Unter Waffenbrüdern

Sie laufen Sturm gegen das neue Waffengesetz und sehen Freiheit, Sicherheit und Tradition in Gefahr. Wer sind die Schweizer Schützen?

Von Elia Blülle (Text) und Kim Allamand (Bilder), 26.04.2019

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Im Kieswerk am Rand von Eschenbach sieht es aus wie auf dem Mond.

Gut versteckt inmitten der Krater­landschaft schrauben rund 25 Männer ihre Schall­dämpfer auf die Sturm­gewehre und füllen die Magazine ab. Sie stehen in einem Kreis. Weil der Hochnebel dem Seetal das Sonnen­licht raubt, frisst sich eine beissende Kälte unter die Jacke. Die Finger zittern.

Es ist neun Uhr; das Dorf erwacht noch, als Nico von Burg an diesem Samstag­morgen im April auf die mit Patronen übersäte Festbank steigt und einen letzten grossen Schluck aus der Energy­drink-Dose nimmt.

«Ihr kennt die Regeln. Haltet euch daran! Kein unnötiges Geballere. Geschossen wird nur mit den Schall­dämpfern. Wer sich unwohl fühlt, soll sich melden. Viel Spass!»

Für die einen mag das, was gleich am Boden des 25 Meter tiefen Grabens passiert, nach paramilitärischem Kampf­training aussehen – nach einem absurden Kriegs­spiel, das unbedingt verboten gehört.

Für die Männer in der Grube ist es ein Sport wie jeder andere.

Einmal pro Monat treffen sie sich im luzernischen Eschenbach zum Schiessen. Ganz legal, wie sie immer wieder betonen. Sie haben den Pächter, die Polizei, die Gemeinde, den eidgenössischen Schiess­offizier und den Kanton um Erlaubnis gefragt. Nächstens steht noch einmal ein Termin bei der Umwelt­behörde an.

Einige der Männer ziehen sich schwere kugelsichere Westen über den Kopf; setzen Pamire, Helme und getönte Schutz­brillen auf, als ob sie sich auf eine Mission vorbereiten müssten. Im Hintergrund schallt aus einer mobilen Musikbox die Stimme von Jimmy Hendrix, «All Along the Watchtower».

Zwei Schützen sprinten los. Sie rammen ihre Stiefel in den Lehm­boden und zielen. Ein harter Knall peitscht durch die Grube und wird von den Steilhängen zurück ins Kieswerk geworfen. Weil der Schall­dämpfer noch mit Sauerstoff gefüllt ist, der bei der Schuss­abgabe abbrennt, ist der erste Knall am lautesten.

Die nächsten sind dumpfer, leiser.

Während die ersten beiden Männer in der Kiesgrube verschwinden, erklären die anderen, wieso die Schall­dämpfer ein gutes Beispiel dafür seien, wie sich der «bürokratische Irrsinn» ausbreite. In den Kantonen Nidwalden und Schwyz sei es ziemlich einfach, eine Sonder­bewilligung für Schall­dämpfer zu erhalten; in Zürich und Luzern extrem schwierig.

«Ein Witz. Die Schall­dämpfer lösen viele Probleme mit Anwohnern in der Nähe von Schiess­plätzen. Ausserhalb der Grube darf der Knall die 70-Dezibel-Grenze nicht überschreiten. Lärmschutz­bestimmungen.»

Die meisten der Schützen in der Kiesgrube wollen anonym bleiben. Sie kennen sich aus dem Militär. Dienten bei den Grenadieren, waren als Militär­polizisten, Hunde­führer, Füsiliere und Artilleristen im Einsatz. Einer erzählt, dass er am Vorabend gerade aus dem Kosovo zurückgekehrt sei, wo er während eines Jahres für die Swisscoy gearbeitet habe.

Dynamisches Schiessen nennen sie ihren Sport, der in den 1950ern von einem Oberst­leutnant und ein paar Sheriffs in Südkalifornien als Freizeit­beschäftigung entwickelt und in den letzten Jahren auch in die Schweiz importiert wurde. Dabei rennen die Schützen draussen oder drinnen durch einen vorgegebenen Parcours und zielen auf unbewegliche Metall­scheiben. Es erinnert an Biathlon ohne Skier und Schnee – stattdessen mit Sturm­gewehren, Pistolen und Militär­stiefeln.

