Daheim unter Mitstreiterinnen: Alexandria Ocasio-Cortez 2017 bei einer «Black Lives Matter»-Demonstration in der South Bronx.

Das Gesicht des linken Amerika

Die Basis ist begeistert, das Establishment pikiert: Wie die junge Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez die US-Politik aufmischt.

Von Stéphanie Le Bars (Text), José A. Alvarado Jr. (Bilder) und Odile Kennel (Übersetzung), 24.04.2019

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Wie so oft hatten sich an diesem Tag Demonstranten vor dem Weissen Haus versammelt, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Ein feuchtkalter Februartag, unter Regen­schirmen und Plastik­umhängen traten die Redner auf und forderten auf Englisch und Spanisch ein Bleibe- und Arbeits­recht für Migranten in den Vereinigten Staaten. Dann tauchte sie auf. Kämpferisch, mit ihrer blauen Mütze über den langen braunen Haaren, ergriff Alexandria Ocasio-Cortez das Mikro, hievte sich auf die Bühne und begeisterte die überschaubare Menge wie schon im Wahl­kampf mit einer improvisierten dreiminütigen Rede auf Englisch und Spanisch.

Wenige Tage zuvor hatte das jüngste Kongress­mitglied vor dem Kapitol und in Anwesenheit einer Armada von Kameras im passend grünen Kostüm mit Ed Markey, dem demokratischen Senator für Massachusetts, einen Green New Deal angekündigt, ein ehrgeiziges, wenn auch vage bleibendes Programm gegen die Klimaerwärmung. Der Name spielt auf den New Deal von Franklin D. Roosevelt an, mit dem der damalige Präsident in den 1930ern die USA aus der Grossen Depression holen wollte.

Drei Wochen später sass Alexandria Ocasio-Cortez im feierlichen Plenar­saal des Abgeordneten­hauses, konzentriert und systematisch ging sie ihre seitenlangen Notizen durch. Ihr Rede­beitrag während der spektakulären Anhörung von Michael Cohen, dem ehemaligen Rechts­anwalt von Donald Trump, wird in die Annalen eingehen für die messer­scharfen Fragen zu möglichen Rechts­brüchen des amerikanischen Präsidenten.

Vor kurzem erst trat die junge demokratische Abgeordnete gut gelaunt und entspannt in der neuen Late-Night-Show der Comedians Desus & Mero auf, zweier stämmiger Typen jamaikanischer und dominikanischer Abstammung, die mit dem Akzent der Bronx spielen und deren Ziel­publikum die Millennials sind.

Die 29-jährige Alexandria Ocasio-Cortez ist die unangefochtene Sensation der US-amerikanischen Politszene, sie hat ein kontrolliertes Qualitäts­siegel (AOC) und versteht sich darauf, allgegenwärtig zu sein.

Seit sie im November in ihrem Wahl­bezirk, einem populären Viertel, das sich von der Bronx bis nach Queens zieht, ins Repräsentanten­haus gewählt wurde, reisst in den USA die Flut der Bilder mit ihr nicht mehr ab. Sie ist auf dem besten Weg, eine Legende zu werden. Noch nie hat jemand in so kurzer Zeit die Aufmerksamkeit von Politik und Medien in einem solchen Mass auf sich gezogen wie Alexandria Ocasio-Cortez, die jüngste je ins Repräsentanten­haus gewählte Abgeordnete.

Die Interview­anfragen an sie und an ihre Berater blieben unbeantwortet. Einem Treffen mit den grossen Traditions­medien zieht sie Auftritte auf den «Bühnen des Alltags» vor, die sie als Abgeordnete tagtäglich betritt, sowie die sozialen Netzwerke und einige unumgängliche Fernseh­auftritte: im Nachrichtenmagazin «60 Minutes» auf CBS zum Beispiel oder in den Late-Night-Shows des Comedians Trevor Noah oder des Satirikers Stephen Colbert.

