Sehfeld

Gratisbilder, Gratisgefühle

Von der Camera obscura zum Smartphone: Die Fotografie ist ein banaler Gebrauchsgegenstand geworden, ausgenutzt und gelöscht.

Von Urs Stahel, 23.04.2019

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Die technische Entwicklung ist eindrücklich. Vor 200 Jahren war es nicht möglich, den Niederschlag der Welt auf Material, auf einer Oberfläche festzuhalten. Das Prinzip der Camera obscura war schon jahrhundertelang bekannt, das Fixieren hingegen nicht. Wir schreiben die erste Fixierung dem Privatgelehrten Joseph Nicéphore Niépce zu, seinem Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers im Gutshof Le Gras. Eine Heliografie von 1826, erstellt mit einer Belichtungszeit von acht Stunden, belichtet auf Asphalt, fixiert mit Lavendelöl.

Danach kam Daguerre. Er liess 1839 sein Prinzip der Daguerreotypie vom französischen Staat patentieren, Unikate auf spiegelglatt polierter Metalloberfläche, im Dunst gefährlicher Dämpfe entwickelt. Gleichzeitig schuf in England W. H. F. Talbot die ersten «Photogenen Zeichnungen», zusammengefasst im umfangreichen, erstaunlichen Werk «The Pencil of Nature», das erste Negativ-Positiv-Verfahren der Fotogeschichte, später Kalotypie genannt, das die Vervielfachung der Fotografie über das Negativ ermöglichte. Die Botanikerin Anna Atkins wiederum, die erste Frau im dichten Männerfeld, schuf die allererste Fotopublikation im zauberhaften Blau der Zyanotypie, der Blaupause, wie wir es auf Deutsch salopp sagen.

Die ersten Kameras und Verfahren wurden von den Fotografen selbst hergestellt, konfektionierte Apparate gab es noch nicht. Der Aufwand war riesig und kostspielig. Roger Fenton sehen wir im Krimkrieg mit Pferd und Wagen der Front entlangziehen. Im Wagen wurden die grossen Platten mit nassem Asphalt belegt, nass mussten sie auch beim Belichten sein.

Fotografische Porträts waren zwar billiger als Porträtmalerei, aber doch so teuer, dass der Franzose André Adolphe-Eugène Disdéri begann, die fotografische Platte in zwölf oder mehr Teile zu unterteilen. 1888 schliesslich brachte George Eastman seine Kodak-Kamera auf den Markt, warb mit dem Slogan: «You press the button, we do the rest» und machte dadurch den Rollfilm und die Amateurfotografie populär.

Von da an werden Kameras immer kleiner. Leica erfand 1914, 1925 und 1932 in drei Schritten die Kleinbildkamera und den Kleinbildfilm. Statt Glasplatten von 18×24, 20×30 oder noch mehr Zentimetern Grösse waren die Negative nun 24×36 Millimeter klein und die Belichtungszeit unendlich kurz. Filme, Prozesse, Kameras wurden standardisiert, das Fotografieren wurde so schrittweise deutlich billiger. Das wars für lange.

Mit der Digitalisierung der Fotografie verschwand der analoge, material- und chemiereiche Prozess (und Kodak als König der analogen Fotografie). Google, Facebook, Whatsapp, Instagram sind die neuen Schaltstellen und Vertriebs­zentralen. Fotografie ist nun gratis zu haben. Fast jedenfalls, wenn sie auf dem Screen angeschaut, und billig, wenn sie selbst geprintet wird. Gratis auch im schnellen Transport um den Erdball, ausser man zählt, im Zustand seltener Klarheit, als Gegenleistung die Preisgabe des Privaten dazu. Die Sensoren in vielen Kameras und allen Smartphones sind winzig klein, dafür meist nun überwachbar.

Dieser linearen Entwicklung folgte auch das fotografische Bild. Fotografie ist ein Zeige-, ein Vorzeigeinstrument. Kaum war ihr Prinzip entdeckt, ihr Verfahren erfunden, wurde hier etwas fotografiert, um es dort zu zeigen. Draussen in der Welt, in der «Fremde», wird fotografiert, um es zu Hause vorzuführen, der anderen, der eigenen sozialen Klasse zu präsentieren. Maxime Du Camp fotografierte schon früh Ägypten und brachte das sagenumwobene Land, die Pyramiden, aber auch die Inschriften als kostbares Fotoalbum auf den französischen Bürgertisch.

