Das Abstimmungs-Päckli ist keine Gefahr für die Demokratie

Zu der Unternehmenssteuerreform und der Finanzspritze für die AHV kann man getrost Ja oder Nein sagen. Denn die Koppelung zweier Vorlagen ist nicht so schlimm wie dargestellt.

Ein Kommentar von Urs Bruderer, 02.05.2019

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Von Kuhhandel ist die Rede, von einem undemokratischen Deal. Die junge SVP wittert gar Verfassungsbruch. Seit die Doppelvorlage Staf geknüpft wurde, wird sie schlechtgeredet.

Man gewinnt den Eindruck, dass die Schweiz mit der Abstimmung über die Staf am 19. Mai ein Verbrechen im Kollektiv begehe. Der Stimmzettel wird zur Tatwaffe, und die Stimmbürger werden zu Kriminellen oder mindestens zu Mithelfern bei einem tiefen Vorstoss in die juristische Grauzone.

Juristen rümpfen die Nase und erinnern daran, dass ihre Welt – die Welt von Recht und Unrecht – halt auch nicht nur Schwarz und Weiss kenne. Das Bundesamt für Justiz spricht in einem Gutachten von einem noch vertretbaren Grenzfall.

Grund für die Gelehrtenaufregung ist die Einheit der Materie. Sie besagt, dass die Teile einer Verfassungs­änderung einen sachlichen Zusammenhang haben müssen. Dieser Grundsatz gilt also für Volksinitiativen. Dass er inzwischen auch für Gesetzesvorlagen gelten soll, ist unter Juristinnen umstritten.

Andreas Kley ist Professor für öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte an der Uni Zürich und hat sich mit der Geschichte der Einheit der Materie auseinandergesetzt. Sein Fazit: Die Ausweitung dieses Grundsatzes auf Gesetzes­vorlagen hat sich in den letzten Jahren eingeschlichen, vorgesehen war sie vom Verfassungsgeber nicht. Und das Parlament habe mit der Einheit der Materie stets eine «willkürliche, regellose und opportunistische Praxis» verfolgt, so Kley. Diesem Befund hat nie jemand widersprochen.

Die Einheit der Materie ist ein Gummi­paragraf, der in der Vergangenheit gegen unliebsame Initiativen eingesetzt wurde. Etwa 1995 gegen die Armee-Halbierungs-Initiative. Sie hätte die Militärausgaben halbieren und die freien Mittel in die soziale Sicherheit und in internationale Friedensarbeit stecken wollen. Oder 1977 die Initiative der Linksaussen­partei PdA «gegen Teuerung und Inflation». Sie forderte, mitten in der Rezession, die staatliche Kontrolle über Preise, Gewinne, Mieten, Kapital und sogar Verstaatlichungen sowie eine viel stärkere Besteuerung der Reichen. Über beide Initiativen liess man die Schweizer Bevölkerung nicht abstimmen.

Wer die direkte Demokratie stärken will, sollte die Einheit der Materie nicht beschwören, sondern diesen Grundsatz zurückhaltend anwenden und im Zweifelsfall darauf verzichten.

Aber, sagen Staf-Kritikerinnen, ohne Einheit der Materie seien die Stimmbürger nicht mehr in der Lage, ihren Willen frei und unverfälscht auszudrücken. Wer für die AHV-Geldspritze und gegen die Unternehmenssteuer­reform sei oder umgekehrt, könne dies mit einem einfachen Ja oder Nein nicht zum Ausdruck bringen.

Mit diesem Argument wird bei der Bevölkerung ein unbegründetes Unbehagen geschürt.

Als ob der freie Wille sich in einem Ja oder Nein fassen liesse. Als ob die Stimmbürgerinnen nicht gewohnt wären, über Vorlagen abzustimmen, die Willkommenes mit Unliebsamem koppeln. In einem Dilemma war zum Beispiel, wer Sympathien für die CVP-Initiative gegen die Heiratsstrafe hatte, weil sie die steuerliche Benachteiligung von Verheirateten abgeschafft hätte. Denn mit dem Ja zur Beseitigung dieser Ungerechtigkeit hätte er auch Ja sagen müssen zu Milliarden­ausfällen bei den Bundes­steuern und zu einer reaktionären Definition der Ehe als Lebens­gemeinschaft von Mann und Frau.

Jede Vorlage ist ein Päckli. Manche sind riesig (die Totalrevision der Bundes­verfassung), manche berühren vieles (der neue Finanzausgleich zwischen den Kantonen), manche sind eher klein (Heiratsstrafe).

Kommt hinzu, dass das Parlament dieses Paket bewusst und gezielt schnürte: Jeder Franken, den die Unternehmen sparen, soll ergänzt werden durch einen Franken für die AHV. Ökonomen haben berechnet, dass dieser soziale Ausgleich gut funktioniert: Es sind ziemlich genau dieselben Leute, die einerseits von der Steuerreform profitieren und andererseits mehr bezahlen müssen für die AHV.

Es ist also ein ziemlich normales Päckli, über das jetzt abgestimmt wird. Und es ist ein Kompromiss. Der (neben der Energiestrategie) einzige grosse Kompromiss, der dem Parlament in den letzten vier Jahren gelang.

Klar: Ein weniger polarisierter Politbetrieb hätte aus diesen zwei Vorlagen nicht eine machen müssen. Doch wer sah, wie linke und rechte Hardliner in der «Arena» des Schweizer Fernsehens auf einmal am selben Strick ziehen konnten und sich für einen Kompromiss einsetzten, der musste sich sagen: Ganz egal, wie die Abstimmung ausgeht, ein solches Päckli tut der Schweizer Politik sogar gut.

Ziemlich normal scheint die Vorlage auch zu sein, wenn man sich die befürwortenden und ablehnenden Lager anschaut. Abgesehen von den Grünliberalen steht eine sehr breite Mittekoalition von der SP bis weit in die SVP hinter der Staf. Der Widerstand kommt von den Rändern. Linksaussen stören sich die Grünen und Teile der Gewerkschaften an den Steuer­geschenken für Unternehmen. Und Jungfreisinnige und die junge SVP stören sich am Geld für die AHV, die sie derzeit für ein Fass ohne Boden halten.

Solche Fundamental­kritik ist legitim. Die Republik hat sich gestern damit auseinandergesetzt (hier und hier). Und natürlich ist es auch legitim, die ganze Vorlage abzulehnen, weil einem einer der beiden Teile missfällt. Die Grünen machen das so.

Nicht legitim ist, so zu tun, als ob hier ein Schmuddelpaket zur Abstimmung käme, als ob diese Vorlage das demokratische System aushebeln oder gar beschädigen würde. Wer diese Abstimmung im Namen der Einheit der Materie ablehnt, der schützt die direkte Demokratie nicht, im Gegenteil: Er blockiert sie.

Denn im Parlament sitzen die vom Volk gewählten Vertreterinnen. Sie haben gemacht, wofür sie gewählt wurden: Sie haben verhandelt und Interessen gegeneinander abgewogen und einen Kompromiss geschlossen.

Weil über 50’000 Unterschriften gegen diesen Kompromiss zusammengekommen sind, stimmen wir jetzt darüber ab. Die direkte Demokratie spielt. Und wie immer verlangt sie von den Teilnehmenden eine Abwägung.

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