Ein Kürzel – wie JFK, FDR, MLK

Das Ganze wird ergänzt durch – eher weniger boulevardmässige – Interviews mit «Vanity Fair» und dem «New Yorker» und – eher politische – Aussagen gegenüber dem «Rolling Stone». Dessen Titelblatt teilte sie sich Ende Februar mit zwei weiteren neuen Gesichtern im Repräsentanten­haus: der aus Somalia stammenden Ilhan Omar, der Afro­amerikanerin Jahana Hayes; dabei war auch die demokratische Sprecherin des Repräsentanten­hauses, der 70-jährigen Nancy Pelosi. Für einige konservative Medien wie die Boulevard­zeitung «New York Post» oder den Sender Fox News ist sie das Feindbild Nummer eins, und sie werfen ihr regelmässig ihre «Radikalität» oder ihren Lebensstil vor. «Regelrecht besessen», kontert AOC ironisch und beglückwünscht sich nebenbei für die Resonanz, die ihr politisches Programm dadurch erfährt.

Aus gutem oder schlechtem Grund (einige fanden ihren spanisch­sprachigen Namen «schwierig» auszusprechen) hat sich das Kürzel AOC durchgesetzt – womit sie in die Nähe ihrer illustren Vorgänger im amerikanischen Pantheon rückt: JFK stand für John F. Kennedy, FDR für Franklin D. Roosevelt, MLK für den Baptisten­pastor Martin Luther King. Ihre im linken Partei­flügel verankerten Ideen werden diskutiert, ihre Vorschläge angegriffen, verteufelt oder bejubelt; ihre Kleidung, ihre Vergangenheit, ihr Lebens­gefährte Riley Roberts – ein grosser rothaariger Web­designer, der einige Wochen im Wahl­kampf seiner Verlobten mitarbeitete – werden genauso kommentiert wie ihre Anfängerinnen­fehler oder ein ungestümes Tanz­video aus ihrer Studentinnen­zeit. Eine einmalige Mischung aus provozierender politischer Botschaft und einer eigenwilligen Persönlichkeit.

Kein Thema zu privat, um nicht öffentlich diskutiert werden: AOC mit ihrem Lebensgefährten Riley Roberts.

«Mir ist noch nie jemand so Freches und Kühnes in der amerikanischen Politik wie AOC begegnet», räumt Karlyn Bowman ein, Analystin im konservativen Thinktank American Enterprise Institute. «Sie strahlt etwas Positives und Mitreissendes aus, ist nicht aggressiv.» AOC selbst findet die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwird, masslos übertrieben. «Ich habe einen Vollzeit­job im Kongress, aber darüber hinaus habe ich einen Zweitjob, sei es als Feindbild Nummer eins, sei es als neue Hoffnungs­trägerin für Amerika. Diese unersättliche Hysterie ist gefährlich und erschreckend», sagte sie im Interview mit dem «New Yorker».

Wer sie einmal getroffen hat, wundert sich nicht über ihren kometenhaften Aufstieg. Alexandra Rojas ist eine derjenigen, die Alexandria Ocasio-Cortez «entdeckt» haben. Rojas ist Co-Vorsitzende der Justice Democrats, einer Organisation junger progressiver Demokraten, die sich dem linken Partei­flügel zuzählen, und gehört der kleinen Gruppe an, die 2016 neue und untypische Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkampf zu den midterms, den Zwischenwahlen, schickte.

Die Durchschnitts­amerikanerin

«Wir haben 10’000 Bewerbungen erhalten», sagt Alexandra Rojas, «in Alexandrias Fall hat ihr Bruder die Bewerbung für sie eingereicht. In den Bewerbungs­gesprächen, die wir mit ihr hatten, waren wir sofort begeistert von ihrer Leidenschaft und ihrem unglaublichen Kommunikations­talent.» Mit ihren Erfahrungen verkörpere sie genau die Durchschnitts­amerikanerin aus bescheidenen Verhältnissen. «Und genau diesen Typ», sagt Rojas, «suchten wir, denn der ist im Kongress nicht vertreten. Vor allem entsprachen ihre engagierten Ideen aber auch tatsächlich ihren Erfahrungen.»

Ihre puerto-ricanische Abstammung widerspricht dem gesuchten Profil nicht. Im Gegenteil. Jung, weiblich, Latina: AOC verkörpert bestens den demografischen Wandel bei den Wählern der Demokraten und macht zugleich die Schwierigkeit der Republikaner deutlich, dieses Publikum zu erreichen.