Ein teures Hobby. Die vierminütige Runde durch die Grube kostet 80 bis 100 Franken; jede verschossene Patrone 60 bis 80 Rappen; die Teilnahme­gebühr 240 Franken; persönliche Ausrüstung, Waffen und Accessoires je nach Ausstattung weit über 10’000 Franken.

«Das Auge schiesst immer mit», sagt einer der Männer.

In der sogenannten «Fummel­zone», wo nur an gesicherten, entladenen Waffen herumhantiert werden darf und die Schützen auf ihre Runde warten, wird besprochen, was in diesen Tagen die ganze Szene und ihre Kritiker beschäftigt: die neuen EU-Waffen­richtlinien.

«Das bringt überhaupt nichts», sagt einer, während er die Munition ins Magazin schiebt.

«Glaub mir, das ist erst der Anfang», ein anderer.

Die Schützen in der Kiesgrube, aber auch viele andere sehen im neuen Waffen­recht eine unerhörte Schikane, die einen erneuten Papier­krieg auslösen werde, den Schiess­sport zerstören und eine schweizerische Tradition auf dem Altar europäischer Politik opfern werde.

Über das neue Waffen­gesetz stimmt die Schweiz am 19. Mai ab. Wird es angenommen, zwingt es die Käufer von halbautomatischen Waffen künftig dazu, einen Nachweis zu liefern; einen Nachweis, der belegt, dass sie Mitglied von einem offiziellen Schützen­verein sind und regelmässig schiessen.

Eine verhältnismässig moderate Anpassung.

Trotzdem laufen die Schützen Sturm. Immer, wenn sich in der Vergangenheit eine gesetzliche Verschärfung des Waffen­rechts anbahnte, sei sie noch so klein gewesen, entbrannten rasch emotionale Grundsatz­debatten, die über Monate die Agenda bestimmten. Anders als bei anderen Anpassungen steht dieses Mal aber mehr auf dem Spiel: Lehnt die Schweiz die EU-Waffen­richtlinie ab, ist ihre Mitgliedschaft im Schengen-Raum gefährdet.

Viele Schützen finden: Ein Wegfall der Mitgliedschaft wäre das kleinere Übel. Ihnen geht es in dieser Debatte nicht weniger als darum, die Entwaffnung der Bürger zu verhindern, wie sie es nennen. Schliesslich würden mit der Teilrevision des Waffen­rechts halbautomatische Waffen mit grossen Magazinen per Gesetz verboten. Also fast alle handelsüblichen Sturm­gewehre und Pistolen.

In Rekord­zeit sammelten die Schützen für das Referendum fast dreimal so viele Unterschriften, wie nötig gewesen wären. Selbst die wegweisende Abstimmung zur neuen Unternehmens­steuer rückt angesichts der zuweilen harschen Auseinander­setzung in den Hintergrund.

Die Schützen sind eine politische Macht. Zumindest, wenn sie geeint auftreten.

In der Schweiz ist das aussergewöhnlich. Anders als in den USA gibt es hier nicht die eine grosse Waffen­lobby – und auch nicht den einen Typ Schützen.

Jäger, Sport­schützen, Unter­offiziere, Sammler, Hobby-Pistoleros und Reduit-Nostalgiker: Alle haben einen eigenen Verband, in dem eine eigene Klientel, eine eigene Kultur und eigene Manierismen gepflegt werden. Man respektiert sich untereinander, beruft sich im Zweifel aber auf die eigene Besonderheit.

Dass die Schweizer Schützen so geeint auftreten wie in dieser Abstimmung, ist ein kleines Novum – die Vielfalt der Verbände und ihre breite Abstützung in der Gesellschaft ein klarer Kampf­vorteil.

Die Gegner der Waffen­richtlinie dominieren den Abstimmungs­kampf. Auch weil es ihnen nicht nur um Magazin­grössen, Verbote und Sonder­bewilligungen geht. Den Schützen ist es gelungen, die ganz grossen Werte in die Debatte zu führen:

Freiheit, Sicherheit und Tradition.