Die ersten Fotografien zeigen die Welt weitgehend ruhig und ganz, aus gebührender Distanz. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten störte diese Ruhe, griff ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie entdeckt jetzt das Versunkene, Verborgene, entdeckt den Schnappschuss, der Unverhofftes zeigt: den Bettler am Strassenrand, das Liebespaar beim Kuss, den Milchtropfen beim Aufprall, eine Frau treppensteigend, ein Körper, der sich zerdehnend offenbart.

Neue Filmmaterialien, grosse Teleobjektive, elektronische Nachtsichtgeräte stören sowohl die Intimität von Filmstars als auch die Unberührtheit des Weltalls. Mit den elektronischen Möglichkeiten wird der Zeigegestus total, und zugleich offenbart sich erstmals scharf, dass das Forschen und Entdecken – von Dingen, von Verhältnissen –, das dem fotografischen Tun edel um den Hals gelegt wird, nur die geringere, die matte Seite der Medaille ist, die glänzende hingegen ist das Zeigen und Vorzeigen: Hier, schaut her, was ich euch zeige, was wir euch zu bieten haben. Die gebührende, anständige Distanz zur Welt, zum Gegenüber verschiebt sich schrittweise zu einer schamlosen, ätzenden Nähe.

Was bedeutet das für das Bild, das fotografische Bild? Und was für die mögliche Rückkopplung auf die Erfahrung der Welt, für das eigene Leben? Ist diese Entwicklung auch so eindrücklich wie technische Revolution? Die Geschichte der Fototechnik und Videotechnik ist nur ein Strang dieses gierigen Strudelns von Distanz zu Nähe, von teuer zu billig, von langsam zu schnell, des Hervorzerrens des Privaten an die Öffentlichkeit, des Privatisierens der Öffentlichkeit; sie ist der offensichtliche Strang, an dem sich ablesen lässt, wie sich eine ganze Gesellschaft schrittweise pornografisiert, das heisst «entheiligt», verdinglicht, reduziert, beschleunigt und kommerzialisiert. Alles in grosser Geschwindigkeit. Die Kameras, nun stecknadelgross, finden den Weg in jede Spalte.

Wir leben mit zahlreichen Verschiebungen. Erotik im Bild? Nur noch als Transportmittel in der Werbung zu haben. Das fotografische Dokument? Mehr Überwachung als aufklärerische Entdeckung. Der Beruf des Fotografen: tot, denn Fotos sind gratis zu haben. Populäre Foto­ausstellungen? Genau, das steigert die Besucherzahlen enorm (das Museum für Gestaltung in Zürich praktiziert das seit Jahren auf unangenehme Weise erfolgreich). Hast du das Foto gesehen? Sorry, schon wieder gelöscht. Der Umgang mit komplexen, dichten, symbolhaltigen Bildinhalten: nichts für mich. Gratisbilder? Ja. Gratisgefühle? Hier.

Die Fotografie hat sich vom Haustier zum Nutztier verwandelt. Sie ist für viele ein reiner, banaler Gebrauchsgegenstand geworden, (aus-)genutzt und gelöscht. Bildschirmdicke gleich Bedeutungstiefe. Natürlich gibt es immer Künstlerarbeiten, die auf interessante, differenzierte Weise diesen Bildzustand diskutieren. Aber die Ausdünnung schreitet fort, fort, fort. Slow Photo als Therapie greift bis jetzt noch kaum. Wie alle anderen Versuche der Verlangsamung auch. Konzentration und Fokussierung haben einen schweren Stand in den Bildwelten von heute.

Illustration: Michela Buttignol

Zum Autor

Urs Stahel ist international anerkannt als einer der führenden Fotografieexperten. Er war Mitgründer und von 1993 bis 2013 Direktor des Fotomuseums Winterthur. Heute ist er Kurator der Fondazione MAST in Bologna. Stahel ist Kurator zahlreicher Ausstellungen und Herausgeber sowie Autor verschiedenster Publikationen im Feld der Fotografie.

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