Zeichen dieses Wandels ist es auch, dass sich Alexandria Ocasio-Cortez in ihrem New Yorker Arbeiter­viertel gegen ein Urgestein ihrer Partei durchgesetzt hat – einen Mann, weiss, in den Fünfzigern –, der seit fast dreissig Jahren seinen Wahlbezirk im Repräsentanten­haus vertrat. Die «blaue Welle» (der Demokraten) hat nicht nur AOC in den Kongress gebracht, sondern auch weitere beispiellos diversifizierte Kandidaten: jünger als vierzig Jahre, unterschiedlichster sozialer und ethnischer Herkunft und unterschiedlicher sexueller Orientierung.

Doch im Gegensatz zu dem, was einige ihr vorwarfen, als sie die politische Bühne betrat, ist sie weit mehr als ein schön anzusehendes Marketing­produkt. So hat sie bisher keinen Anlass zu Polemiken gegeben – anders als beispielsweise ihre junge Kollegin Ilhan Omar, um die eine Kontroverse über antisemitische Äusserungen entbrannt ist; oder Rashida Tlaib, die die Amtsenthebung des «motherfucker» Donald Trump forderte und damit auf heftige Kritik stiess.

Und im Gegensatz zu vielen anderen «Neuen» hat sich AOC nicht lange bitten lassen, sondern ist durchgestartet und hat sich Gehör verschafft. «Klar ist sie fotogen», räumt der Politologe William Galston vom Thinktank Brookings Institution nicht ohne Understatement ein. «Aber vor allem ist sie intelligent und lernt schnell.» Wenn sie davon spricht, soziale und ethnische Ungleichheit zu bekämpfen, oder an die ökologische Dringlichkeit erinnert, «scheint sie eins mit ihrer Botschaft zu sein, und mit dieser Authentizität kann sie es weit bringen. Zumal sie auf eine zupackende Art Sorglosigkeit, Fröhlichkeit, Unerschrockenheit ausstrahlt.» Und sie ruderte beispielsweise zurück, nachdem sie sich mit der Sprecherin der Demokratischen Partei im Repräsentanten­haus, der unantastbaren Nancy Pelosi, angelegt hatte, «und bewies somit politisches Feingefühl».

«Intelligent, forsch, ehrlich»

Sogar ihre Gegner geben zu, dass sie eine aussergewöhnliche Persönlichkeit hat. Für Steve Bannon, den ultrakonservativen ehemaligen Berater von Donald Trump, hat AOC eine unglaubliche Durchsetzungs­kraft, «eine Mischung aus Mut, Entschlossenheit, Kampfgeist, die man nicht lernen kann. Das hat man, oder man hat es nicht. Und sie hat es, und wie!», hat er der Zeitschrift «Politico» gegenüber verlauten lassen.

Intelligent und forsch, so charakterisieren sie auch Naomi Burton und Nick Hayes, zwei «sozialistische Filmemacher» aus Detroit, die sich in AOCs Wahlkampf engagiert haben. Sie teilen mit dem New Yorker Shootingstar die politischen Netzwerke und wurden durch Facebook auf sie aufmerksam. Begeistert von «der Ehrlichkeit ihrer Botschaften» boten ihr die zwei Aktivisten, die sich «für die Arbeiterklasse einsetzen», umgehend ihre Dienste an. Einen Monat und ein paar gemeinsame Biere später war die zweiminütige Werbekampagne für ihre Kandidatur fertig: Sie prangert darin die Macht des Geldes und die Gentrifizierung in New York an, tauscht auf dem Bahnsteig einer Metrostation ihre Mokassins gegen hochhackige Schuhe und isst zu Abend mit ihrer Familie.

Der Clip erreichte fast eine Million Zuschauer. «Wir sind dieselbe Generation, wir sind in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen, wir haben sofort gespürt, dass sie keine Probleme hat», sagen Burtin und Hayes, «ihr Projekt und ihre persönliche Geschichte zu verbinden.» Dann fügen sie geradezu schwärmerisch an: «Sie ist eine echte Sozialistin! Ausserdem ist sie eine hervorragende Rednerin, die sich von keinem Mikro einschüchtern lässt.»

