fehlen zwar einige kleinere Kantone, aber selbst wenn man für diese sehr optimistische Mitglieder­zahlen schätzt, kommt man nur auf rund 90’000 Mitglieder – ein Viertel weniger, als die Partei behauptet.

Letzter Anruf in der FDP-Partei­zentrale: Wie erklären Sie den Unterschied? «Das weiss ich nicht. Ich kann Ihnen nicht beantworten, warum Sie auf eine andere Zahl kommen.»

Wie die Partei 120’000 Mitglieder zählt, bleibt ein Geheimnis, das offenbar nicht einmal die FDP-Zentrale kennt.

PS: Die FDP dürfte übrigens nicht die einzige Partei sein, die es mit den Mitglieder­zahlen nicht so genau nimmt. Die CVP beispielsweise zählt rund 100’000 Mitglieder bei einem Wähleranteil von 11,6 Prozent. Etwas näher an der Wirklichkeit dürfte die SVP mit 80’000 Mitgliedern sein. Und die SP, die 31’307 zahlende Mitglieder registriert.

Zwischen 15’000 und 427

Die angegebenen Mitgliederzahlen der FDP

KantonalparteienWaadt: 15’000Aargau: zwischen 8000 und 10’000Zürich: 8500Tessin: 6000Bern: 5370St. Gallen: 5140Freiburg: 5000Wallis: 5000Neuenburg: zwischen 3000 und 4000Genf: 3000Graubünden: 2500Baselland: 2000Zug: 1800Thurgau: 1500Basel-Stadt: 427GruppierungenJungfreisinnige: 3800International: eine dreistellige Zahl

Die Kantone Luzern, Solothurn und Schwyz haben keine Übersicht über die Mitgliederzahlen. Von den Kantonen Appenzell, Glarus, Jura, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Uri und von den FDP-Frauen haben wir bis Redaktionsschluss keine Rückmeldung erhalten.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!