Meine Waffe, unsere Freiheit

Wenn sich Nico von Burg nicht durch die Kiesgrube schiesst, verkauft er Waffen im zugerischen Hünenberg. Vor zwei Jahren hat er hier sein Geschäft mit dem Erlös eines früh erworbenen Bitcoins eröffnet; wenige Tage bevor der Kurs ins Loch fiel.

Der Slogan seiner Firma: «Deine Freiheit ist unser Geschäft.»

Der 28-Jährige, gebaut wie ein Tresor, sitzt auf einem Chesterfield-Ledersofa und schiebt sich einen Snus unter die Oberlippe – Oraltabak in Beutelchen, sehr beliebt in Skandinavien.

Die Freiheit ist sein Geschäft: Nico von Burg, Waffenhändler.

Von Burgs Büro sieht aus wie das Material­lager von James Bond. An der Ausstellungs­wand hängen Dutzende Sturm­gewehre, in der Vitrine liegen Schall­dämpfer, Munitions­packungen, Visiere und Holster. Auf einem ausgedienten mannshohen Minen­werfer thront ein in Holz gerahmtes Porträt von General Guisan, wie man es in den Fünfzigerjahren in jedem zweiten Schweizer Haushalt finden konnte.

Nico von Burg arbeitet zehn Stunden am Tag und mehr. Führt Kunden­gespräche, telefoniert um drei Uhr morgens in die USA. Am Abend leitet er Schiess­kurse. Mit seinem Geschäft verdient er bisher nur wenig; die Gewinn­margen auf Waffen sind tief, die Administrations­kosten hoch. Allein um die vorgeschriebene Einbruch­sicherheit seines Lagers zu gewährleisten, hat er mehrere tausend Franken ausgegeben.

Die Kunden mögen von Burg, seine Geduld, seinen Charme. Wenn er lacht, zittert die Luft. Mit der Republik spricht er, weil er zeigen will, dass sie, die Schützen und Waffen­sammler, keine rechtsextremen Knall­köpfe seien, keine kopflosen Rambos. Er sagt immer wieder, dass in seinem Sport die Technik, die Ruhe und die Bewegung im Vordergrund stünden – nicht Kampf und Krieg.

Seine einzige Bitte fürs Gespräch: «Bitte bleibt sachlich!»

Diejenigen, die glaubten, er und seine Kompagnons würden in der Kiesgrube Krieg spielen, hätten keine Ahnung. Manchmal würden ihn die Top-Profis des dynamischen Schiessens beim Rennen durch die Parcours eher an Ballett­tänzer erinnern als an Soldaten. Dynamisches Schiessen habe nichts mit Kampf zu tun. Anders als in den USA würden sie auch nie auf menschliche Silhouetten schiessen. Das komme für ihn nicht infrage.

«Ich will niemals, wirklich niemals meine Waffe gegen einen Menschen richten.»

Mit vierzehn Jahren schiesst Nico von Burg im Jungschützen­kurs zum ersten Mal mit einem Kleinkaliber­gewehr; zwei Jahre später mit dem Sturm­gewehr. Die Begeisterung packt ihn. Mit jedem, der das erste Mal eine Waffe in der Hand halte, passiere dasselbe: «Man will besser treffen als die anderen. Immer. Das spornt an.»

Von Burg hat Wirtschaft in St. Gallen studiert. Er kommt aus einer politischen Familie. Sein Grossvater war SP-Mitglied, engagiert in der Gewerkschaft; er selber bezeichnet sich als libertär, aber gemässigt. Er sei kein Anarchist, wolle aber, dass der Staat so schlank wie möglich gehalten werde. Waffen­exporte in Bürgerkriegs­länder lehnt er ab. Migration befürwortet er, weil sie die Wirtschaft ankurble.

Der Jungunternehmer ist fasziniert von libertären Ideen: 2015 hat er mit ein paar Freunden eine Kolonie in der «Republik Liberland» errichtet. Ein vier Quadrat­kilometer grosses, freiheitliches Utopia mit dem Staats­zweck, eine Steuer­oase zu errichten. Von Burg war der fünfte offizielle Ehrenbürger des international nicht anerkannten Mikro­staates, der als Experiment im bürokratischen Niemands­land zwischen Serbien und Kroatien gegründet wurde.

Der Aspekt der Freiheit sei ein wichtiger Grund, wieso viele junge Menschen heutzutage eine Waffe erwürben. Viele Freunde im Ausland würden ihn um dieses Privileg beneiden.