Es gab ein Leben vor dem Kongress: AOC hinterm Tresen einer Bar in Manhattan.

In den letzten zwei Jahren hat AOCs Leben eine rasante Wendung genommen. Die ehemalige Kellnerin der Tapas-Bar Flats Fix in Manhattan fand sich quasi über Nacht im Zimmer 229 des amerikanischen Kongresses wieder. Ihr kometenhafter Aufstieg sagt viel aus über unsere Zeit, über den Hunger nach neuen Gesichtern, das Bedürfnis nach Stars und die unvergleichliche Macht der sozialen Netzwerke. Doch die noch übersichtliche Biografie der jungen Abgeordneten liefert auch ein paar Erklärungen für ihren ungewöhnlichen Weg.

Sie wuchs in der Bronx in bescheidenen Verhältnissen und einer Familie mit einem ausgeprägten Klassen­bewusstsein auf und beteiligte sich früh an politischen Diskussionen. Ihre Mutter kam erst als Erwachsene von Puerto Rico in die USA und sprach kaum Englisch, als sie AOCs Vater heiratete. Er selbst war ein Kind der Bronx und puerto-ricanischer Herkunft. Eine Identität, die für AOC von der ethnischen Vielfalt der Bronx zeugt.

Nachdem ihr Vater seine Ausbildung als Architekt beendet hatte, kaufte er ein kleines Haus in einem New Yorker Vorort. Der Umzug ermöglichte der fünfjährigen Alexandria eine bessere Schulausbildung, als es in der Bronx möglich gewesen wäre. Sie entkam dem regelmässig von ihr angeprangerten Stigma «der Postleitzahl, die dein Schicksal bestimmt».

Während sie an der Boston University ein glänzendes Studium der Wirtschaft und internationalen Beziehungen absolvierte, starb ihr Vater. Die finanzielle Lage ihrer Familie war bald so prekär, dass die Räumung des Hauses drohte. Jahrelang arbeitete ihre Mutter als Putzfrau, Schulbus­fahrerin und Sekretärin, dann zogen sie nach Florida, wo die Lebenshaltungs­kosten geringer sind. Alexandria jobbte neben ihrem Studium. In der amerikanischen Presse werden Studienkollegen zitiert, die sich daran erinnern, dass sie ein Stipendium hatte und verschuldet war und bei Diskussionen auf dem Campus bereits durch ihren Sinn für Dialektik und ihre Eloquenz auffiel.

Zurück in der Bronx

Mit gerade mal 19 Jahren machte sie dank ihrer Spanisch­kenntnisse ihre ersten Erfahrungen in der Politik und unterstützte den demokratischen Senator Ted Kennedy einige Monate lang bei Einwanderungs­fragen. Im Anschluss daran war sie 2008 Freiwillige im Wahlkampf von Barack Obama. Sie kehrte zurück in die Bronx, ihr multiethnisches Viertel, in dem eine eher arme Bevölkerung aus Afro-Amerikanern, Asiaten und Latinos lebt, die neben jungen New Yorkern auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum ist. Das ideale Milieu, um progressive Ideen auszuprobieren und Bürgerschafts­initiativen zum Thema Bildung ins Leben zu rufen. Aus einem inzwischen gefestigten politischen Bewusstsein heraus entschied sie sich vor den Wahlen 2016 für Bernie Sanders und gegen die demokratische Kandidatin Hillary Clinton.

Ihre Erfahrungen mit dem oft brutalen Arbeitsmarkt haben ihre politische Haltung für mehr soziale Gerechtigkeit, einen anständigen Mindestlohn, eine allgemeine staatliche Kranken­versicherung und kostenlose Universitäten noch gefestigt. Also ganz im Sinne des Programms ihres Mentors Sanders, das sie, gecoacht von den Mitgliedern der Justice Democrats, im Wahlkampf zu den Zwischenwahlen von 2018 zu ihrem eigenen machte.

Vielleicht trägt aber auch ein gewisses Bedürfnis nach Rache zur Motivation bei, über sich selbst hinauszuwachsen und «Türen zu öffnen». Denn neulich gab sie vor mehreren hundert Jugendlichen während einer Veranstaltung für Geschlechter­gerechtigkeit in New York zu: Sie habe es als «totales Versagen» empfunden, einen Brotjob nach dem anderen annehmen zu müssen angesichts der Erwartungen und Opfer ihrer Familie.

