Am Gericht

Die Verfolgte

Wer sich vor dem Strafrichter gegen einen Stalker wehrt, braucht eine dicke Haut – jedes Wort, jedes verschickte Emoji, jede Handbewegung des Opfers wird hinterfragt.

Von Sina Bühler, 17.04.2019

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Ort: Kreisgericht St. Gallen
Zeit: 8. April 2019, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: ST.2017.19807
Thema: Nötigung, Belästigung, Drohung etc.

Die Verhandlung ist kaum auszuhalten. Eine Frau, die mutmasslich über Wochen hinweg massiv gestalkt worden ist, die sagt, sie sei bedroht, sexuell belästigt, genötigt und mit Drogen gefügig gemacht worden, muss vor Gericht immer und immer wieder die gleichen Fragen beantworten. Meist geht es nur um eines: ihre allfällige Mitschuld, ein eventuelles Einverständnis, ob alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Natürlich, es ist die Pflicht des Richters, hartnäckig zu fragen, einem unklaren, bestrittenen Sach­verhalt auf den Grund zu gehen. Aber: Wer als Opfer ein solches Prozedere über sich ergehen lassen muss, braucht eine dicke Haut.

Die Frau antwortet klar und ruhig, reflektiert ihr Verhalten, gesteht auch Fehler ein. Bei der Befragung ist ihr mutmasslicher Stalker im Nebensaal, kann per Video hören, wie sie antwortet. Sieht, wie die 33-jährige, berufstätige und alleinerziehende Mutter mit geradem Rücken direkt in die Kamera blickt. Sie ist eine Schweizerin mit somalischen Wurzeln, elegant in Schwarz gekleidet, ihr Kopftuch hat sie zu einem modischen Knoten gebunden.

Der Beschuldigte ist ein 44-jähriger Türke, der schon lange in der Schweiz lebt. Ein kleiner Mann mit fahler Haut, eingefallenen Augen, in einem bordeaux­farbenen Sweater und ausgeleierten Jeans. Sein Kopf fällt immer wieder nach vorne, als wäre er eingeschlafen. Der Mann ist seit Jahren drogensüchtig, in einem Methadon­programm, verschuldet und lebt von der IV. Laut der Staats­anwältin besteht sein Dossier beim Migrations­amt zu drei Vierteln aus der Dokumentation seiner Straftaten, bereits zweimal wurde ihm ein Landes­verweis angedroht.

Die Frau und die Staats­anwältin werfen ihm Belästigungen, Drohungen und Nötigungen vor. Er habe ihr aufgelauert. Habe ihr gedroht, er werde Sex­videos von ihr veröffentlichen, greife sie mit Säure an, bringe sie und ihre kleine Tochter um.

Wenige Wochen zuvor hatte es freundschaftlich begonnen. Die Frau erzählt vor Gericht, wie sie sich erstmals an einer Bus­haltestelle im gemeinsamen Wohn­quartier treffen und kurz darauf nochmals. Sie reden, tauschen die Telefon­nummern aus. «Warum?», fragt Gerichts­präsident Tom Frischknecht. Die Frage wirkt aggressiv. «Wir redeten, ich habe mir nichts dabei gedacht», antwortet die Frau. «In welcher Beziehung standen Sie zueinander?», fragt Frischknecht weiter. «In gar keiner!», ruft sie in den Saal. Sie sei einfach neutral eingestellt gewesen. Wenn sie Leute kennenlerne, müsse sie doch nicht im Vorfeld darüber nachdenken, wie es ausgehen könnte.

Sie treffen sich ein paar Mal, auch zum Essen bei ihm zu Hause. Immer rein freundschaftlich. Das habe sie ihm auch von Anfang an klargemacht. Es gibt Belege, entsprechende Whatsapp-Nachrichten. Sie sei nie allein mit ihm gewesen, ihre Tochter und manchmal eine Kollegin waren stets mit dabei. «Er sagt, Sie hätten Sex mit ihm gehabt», meint der Richter. Sie antwortet: «Stimmt nicht. Er begann das zu erzählen, als ich den Kontakt abbrechen wollte.»

Der 44-Jährige droht, er habe Videos und Fotos. Schreibt ihr: «Man sieht alle Stellungen auf dem Sofa, soll ich das veröffentlichen?» Sie antwortet mit zwei tränen­lachenden Smileys. Der Richter will eine Erklärung dafür. Sie sagt: «Er log, ich wollte ihm damit sagen, dann zeig das doch!» Sie habe doch gewusst, dass es solche Aufnahmen nicht gäbe.

Der Richter will das mit den Smileys jedoch genauer wissen. Sie erzählt nun, sie sei verletzt gewesen, habe sich aber stark zeigen wollen. «Ich war eine verletzte Frau», wiederholt sie und stellt die Gegenfrage: «Was hätte ich sonst zurückschreiben sollen?» Der Richter antwortet nicht, sondern fragt weiter: «Sie schickten Emojis mit Kussmund und Herzchen, nachdem er schrieb: Danke, mein Schatz, ich liebe dich.» Sie habe einen Fehler gemacht, antwortet sie. Und weiter: «Wissen Sie, heutzutage, mit diesen Emojis, ist es nicht so gemeint, wie es aussieht.»