«Wir kaufen, weil wir können – und müssen uns, solange wir sauber sind, dafür auch nicht rechtfertigen.»

Fünfzig Prozent der Kunden von Burgs werden über Instagram auf ihn aufmerksam. Seinem Account folgen über 3500 Menschen. Er war einer der ersten Schweizer, der in den sozialen Netzwerken für seine Waffen warb. Fast täglich lädt er Bilder von Pistolen und Gewehren hoch, meist säuberlich drapiert auf einer Schweizer Militär­decke. Lange Zeit habe man es hierzulande nicht gerne gesehen, wenn Leute ihre Waffen offen zeigten. Das ändere sich nun.

In den sozialen Netzwerken finden sich viele Profile von jungen Schützen, die ihre Waffen zur Schau stellen. Ein Trend, der von den USA in die Schweiz schwappt. Frauen und Männer posieren mit Sturm­gewehren und Revolvern wie andere mit Hunden und Katzen. Die Fotos kriegen eigene Hashtags: #gunsofinstagram, #pewpewlife, #chlöpfstäcke.

Von Burg sagt: «Die Jungen haben ein viel unverkrampfteres Verhältnis zu Waffen als ältere Generationen.» Das Aussehen einer Waffe, die Ästhetik spiele heute eine genauso grosse Rolle wie deren Funktion. Und sie seien stolz auf ihre Waffen wie andere Sportler auf ihre Schuhe: «Eine Waffe zu besitzen, ist heute auch ein Lifestyle, für den wir uns nicht schämen.»

Auf seinem T-Shirt prangt das Logo der «SHOT Show», die er im Januar in Las Vegas besucht hat. An der weltweit grössten Waffen­messe hat er sich über die neusten Produkte informiert und bei dieser Gelegenheit auch die Stelle besucht, wo ein Amok­läufer vor anderthalb Jahren 58 Menschen ermordete und 869 weitere verletzte.

Die Situation in den USA sei nicht mit der Schweiz zu vergleichen, findet von Burg: «Die vielen Unfälle und Toten in den Staaten hängen mit dem tiefen Bildungs­niveau, dem fehlenden Wissen im Umgang mit Waffen und der dortigen Kultur zusammen, die viel eher auf der Kriegs­idee als auf dem Sport­gedanken wie bei uns basiert.»

Von Burg sagt, dass die Schweiz im Ausland sogar ein Vorbild sei, und verweist auf einen Beitrag aus der linken amerikanischen Satire­sendung «The Daily Show», der unter Schützen seit Wochen viral geht. Der Titel: «So Many Guns, No Mass Shootings».

Für die Sendung hat Michael Kosta, Stand-up-Comedian, Schweizer Schützen besucht, um zu zeigen, wie ein freiheitliches Waffen­recht mit einer hohen Waffen­dichte zu vereinbaren ist, ohne dass dabei Menschen sterben.

Und tatsächlich: Obwohl hierzulande mehr als 2,5 Millionen Gewehre und Pistolen auf rund ein Drittel der Haushalte verteilt sind, kommen in der Schweiz zehnmal weniger Menschen durch Waffen­gewalt ums Leben als in den USA, wo 43 Prozent der Haushalte mindestens eine Waffe besitzen.

Woran liegt das?

«Wir haben eine traditionell gewachsene Waffen­kultur. Die Menschen besuchen Schiess­kurse und halten sich an die Regeln. Vollautomatische Waffen sind im Gegensatz zu den USA schon heute verboten, und bei uns gibt es eine gute soziale und polizeiliche Kontrolle. Ich habe schon einige Male Kunden vor die Tür gestellt, weil ich das Gefühl hatte, sie verstünden nichts von Waffen oder hätten zwielichtige Absichten.»

Von Burg meint, mit den neuen Richtlinien werde man keinen einzigen Toten verhindern. Wer kriminell sei, komme auf dem Schwarzmarkt immer zu einer Knarre. Mit dem neuen Gesetz würden aber vor allem die friedlichen Schützen bestraft. Dagegen wehrt er sich.

«Die Schweiz hat kein Problem mit Waffengewalt. Und wo es kein Problem gibt, da braucht es auch keinen Staats­eingriff und Regulierungen – besonders nicht durch die Europäische Union.»