Von Beginn ihrer politischen Karriere an setzte AOC auf eine äusserst wirksame Waffe: Sie inszenierte ihr Leben als working girl in den sozialen Netzwerken. Sie machte aus Twitter (4 Millionen Follower) und Instagram (2,7 Millionen) ihr bevorzugtes Werkzeug, um ihr Publikum direkt anzusprechen. Jede Woche kommen auf ihrem Twitter-Account noch durchschnittlich 200’000 Follower dazu. Mehrmals am Tag aktualisiert sie ihre Timeline. «Sie ist ohne die Hilfe der grossen traditionellen Medien bekannt geworden», unterstreichen Naomi Burton und Nick Hayes.

Integrationsfigur zum Anfassen: AOC nach ihrer Wahl in den Kongress mit einem Fan.

Die Selfies in der Küche, auf denen sie Familien­rezepte verrät; die Videos von den spontanen und immer herzlichen und wohlwollenden Begegnungen mit den «Leuten auf der Strasse»; ihre oft humorvolle Art, mit der sie auf Angriffe auf ihr Privatleben oder ihre Überzeugungen reagiert; ihr schallendes Lachen und ihre provozierenden Sprüche wie «Climate delayers are the new climate deniers» («Wer Umwelt­massnahmen ausbremst, ist der neue Klimaskeptiker»), sind längst zu ihrem Markenzeichen geworden.

Ihr Redebeitrag während einer Anhörung über die Finanzierung des Wahlkampfs von Trump wurde 40 Millionen Mal auf Twitter angeklickt, ein absoluter Rekord für ein politisches Video. Lächelnd zeigt AOC die Verfehlungen eines Systems auf, das vor allem den Reichsten im Lande dient, indem sie als potenzieller bad guy nachvollziehbar macht, wie stark der Einfluss von Lobbys über Partei­finanzierungen ist. «Sie verwendet die sozialen Netzwerke auf ziemlich intelligente und witzige Weise», sagt Karlyn Bowman. Und so gab AOC Anfang Januar, nur wenige Tage nachdem sie mit ihrem Freund nach Washington gezogen war, ihren älteren Kollegen im Repräsentanten­haus einen Schnellkurs im Umgang mit Twitter.

«Sie weiss genau, wie sie es anstellen muss, immer im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit zu stehen. Und dank der sozialen Netzwerke ist sie nicht allein, sie hat eine ganze Armee hinter sich. In dieser Hinsicht hat sie vieles mit Trump gemeinsam, der zum Meister der neuen Kommunikations­formen aufgestiegen ist», bestätigt William Galston. Doch der Vergleich endet nicht bei der Verwendung der sozialen Netzwerke. «Wie Trump nimmt auch sie sich die Freiheit, zu sagen, was sie denkt», fügt der Politologe hinzu. Sie fürchtet sich auch nicht davor, führende Köpfe ihrer Partei und die traditionellen Medien anzugreifen oder mit einem populistischen Diskurs zu liebäugeln.

«Stalins unerfüllter Traum»

Dass sie allgegenwärtig ist und sich in den politischen Debatten so schnell durchsetzen konnte, hat ihr nicht wenige Feinde eingebracht, sowohl im eigenen politischen Lager als auch bei den Republikanern. Nancy Pelosi hat ihr Green-New-Deal-Projekt als «Traum» bezeichnet. Die darin vorgesehenen Massnahmen, die gleichermassen den Klimawandel wie soziale Ungerechtigkeit bekämpfen sollen, bleiben in der Tat vage, vor allem, was ihre Finanzierung betrifft. Doch das Projekt hat ökologische Fragen ins Zentrum der Debatten gerückt. Bei den Konservativen macht man sich heute eher über sie lustig, als dass man sie politisch kritisieren würde.