«Ich habe den Eindruck, dass Sie manchmal sehr zugänglich sind, dann wieder abweisend», sagt der Richter. Sie erwidert in aller Ruhe: «Die Anzahl der Nachrichten, in denen ich sage, ich will nichts, ist eindeutig.»

Tom Frischknecht will, dass sie von jenem Sonntag erzählt, an dem der Mann an ihrer Wohnungs­tür Sturm läutet, morgens um 8 Uhr. An dem er sie anbrüllt, sie eine Schlampe, eine Nutte nennt. Und droht, er werde ihr Probleme bescheren, mit der Vermieterin, aber auch mit der somalischen Gemeinschaft. Er werde alles erzählen. Der Richter fragt und fragt und fragt. Bis die Frau zu schluchzen beginnt. Sie weint und hat schon mehrmals dieselben Fragen beantwortet. Doch er fragt erneut:

«Was hat das bei Ihnen ausgelöst?»

«Ich hatte Angst! Er hat mich gezwungen, mit ihm zu reden.»

«Sie hatten Angst, dass er etwas macht?»

«Ich bin geschieden, das ist Schande genug. Ich hatte Angst, dass er den Leuten Dinge erzählt, die nicht stimmen.»

An besagtem Sonntag, zwei, drei Wochen nach dem Kennenlernen, ruft die Frau die Polizei, verlässt ihre Wohnung. Er bombardiert sie förmlich mit bedrohlichen Whatsapp-Nachrichten, sucht sie auf einem Spielplatz auf, verlangt ein Gespräch. «Ich wollte das nicht draussen ausdiskutieren, weil alle zuschauten. Ich suchte eine Lösung. Also ging ich mit ihm. Meine Tochter war dabei.» In seiner Wohnung fordert sie ihn erneut zum Aufhören auf. Er offeriert ihr ein Getränk. Sie merkt schnell, dass etwas nicht stimmt, fragt mehrfach, ob etwas drin sei. Er verneint. Sie fühlt sich schläfrig. Er versucht, sie zu küssen.

«Sie haben das abgelehnt. Was heisst das?», fragt der Richter.

«Ich habe gesagt, er soll nicht.»

Wohin der Mann sie habe küssen wollen und wie sie ihn weggestossen habe? Sie zeigt, wie sie sich wegdreht, ihre Hand hebt.

«Er fasste sich selber an. Wollte, dass ich ihn berühre. Er kicherte komisch und sagte, fass ihn an. Ich stiess ihn immer wieder weg, sagte, lass mich.»

«Warum hatte es Methadon bei Ihnen im Getränk?»

«Wieso? Wie meinen Sie das?»

«Warum das Methadon, was denken Sie?»

«Er wollte mich gefügig machen. Ich glaube, er hatte Viagra genommen.»

Die Frau kann mit ihrer Tochter die Wohnung verlassen und geht nach Hause. Dort ist ihr derart unwohl, dass sie sich mehrfach übergibt. Eine Freundin bringt sie ins Spital. Man stellt fest, dass sie Methadon in Urin und Blut hat. Am Tag danach zeigt sie den Mann an. Bei der Einvernahme sagt er, sie deale Drogen, er habe ein halbes Kilo Kokain in der Wohnung gesehen. Sie sagt, er sei nie in ihrer Wohnung gewesen. Eine nächtliche Haus­durchsuchung durch die Polizei ergibt nichts, doch sie fühlt sich behandelt wie eine Kriminelle. Die Behauptung, sie deale, sei nicht böswillig gewesen, wird der Verteidiger des Mannes später sagen. Er habe sich geirrt.

Wieder ein paar Wochen später wirft der Mann eine volle Bierdose durch das geschlossene Küchen­fenster ihrer Parterre­wohnung. Die Nachbarn rufen die Polizei. «Er behauptete, ich hätte einen Mann zu Hause. Was nicht stimmte.» Er schreibt ihr später: «Du verdammte Schlampe, wenn ich anrufe, nimmst du sofort das Telefon ab! Sonst komme ich nochmals!»

Der Mann wird verurteilt: eine Geldstrafe von 360 Tagessätzen à 10 Franken, eine Busse von 1200 Franken und drei Jahre Landes­verweis. Es ist weniger, als die Staats­anwältin verlangt hatte – 18 Monate Freiheits­strafe. Das Gericht spricht ihn nicht in allen Anklage­punkten schuldig. So sei es beispielsweise nicht erstellt, dass er ihr die Hand auf den Ober­schenkel gelegt habe. «Dies wäre auch zulässig gewesen», sagt der Richter bei der mündlichen Urteils­begründung, es sei sozial adäquat, wenn er sich ihr hatte nähern wollen.

Die Schuld­sprüche umfassen aber immer noch eine ganze Palette an Delikten: einfache Körper­verletzung, Sach­beschädigung, mehrfache Drohung, mehrfache Nötigung, versuchte Nötigung, sexuelle Belästigung, falsche Anschuldigung, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen und Übertretung des Betäubungs­mittel­gesetzes. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Illustration: Friederike Hantel

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