Meine Waffe, unsere Sicherheit

Christian Mueller zielt – und liebt es zu treffen; der Basler trägt den Vize­weltmeistertitel im schwedischen Geschicklichkeits­spiel Kubb und ist seit seiner Jugend Sportschütze. Übermüdet sitzt er in seiner Stube; seine frischgeborene Tochter weint im oberen Stock.

Wegen ihr, aber auch wegen der Frühschicht, die er heute um sechs Uhr antreten musste, hat Mueller kaum geschlafen. Eigentlich arbeitet er als Theater­pädagoge und Künstler. Da er aber mit diesen Jobs nur wenig Geld verdient, zieht er immer morgens, bewaffnet mit einer Checkliste, als Qualitäts­kontrolleur durch die Nordwest­schweiz und testet den öffentlichen Verkehr.

Aber eben. Eigentlich ist Mueller eidgenössisch diplomierter Künstler. Und weil Politik auch eine Form von Kunst sei, habe er seit einiger Zeit ein neues Berufsziel: Politiker.

Nächstes Jahr kandidiert der 38-jährige Mueller für den Basler Grossrat. Seine Chancen stehen gut, als Kandidat seiner selbst gegründeten Partei gewählt zu werden, denn der Stadtkanton hat in der letzten Legislatur das Quorum abgeschafft.

Lächerlich, absurd, viel zu harmlos: Christian Mueller sieht das neue Waffen­gesetz als verpasste Chance.

In Basel gilt Christian Mueller als politischer Querdenker und fällt mit seinen originellen Ideen auf, die viele auch als Jux abtun. Vor ein paar Jahren hat er eine Initiative lanciert, die den Bau einer Rutschbahn von der Johanniterbrücke in den Rhein in der Verfassung festschreiben wollte.

Mueller sagt, heute sei er nicht mehr links, sondern sozialliberal. Man solle die persönliche Freiheit erst dann politisch einschränken, wenn es nötig sei; nicht aus ideologischen oder religiösen Gründen: «Freiheit heisst, das zu machen, was man will, ohne anderen dabei zu schaden.»

In der Vergangenheit war Christian Mueller Juso- und SP-Mitglied, hat als GSoA-Sekretär gearbeitet und gründete, weil ihm das alles zu behäbig wurde, vor ein paar Jahren seine eigene Partei mit dem Namen Freistaat Unteres Kleinbasel, kurz FUK, ausserdem engagiert er sich im Vorstand der lokalen Operation Libero.

Auch Christian Mueller lehnt das neue Waffen­recht ab. Aber nicht aus freiheitlichen Gründen wie Waffen­händler Nico von Burg, sondern weil er findet, das Gesetz sei weichgespült, viel zu harmlos. Eine vertane Chance.

Wer verstehen will, warum Christian Mueller entgegen der gängigen Haltung seiner Kollegen und als Liberaler für ein verschärftes Waffen­recht einsteht, muss seine Geschichte kennen. Und die beginnt in der ländlichen Solothurner Gemeinde, wo Mueller aufgewachsen ist. SVP-Stammlande, wie er sagt.

Sein Vater arbeitet als Auto­mechaniker, die Mutter als Kranken­pflegerin. Politische Debatten mit seinen Eltern vermeidet er zugunsten des Haus­friedens bis heute. Eine idyllische, aber kleinräumige Welt.

Als Jugendlicher absolviert Christian Mueller den vom Militär finanzierten Jungschützen­kurs. Weil er jeweils vor den samstäglichen Wett­kämpfen noch zur Schule muss, schleppt er das Sturmgewehr in der Sport­tasche mit in den Unterricht. Das Gewehr offen über der Schulter zu tragen wie die anderen, ist für Mueller undenkbar. Im Gegensatz zu seinen Schützen­kollegen schämt er sich für seine Waffe. Er fühlt sich unwohl.

Als er in einem Training die Scheibe verfehlt, meint einer der Kollegen, er müsse sich einfach vorstellen, da vorne stünde ein «Jugo». Dann würde er schon treffen. Ein Ausbildner sagt, sie könnten die nicht vollständig leer geschossenen Magazine auch mit nach Hause nehmen, das sei kein Problem. Nach einem Jahr hat Mueller genug. Die Stimmung im Schützen­verein passt ihm nicht. Er tritt aus.