Auf seine unvergleichliche Art hat Präsident Trump suggeriert, die in AOCs Projekt prominent behandelten erneuerbaren Energien hätten die Abschaffung von «Flugzeugen und Strom» zur Folge. «Sobald Windstille herrscht, könnt Ihr nicht mehr TV schauen», hat er Anfang März vor einer Menschen­menge begeisterter Republikaner gerufen. Sebastian Gorka, einer seiner ehemaligen Berater, hat noch eins draufgesetzt: «Sie wollen euch eure Pick-ups wegnehmen. Sie wollen eure Häuser neu bauen. Sie wollen euch eure Hamburger wegnehmen. Das ist Stalins unerfüllter Traum.»

Dass sich Alexandria Ocasio-Cortez als Sozialistin versteht, ist für ihre Gegner der bevorzugte Angriffspunkt. Sie setzen Sozialismus mit Kommunismus gleich, obwohl sich AOC ganz klar auf einen «demokratischen Sozialismus» beruft, und rücken in ausgiebigen Berichten auf Fox News die «Radikalität» ihrer Forderungen in den Mittelpunkt. Das SXSW-Festival gilt als Leistungsschau des Silicon Valley. Dass sie hier bei ihrem Auftritt behauptet hat (ab der 56. Minute im Video), Roboter würden «Arbeitern mehr Freizeit erlauben, um kreativ zu sein, sich zu bilden oder ins All zu fliegen», hat ihr so manchen ironischen Kommentar von Fernseh­moderatoren eingebracht, die ihr vorwarfen, «lächerlich» und von der Politik «abgehoben» zu sein. Karlyn Bowman ist sich sicher, dass ihre «Forderungen keine Zukunft haben und dass man schnell bemerken wird, dass nicht alles, was glänzt, Gold ist». «Die Demokraten laufen Gefahr AOCisiert zu werden», schreibt die rechtspopulistische Website «Breitbart News». «Wenn sie weiterhin so ungeduldig und unüberlegt diesen extrem linken Thesen zustimmen, haben sie am Ende keinen wählbaren Kandidaten [für 2020].» Und das würde eine Wiederwahl Trumps ermöglichen, wurde hinzugefügt.

«Donald Trump hat verstanden, dass AOC für ihr eigenes Lager zum Problem werden könnte», sagt William Galston. «Sie verortet sich im linken Spektrum ihrer Partei, das Sanders für seinen Wahlkampf 2016 mobilisiert hat. Aber, und das sage ich ohne Herablassung, sie muss vorsichtig sein: Ihre Jugend und ihre mangelnde Erfahrung können ihr zum Problem werden. Wie zum Beispiel der ungenügend vorbereitete Green New Deal, der klingt, als hätten ihn ein paar junge Dissidenten im Keller ihrer Eltern verfasst.»

Willkommen in der neuen Welt: Alexandria Ocasio-Cortez an ihrem ersten Tag im Büro des Kapitols.

Die unablässigen Angriffe Trumps, seiner Familie und seiner Verbündeten gegen AOC sollen also vor allem der Demokratischen Partei für die Präsidentschafts­wahl 2020 schaden. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Einer der Trump-Söhne, Donald Jr., veröffentlichte im Dezember eine Foto-Montage mit AOC, die nahelegte, dass, im Gegensatz zu den sozialistischen Ländern, «die Menschen hier mit ihren Hunden spazieren gehen wollen, anstatt sie zu essen». Die bissige Antwort von AOC auf Twitter liess nicht auf sich warten: «Machen Sie nur weiter so, Jr. – es zeugt wirklich von einem ‹äusserst grossen Verstand›, das Mitglied einer Institution anzugreifen, das in einem Monat ermächtigt sein wird, Vorladungen auszusprechen.» In ihrem Interview mit dem «New Yorker» griff sie auch den Vater an: «Ich kann verstehen, dass Trump verärgert darüber ist, dass eine 29-jährige Latina, und dann auch noch die Tochter einer Putzfrau, an den Ermittlungen über seine finanziellen Transaktionen beteiligt ist. Ich denke, er empfindet es nicht nur als Angriff, sondern auch als Beleidigung.»

Inzwischen werden fast alle von AOC und Bernie Sanders vertretenen Themen bei den Demokraten diskutiert, ob sie es wollen oder nicht – sei es die Klima­erwärmung, die Durchsetzung eines Mindestlohnes oder die allgemeine staatliche Kranken­versicherung. Ihr Vorschlag, Einkommen über zehn Millionen Dollar mit siebzig Prozent zu besteuern, mag von den Konservativen als Ketzerei verurteilt worden sein, entspricht aber durchaus der öffentlichen Meinung, die Reiche mehr zur Kasse bitten möchte.

