Strassberg

Abendländische Werte

Von Ausländern wird erwartet, dass sie sich integrieren und zu «unseren Werten» bekennen. Eine seltsame Forderung – mit einer hässlichen Vorgeschichte.

Von Daniel Strassberg, 16.04.2019

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Die Hälfte meiner Familie verliess das Abendland durch die Schorn­steine, da ist es vielleicht verständlich, dass ich es mit den abendländischen Werten nicht so habe. Erst recht nicht, wenn sie sich mit dem Adjektiv christlich schmücken. Entsprechend gross ist auch meine Skepsis, wenn von allen Seiten die Forderung laut wird, die Ausländer müssten sich an ebendiese abendländischen Werte anpassen. Sie müssten sich integrieren. Die Skepsis stellt sich unabhängig davon ein, ob die Forderung aggressiv-abwertend à la SVP oder wohlwollend-besorgt à la SP vorgetragen wird. Konkret wird verlangt, sie müssten unsere Sprache lernen, sie müssten unsere Werte achten, sie müssten unsere Frauen respektieren. In dieser Reihenfolge.

Doch: Welche Sprache soll das denn sein? Schweizerdeutsch? Hochdeutsch? Englisch? Französisch? Oder Italienisch? Bis vor kurzem war Italienisch die lingua franca auf dem Bau, da waren die Saisonniers aus allen Ländern bestens integriert, besser jedenfalls als ich. Unsere Sprache gibt es nicht, sie entsteht erst als Forderung an die anderen.

Unsere Werte gibt es ebenso wenig – und noch weniger sind sie christlich oder jüdisch-christlich. Die Rede von der Schweiz als Werte­gemeinschaft vor dem Hintergrund des christlich-jüdischen Abend­landes ist blanker Humbug. Sie unterstellt eine merkwürdige historisch-geistige Verbindung aller Schweizer, an der Fremde nur schwer teilhaben können. Sie unterschlägt dabei die enormen Unter­schiede zwischen den Werte­haltungen. Und die extreme Gewalt, die dieses Abendland ausgeübt hat. Tatsächlich verbinden mich mit einem türkischen Intellektuellen weit mehr Werte als zum Beispiel mit Roger Köppel. Nicht Werte halten die Schweiz zusammen, sondern Institutionen. Auch wenn ich mit Roger Köppel keinen einzigen Wert teile, haben wir dennoch dieselbe Kranken­kasse, zahlen in dieselbe AHV ein, benutzen dieselbe SBB und gehen in dasselbe Spital, wenn wir krank werden.

Wir folgen auch denselben Strassen­verkehrs­regeln, weshalb ich mich einigermassen darauf verlassen kann, dass ich bei Grün heil über die Strasse komme. Mit Werten hat das Gesetz herzlich wenig zu tun, lediglich mit Verlässlichkeit. Dass sich deshalb alle Menschen an geltendes Recht zu halten haben, ist so selbstverständlich wie trivial.

Doch die Rede von Integration zielt höher, sie will nichts weniger als Erlösung: «Ohne Lösung der Juden­frage keine Erlösung des deutschen Volkes.» Wie ein Mantra wurde diese Losung im «Stürmer» wiederholt. Ein polemischer Übergang, werden Sie sagen, unfair und perfide, fast schon bösartig. Vielleicht. Aber nicht ganz abwegig. Für diese Kolumne habe ich mir nicht wie üblich einen philosophischen Text vorgenommen, sondern mir mehrere Jahrgänge des «Stürmers» angetan. Beides gehört schliesslich zur abend­ländischen Tradition. Das Ergebnis war verblüffend, ja furchterregend. Natürlich wollten Streicher und Konsorten die Juden nicht integrieren, sie wollten sie loswerden. Nach Madagaskar, Argentinien, Palästina oder sonst wo hin, nur in Deutschland sollten sie nicht bleiben. Und zwar weil sie: die Sprache nicht sprechen – sie «jiddeln» so komisch –, die Werte nicht achten, die Frauen nicht respektieren. In dieser Reihenfolge.

Wer Integration verlangt, sucht letztlich Erlösung. Er sucht die mythische Einheit, die er Heimat nennt, er sucht das Uns, das die Forderung nach Integration überhaupt erst erschafft, und zwar auf beiden Seiten des politischen Grabens: Links wird einverleibt, rechts wird ausgegrenzt.

«Erlaubt ist, was nicht stört» belehrten vor einigen Jahren gelb-schwarze, von einer sozial­demokratischen Regierung aufgehängte Plakate die Einwohner Zürichs. Es zeigt mit aller Deutlichkeit, worum es bei der Integrations­forderung geht: um das Ausmerzen von Störungen. Erlösung ist der Wunsch, Störungen zu eliminieren.

Und was stört mehr als Sex? Das bringt uns zur dritten obligatorischen Integrations­forderung, zum Respekt vor den Frauen. «Frauen und Mädchen, die Juden sind Euer Verderben», prangte auf manchen Front­seiten des «Stürmers». Und in der Nr. 23 vom Juni 1931 wird berichtet, wie der Jude Jakob Krämer (Kolonial­warenhändler) versucht habe, sich an einem noch nicht 15-jährigen Dienst­mädchen zu vergreifen. Flankiert wird diese Meldung durch Talmud­zitate, die belegen, dass Juden durch ihre Kultur geradezu verpflichtet sind, Nichtjuden zu belügen, zu betrügen und sexuell zu missbrauchen.

Schon 2010 sprach die damalige Bundesministerin Kristina Schröder von «gewalt­legitimierenden Männlichkeits­normen in muslimischer Kultur». Nach der berüchtigten Silvester­nacht von Köln 2015/16 knüpfte sie an dieser Aussage an. Das Frauenbild vieler muslimischer Männer, so Schröder weiter, könne als mögliche Ursache für die Attacken in der Silvester­nacht zu sehen sein. «In dieser Vorstellung gilt es dann als legitim, sich Frauen, die sich nicht dieser Vorstellung einer ehrbaren Frau unterwerfen, auch unehrenhaft zu nähern.»

Die Sexualität scheint stets das grösste Integrations­risiko darzustellen: diese verstörende, gewalttätige, männliche Sexualität, die wie die Vogel­grippe erst durch Fremde ins Abendland eingeschleppt wurde. Erst wenn diese mit allen Mitteln exorziert worden ist, kann das Abend­land genesen und sich die Sehnsucht nach dem störungsfreien Uns erfüllen.

PS: Nirgends war zu lesen, dass der massenhafte und organisierte sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester der katholischen Kirche ein Ausdruck abend­ländischer Werte oder der christlichen Kultur sei. Und nirgends war zu lesen, wir müssten unsere Frauen und Töchter vor der marodierenden Christenheit schützen.

Illustration: Michela Buttignol

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