Erst lange Zeit später, Mueller bereitete sich für die Jagd­prüfung vor, entdeckte er das Sport­schiessen von neuem. Er meldet sich in einem städtischen Schützen­verein an, weil er sagt, dass er erst auf lebendige Wesen schiessen wolle, wenn er auch mit hundert­prozentiger Sicherheit treffe.

Im Basler Schützen­club herrscht eine andere Kultur. Offener, weniger rechts, weniger suspekt. Andere machen Yoga, Christian Mueller schiesst. Wenn er mit dem Luft­gewehr im Keller steht, ist das für ihn eine Art Meditation. Wer treffen will, braucht Konzentration und Anspannung. Muss seine Muskeln, den Atem und die Sicht kontrollieren. Das beruhigt, und dafür reicht ihm auch das Kleinkaliber­gewehr – oder sogar eine Laser­pistole.

Wem es tatsächlich nur um den Sport gehe, der brauche kein Sturm­gewehr – oder gar eine andere krasse Waffe. Halbautomatische Gewehre, die man nicht nachladen müsse, seien sehr effizient im Töten von Menschen: «Sie wurden für nichts anderes gebaut.»

Seit Christian Mueller miterlebt hat, wie sich der gleichaltrige Bruder seiner Ex-Freundin mit einem Sturmgewehr 90 erschossen hat, ist er ein noch überzeugterer Armee­gegner und ein noch überzeugterer Pazifist. Damals war Christian Mueller 25 Jahre alt. Der Suizid sei eine Kurzschluss­handlung gewesen, die hätte verhindert werden können, wäre da nicht die Armee­waffe in der Holztruhe auf dem Gang gelegen.

Die Familie sei daran zerbrochen, seine Beziehung auch: «Ein Suizid reisst auch das ganze Umfeld in den Abgrund. Da hört für mich Liberalismus auf. Wie viele Tote legitimieren ein freiheitliches Waffen­recht? 1, 2, 100? Kann mir das jemand sagen?»

In der Schweiz erschiessen sich pro Jahr rund 200 Männer. Seit das Parlament 2007 die Abgabe von Taschen­munition an Soldaten abgeschafft hat, sind die Zahlen zwar gesunken, doch die Rate an «Schusswaffentoten» pro Einwohner ist weltweit nur in den USA höher.

«Eine Waffe ist ein gefährlicher Gegenstand, so steht es im Gesetz. Ich verstehe nicht, wieso die Schweiz ihre Sturm­gewehre immer noch an eine potenzielle Risiko­gruppe verschenkt, obwohl man von der Korrelation zwischen Waffen­dichte und Suiziden weiss. Die Rate der Suizide mit Schuss­waffen ist bei Frauen viel tiefer.»

Christian Mueller findet das neue Waffen­gesetz lächerlich. Man hätte endlich die Möglichkeit gehabt, eine griffige Lösung zu finden. Halbautomaten strikter zu regulieren, Auflagen für die Aufbewahrung zu erlassen und die direkte Übernahme von Armee­waffen abzuschaffen. Kurz: eine verpasste Chance.

Aber auch die Reaktion des Schweizer Schiesssport­verbandes und seine «Entwaffnungsdiktat-Kampagne» ärgern Christian Mueller. Er verstehe seinen Verband nicht, denn de facto ändere sich mit dem neuen Waffen­gesetz nichts.

«Die Schützen lassen sich von der SVP vor den Karren spannen, die vor den Wahlen die Europa­themen austestet. Dabei garantiert ja gerade das Schengen/Dublin-Abkommen objektive Sicherheit. Die steht nun auf dem Spiel.»

Lehnt die Schweiz die neuen EU-Waffen­richtlinien ab, droht der Rauswurf aus dem Vertrags­werk, das die Zusammen­arbeit europäischer Staaten in den Bereichen Polizei, Visa, Justiz und Asyl regelt. Das sagen der Bundesrat und die Befürworter.

Das Schützen-Komitee sieht das anders: Es schreibt auf seiner Website, das sei Angst­macherei, man würde die Schweiz nie aus dem Schengen-Raum ausschliessen. Die Zusammen­arbeit sei auch für Europa viel zu wichtig.