Chance und Bedrohung für die Demokraten

AOC wird auch von Wirtschaftsnobelpreis­träger Paul Krugman unterstützt. Er bezeichnet diejenigen, die die diplomierte Wirtschafts­wissenschaftlerin der Dummheit beschuldigen, als «sexistisch und rassistisch». «Welcher verantwortliche Demokrat wagt es heute noch öffentlich zuzugeben, dass er gegen eine staatliche Krankenversicherung für alle ist?», begeistern sich auch Naomi Burton und Nick Hayes, die es «kaum fassen» können, dass die Präsidentschafts­kandidaten der Demokraten für 2020 jetzt daran gemessen werden, wie «sozialistisch» sie sind. Einige haben bereits angekündigt, den «Geist» des Green New Deal zu unterstützen, zumindest auf dem Papier.

«AOC ist zugleich eine Chance und eine Bedrohung für die Demokraten», fasst Galston zusammen. «Wenn es der Partei gelingt, ihre Energie und die Anziehungskraft, die sie auf junge Wählende ausübt, zu kanalisieren, ist sie das Ass im Ärmel der Partei. Wenn nicht, kann sie zur Gefahr werden.»

Sie tanzt nicht wirklich aus der Reihe, aber auch nicht in der Reihe und will ihre Partei ernsthaft aufrütteln. Ihre Freunde von Justice Democrats setzen auf eine altersmässige und (links-)ideologische Erneuerung bei den demokratischen Abgeordneten. Die gemässigten oder alteingesessenen Abgeordneten werden, da sind sie sich sicher, dem «Macht-mal-Platz-Phänomen» weichen müssen, das AOC bereits in den Kongress katapultiert hat.

Offenbar ermuntert durch ihre ersten Wochen in Washington, hat sich AOC sogar zur «Kontrollinstanz» aufgeschwungen und angekündigt, sehr genau auf das Abstimmungs­verhalten ihrer Kollegen achten zu wollen. Überparteiliche Kompromisse sind in ihren Augen und den Augen ihrer Anhänger unannehmbar und verurteilenswert. Das hat etwas von Robespierre und wird von den Demokraten, die schon immer zwischen zahlreichen Strömungen hin- und hergerissen waren, nicht besonders geschätzt. Aber vorerst kann sie sich der Unterstützung durch die einflussreiche Nancy Pelosi sicher sein, denn die Sprecherin des Repräsentanten­hauses weiss, welchen Trumpf AOC hinsichtlich einer neuen Wählergeneration darstellt.

Alexandria Ocasio-Cortez wird in ihrer Haltung von den meisten ihrer Berater unterstützt, die vom linken Flügel der Partei kommen. Sie haben oft untypische Profile, stammen meist aus der Arbeiterklasse und sind unterschiedlichster ethnischer Herkunft. Sie scheinen sich über die bisher geltenden Regeln der Washingtoner Politik hinwegsetzen zu wollen. Eine Philosophie, die AOC bei einem Treffen mit jungen New Yorkerinnen so zusammenfasste: «Wenn du siehst, wie weisse Typen die Welt regieren, denkst du, ich muss handeln wie ein weisser Typ. Aber das Modell ist nicht für dich gemacht, du kannst dich anstrengen, sosehr du willst, du wirst es niemals so gut hinbekommen wie jemand, der da hineingeboren wurde. Du musst also eigene Wege gehen. Mutig zu sein, bringt oft mehr, als immer perfekt sein zu wollen.»

Konzentriert und diszipliniert: AOC bereitet sich zu Hause auf eine Rede vor.

In AOCs Diskurs und Lebensweg sehen die unter 30-Jährigen ihr eigenes Leben gespiegelt. «Die während der 2008er-Krise gross gewordene Generation erkennt sich in ihr wieder», bestätigt Alexandra Rojas und verweist auf die extrem hohen Studienkosten, die Frage der allgemeinen Kranken­versicherung oder die ökologischen Probleme, die die Millennials beschäftigen. «Der Kapitalismus ist in dieser Altersgruppe weniger populär als der Sozialismus», bestätigt William Galston.

