Aus der Redaktion

Darf man mit der Sozialhilfe spielen?

Wir versuchen, anhand einer Simulation darzustellen, wie sich die Sozialhilfe auf den Alltag eines Menschen auswirkt. Ein Experiment – auch für uns.

Von Elia Blülle, 01.05.2019

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«Es reicht gerade zum Essen. Und das auch nur mit Verzicht.»

Das sagte die alleinerziehende Mutter Karin de Roche über den Sozialhilfe-Grundbedarf im SRF-Dokumentarfilm «Sozialhilfe unter Druck – Wie viel darf man haben?».

Ganz anders sieht das SVP-Gemeindepräsidentin Therese Schläpfer. Sie will die Sozialhilfe um 30 Prozent kürzen. Im Dokumentarfilm zeigt sie in einem einmonatigen Selbstversuch, wie man mit einem solchen kleinen Betrag ohne Probleme leben könne.

Sozialhilfe­bezügerin Karin de Roche findet das realitätsfern und sagt, Schläpfer habe einige wichtige Ausgabenposten komplett ausgelassen.

Wir fragten uns auf der Redaktion: Was stimmt? Wie sieht das Leben mit dem heutigen Sozialhilfe-Grundbedarf aus? Erlaubt er den Betroffenen ein soziales und würdevolles Leben?

Simulation «Spiel des Lebens»

Leben von der Sozialhilfe: Wie gut geht das – und wie lange geht das gut? Machen Sie den Selbstversuch.

Im Gespräch mit Sozialarbeitern haben wir schnell herausgefunden, dass eine Senkung des Grundbedarfes Sozialhilfe­bezüger in eine ernsthafte Notlage brächte. Es sei zwar möglich, mit dem heutigen Grundbedarf ohne Probleme einen Monat zu leben, aber schwierig seien vor allem die unerwarteten, alltäglichen Kosten, die etwa bei sozialen Aktivitäten entstehen und sich über die Monate akkumulieren können.

Weil Personen beim Eintritt in die Sozialhilfe nicht mehr als 4000 Franken Vermögen besitzen dürfen, starten die meisten ohne finanzielles Polster. Das heisst, allfällige Mehrausgaben sind sehr schwer zu kompensieren.

Und da das Leben nicht wie eine Excel-Tabelle funktioniert, sondern von Zufall und Überraschungen geprägt ist, können hohe Beträge die betroffenen Personen schnell in eine Bredouille bringen.

Mit unserer Simulation wollen wir dieser Systematik Sichtbarkeit verleihen und zeigen, was sich eine Sozialhilfe­bezügerin leisten kann – und was nicht.

Wir sind uns bewusst, dass die Simulation die Realität stark vereinfacht und das Leben einer Sozialhilfe­bezügerin nur verkürzt abbildet. So ziehen wir etwa Ausgaben für Essen oder Stromkosten pauschal nach den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ab, im Bewusstsein, dass diese Beträge je nach Monat und Person stark variieren können.

Republik-Journalist Urs Bruderer (2. v. l.) im Gespräch mit Sozialarbeitern.

In einem abendfüllenden Workshop mit erfahrenen Sozialarbeiterinnen, deren Job es ist, Sozialhilfe­bezüger zu betreuen und beraten, haben wir Kostenpunkte ausfindig gemacht, die Sozialhilfe­bezügerinnen und -bezüger immer wieder vor finanzielle Probleme stellen. Wie zum Beispiel Haustiere, soziale Aktivitäten, aber auch ganz alltägliche Ausgaben wie Essen oder Reparaturen.

Dabei stellte sich heraus, dass wir in vielerlei Hinsicht von falschen Prämissen ausgingen. Zum Beispiel wussten wir nicht, dass einem Sozialhilfe­bezüger alles Geld abgezogen wird, das er etwa durch einen kleinen Lottogewinn einnimmt oder sich bei einem kleinen Gelegenheitsjob abverdient.

Die Ergebnisse aus dem Workshop sind in unsere Simulation eingeflossen. In der Testphase liessen wir die Entscheidungen und Ausgabenposten ebenfalls noch einmal von einem Sozialarbeiter prüfen, der uns vor der Publikation die Plausibilität der Simulation bestätigte.

Doch eine Frage stellte sich uns im Verlauf der Arbeit immer wieder: Dürfen wir mit der Sozialhilfe spielen – oder ist es am Ende doch eine unterkomplexe Darstellung der Realität?

Im Verlauf der Arbeit sind wir im Austausch mit denjenigen Personen, die sich tagtäglich mit den Sozialhilfe­bezügerinnen beschäftigen, zum Schluss gekommen, dass eine solche Simulation ihren Zweck erfüllt. Der Nutzer kann sich für ein paar Minuten in die Situation eines fiktiven Sozialhilfe­bezügers versetzen und die schwierige Planungs­unsicherheit miterleben.

Wohlgemerkt: Daraus sollten keine Rückschlüsse auf die individuellen Schicksale und Leben der Betroffenen gezogen werden. Denn die Simulation kann zum Beispiel nicht vermitteln, dass ein Mensch, der von der Sozialhilfe lebt, viel freie Zeit zur Verfügung hat, die er oder sie mit Freizeit­beschäftigungen füllen muss.

Debatte: Was soll die Sozialhilfe leisten – und was nicht?

Ist es eine gute Idee, die Sozialhilfe zu kürzen? Bekommen die Schwächsten der Gesellschaft zu wenig – oder sogar zu viel? Was soll ein Sozialstaat ermöglichen – was nicht? Diskutieren Sie mit!

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