Christian Mueller findet das absurd und wird deshalb an der Urne ein Ja einlegen. Dass die Schützen mit ihrem verdrehten Freiheits­verständnis die Zusammen­arbeit mit Europa und somit auch die innere Sicherheit riskierten, versteht er nicht: «Die SVP machte bisher mit den Stimmen der Armen Politik für Reiche. Nun macht sie mit den Stimmen der Schützen Politik für Europa­gegner. Wir lassen uns für dumm verkaufen.»

Meine Waffe, unsere Tradition

«Ich kann nicht beantworten, wieso die SVP uns unterstützt. Da müssen Sie die Partei selber fragen.»

Das sagt Luca Filippini, oberster Schütze der Schweiz, seit 2017 Präsident des Schiess­sportverbandes. Dessen Website macht schnell klar, was die Schützen von der neuen Waffen­richtlinie halten: «Unrecht, freiheits­feindlich, gefährlich, antischweizerisch.»

Luca Filippini: Es geht ums Prinzip, um das Recht auf Waffen­besitz.

Die Kampagne der Gegner führt die «Interessen­gemeinschaft Schiessen Schweiz», deren Präsidium ebenfalls Luca Filippini übernommen hat. In der Vereinigung treten Gewehr- und Armbrust­schützen, Jäger, Fachhändler, Unteroffiziere und Sammler geeint gegen das «Entwaffnungs­diktat der EU» an.

Ihr Kampagnen­logo zeigt einen blauen Keil, der den rechten Arm des Schweizer­kreuzes abtrennt.

Filippini, gross, schlank, kurzes, silbernes Haar, schlichter, eleganter Anzug und eine sanfte, konzentrierte Stimme, wirkt wie der Gegen­entwurf zu den Männern im Kieswerk. Unvorstellbar, dass der Verbands­präsident jemals mit Sturm­gewehr durch eine Mond­landschaft rennen würde.

Seine bevorzugte Waffe erinnert denn auch eher an futuristisches Werkzeug aus der Weltraum­fahrt als an die Tötungs­instrumente, denen das Sport­luftgewehr nachempfunden ist.

Konfrontative Fragen beantwortet der 51-jährige Filippini stets freundlich und immer so nüchtern und trocken wie ein Fernseh­moderator. In Bellinzona arbeitet er als General­sekretär für den Lega-Regierungsrat Norman Gobbi im Justiz- und Polizei­departement. Weil er in Zürich Informatik und Betriebs­wissenschaften studiert hat, spricht er beinahe perfekt Deutsch. Er selber ist parteilos. Sein Leben: das Schiessen.

Es sei der Kampf gegen sich selber, der ihn am Schützen­sport fasziniere. Mit sechs Jahren testet er erstmals das grossväterliche Kleinkaliber­gewehr, tritt bald dem örtlichen Club bei und lernt dort später auch seine Frau kennen, die bis heute als Vereins­sekretärin tätig ist.

Für Olympia reicht sein Können nicht, doch das Vereins­leben habe für ihn sowieso immer Vorrang gehabt. Filippini steht als Präsident 130’000 Schützen vor. Das entspricht fast der Einwohnerzahl von Bern.

Doch seit der Jahrtausend­wende hat der Verband über ein Drittel seiner Mitglieder verloren. Fussball wird immer beliebter, das Militär immer unbeliebter; dem traditionellen Schiess­sport fehlt seit Jahren der aktive Nachwuchs. Die eigentliche Aufgabe von Filippini wäre es, das zu ändern.

Doch stattdessen führt er im Moment den Kampf gegen das neue Waffen­recht an und das, obwohl viele Befürchtungen der Schützen nicht eingetroffen sind: Das Gesetz verlangt keine psychologischen Tests, keine generelle Vereins­pflicht, kein zentrales Waffen­register, und Soldaten dürfen ihre Sturm­gewehre nach dem Militär­dienst weiterhin direkt übernehmen.

Filippini und seine Schützen opponieren: «Die Europäische Union hat gesagt, man wolle mit den neuen Richt­linien Terrorismus bekämpfen, schikaniert aber damit die Bürger. Mit diesem Gesetz wird man kein einziges Attentat verhindern.»