An einem eiskalten Februar­abend versammeln sich Menschen vor der Electric Avenue Arcade in Manchester (New Hampshire). Sie hören Cory Booker zu, einem der potenziellen Präsidentschafts­kandidaten des progressiven Flügels der Demokraten für 2020. Aber wählen würden die Zuhörenden ganz ohne Zweifel AOC – wenn die nur dann schon das für eine Kandidatur erforderliche Alter von 35 bereits erreicht hätte …

«Alexandria ist endlich mal jemand, der uns wirklich vertritt. Zurzeit ist sie unsere Superheldin, sie ist ehrlich, direkt, und sie stellt die richtigen Fragen», sagt der 24-jährige Lehrer Aaron Newman begeistert. «Sie hat sogar den Sozialismus wieder populär gemacht, und allein das Wort ist in den USA schon ein Tabu.» Der 28-jährige Mikey Leviss, der «von einem Job allein nicht leben kann», ergänzt: «Sie ist ein bisschen wie die demokratische Version von Trump. Es ist ihr egal, was die anderen denken, sie mischt das Establishment auf, hat neue Ideen, das ist cool.»

Die 18-jährige Angela Garozzo, «Studentin und Sozialistin», hat noch nie gewählt. Doch ihre politische Meinung ist klar. Zum Beweis zückt sie stolz ihr Telefon: Als Bildschirm­hintergrund prangt dort ein Foto von Bernie Sanders. «Wenn AOC sich aufstellen lassen könnte, wäre sie meine Kandidatin», lacht sie und findet es absurd, dass jemand «als ‹radikal› bezeichnet wird, nur weil er das Klima, den Mindestlohn, kostenlose Universitäten, Gesundheit für alle und die Macht des Volkes verteidigt». Selbst Cory Booker ist voll des Lobes: «AOC hat Gewicht in der Diskussion, sie hat Ideen, sie vermag es, die Leute zu interessieren, sie ist auf keinen Fall eine Bedrohung für die Partei», versichert der Senator am Ende der Versammlung im Videospielcenter in Manchester und spielt eine Runde «Pac-Man».

Doch auch die Älteren schätzen AOCs Qualitäten. Sicher, viele setzen darauf, dass sie «reifer» wird und lernt, «realistischer zu sein». Aber alle sagen ihr eine zentrale Rolle in der Demokratischen Partei und im Wahlkampf von 2020 als Unterstützerin eines Kandidaten oder einer Kandidatin voraus.

Den 61-jährigen George Lichte treffen wir in einer Kirche in Portsmouth (New Hampshire) nach einer der ersten Wahlveranstaltungen von Kamala Harris, einer weiteren möglichen Kandidatin für die Demokraten. Er freut sich über den frischen Wind, den AOC in die Partei bringt. «Sanders ist kein Mitglied der Demokratischen Partei. Sie schon, und das ist gut. Dass wir so eine Vielfalt an Ideen haben, macht die Stärke unserer Partei aus.»

Alexandria Ocasio-Cortez hat den ersten Akt ihrer politischen Karriere ganz ohne Zweifel erfolgreich hinter sich gebracht. Sollten sich «ihre» Ideen und «ihr» Kandidat im kommenden Wahlkampf durchsetzen, kann sie die Früchte des zweiten Aktes geniessen. Und warum sollte sie dann nicht den dritten Akt 2024 anvisieren? Dann wird sie gerade alt genug sein für den Kampf um das Amt des amerikanischen Präsidenten.

Dieser Artikel erschien zuerst in «M Le magazine du Monde». Er wurde aus dem Französischen übersetzt.

Anmerkung: Eine frühere Version enthielt mehrere Übersetzungsfehler. So war zunächst zu lesen, Ocasio-Cortez wolle Vermögen über zehn Millionen Dollar mit siebzig Prozent besteuern. Das ist falsch. Ihr Vorschlag betrifft das Einkommen. Ausserdem wurde Nancy Pelosi als Vorsitzende der Demokratischen Partei bezeichnet. Sie ist Sprecherin der Demokraten im Repräsentanten­haus.

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