Einen bestimmten Satz wiederholt Filippini immer wieder: «Mir geht es hier nicht nur um Waffen, sondern vor allem ums Prinzip.» Und das oberste Prinzip sei, dass der gesetzestreue Schweizer eine Waffe kaufen dürfe, ohne dass er einen Bedarf angeben muss – ein Vertrauens­beweis des Staates gegenüber seinen Bürgern.

Eine wichtige Tradition, ein Symbol, ein Grundrecht, das mit dem neuen Gesetz unterlaufen würde, da es bestimmte Pistolen und Gewehre nur noch gegen Sonder­bewilligungen erlaubt.

Paradoxerweise würde diese Änderung Filippinis grösstes Problem – die sinkenden Mitglieder­zahlen – auf einen Schlag lösen. Denn nach neuem Recht erhält eine Sonder­bewilligung für Halbautomaten, wer eine Vereins­mitgliedschaft nachweisen kann. Aber auch dagegen wehrt sich Filippini: «Wir wollen keine Papier­mitglieder, sondern solche, die aktiv am Vereins­leben teilnehmen. Pseudo­mitglieder schaden der Schiess­tradition mehr, als dass sie uns nützen.»

Ohne Führer­ausweis ist das Autofahren verboten. Ohne Erwerbs­schein darf man kein Gewehr kaufen – und ginge es nach der Waffen­richtlinie, fortan ohne Sonderbewilligung auch keine halbautomatische Waffe.

Was wäre daran so schlimm?

Filippini antwortet: «Das explizite Verbot der Schuss­waffen, die wir für unseren Sport benutzen.»

Die grosse Angst der Schützen liegt vor allem in der Zukunft begraben, oder genauer gesagt: im Artikel 17 der EU-Waffen­richtlinie. Dieser sieht ab 2020 eine wiederholte Überprüfung der Gesetzes­verschärfungen und allfällige Anpassungen vor.

Filippini und seine Kollegen sehen darin die schrittweise Entwaffnung der Bürger versteckt, die es im Sinne der Schweizer Tradition und Freiheits­rechte um jeden Preis zu verhindern gelte.

Filippini sagt, sie wüssten zwar nicht, was morgen komme, aber eben, ihnen gehe es ums Prinzip, um das Recht des korrekten Bürgers auf Waffen­besitz.

In einem Punkt sind sich alle Schützen aus der Kiesgrube und auch die drei Herren Filippini, Mueller und von Burg einig: Die verschärften Waffen­richtlinien seien nutzlos. Weil sie entweder ihren Zweck, die Terrorismus­bekämpfung, verfehlten oder schlichtweg keine Auswirkungen hätten.

Die Schützen werden trotz des Verbots über die administrative Hürde der Sonder­bewilligung ohne weiteres halbautomatische Gewehre und Pistolen kaufen dürfen. Das ist Fakt. Wer einen sauberen Leumund hat, mindestens 18 Jahre alt ist und nachweisen kann, dass er oder sie regelmässig schiesst, kann wie bisher ohne Probleme die halbautomatische Waffe seiner Wahl erwerben.

Friedrich Schiller schreibt in seinem «Wilhelm Tell», auf den sich die Schützen in diesen Tagen oft beziehen, dass zu weit getriebene Strenge, ein zu strenges Gesetz also, den Zweck verfehle: «Allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen.»

Für die Schützen ist die EU-Waffen­richtlinie genau das. Vielleicht ist sie aber auch nur ein Zupfen an der Bogen­sehne.

Wie kaufe ich mir heute eine Waffe?

Wer unter dem heutigen Waffen­recht eine Waffe erwerben will, braucht dazu einen Waffen­erwerbs­schein, der vom zuständigen kantonalen Waffen­büro ausgestellt wird. Einen solchen Waffen­erwerbs­schein erhält in der Schweiz fast jede hier wohnhafte und volljährige Person mit einem sauberen Leumund. Körperliche und psychische Tests sind nicht vorgesehen.

Verboten sind Serie­feuerwaffen, Elektro­schockgeräte und bestimmte Messer­arten. Wer eine solche Waffe erwerben will, braucht dafür eine Sonder­bewilligung, die aber nur sehr schwer zu erhalten ist. Ebenfalls verboten ist das Tragen von Waffen an öffentlich zugänglichen Orten.

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