Theorie & Praxis

Wer rettet den Kapitalismus?

Paul Collier: «Sozialer Kapitalismus»

Der Oxforder Starökonom Paul Collier hat ein Buch gegen den «Zerfall unserer Gesellschaft» geschrieben.

Von Daniel Binswanger, 09.04.2019

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Ein neues Genre der Kapitalismus­kritik treibt immer neue Blüten: die Kritik des Kapitalismus zu seiner Errettung aus höchster Not, die schonungslose Abrechnung mit der real existierenden Marktwirtschaft zu ihrer Reform und endlich zukunftsfähigen Gestaltung.

Seit der Finanzkrise sind systemische Ungleichgewichte zu einem derartigen Funktionsrisiko der globalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geworden, dass von rechts nicht weniger als von links, von Grassroots-Aktivisten nicht weniger als von Würdenträgern der internationalen Finanz­technokratie in immer wieder neuen Versionen dieselbe Feststellung gemacht wird: So geht es nicht weiter! Etwas muss geschehen.

Als klassisches Beispiel des Genres könnte man auf der rechten, anti­markt­wirtschaftlicher Affekte gänzlich unverdächtigen Seite zum Beispiel «A Capitalism for the People» von Luigi Zingales zitieren, seines Zeichens Ökonomie­professor an der University of Chicago, oder auch «Between Debt and the Devil» von Adair Turner, dem ehemaligen Vorsitzenden der britischen Financial Services Authority.

Auf linker Seite sind seit der Finanzkrise die dringenden Aufrufe zur Reform des Kapitalismus – wohlgemerkt Reform und nicht Überwindung – in unüberschaubarer Menge publiziert worden. Zu nennen wären etwa die Arbeiten von Thomas Piketty, Joseph Stiglitz oder Paul Krugman. Robert Reich, der intellektuell profilierte, ehemalige Arbeitsminister Bill Clintons, brachte dieses Programm mit dem Titel seines letzten Buches prägnant auf den Begriff: «Saving Capitalism».

Jetzt ist auch der in Oxford lehrende Entwicklungshilfe- und Migrations­ökonom Paul Collier in den Ring gestiegen. Sein Essay «Sozialer Kapitalismus: Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft» ist ein origineller, quer in der geistigen Landschaft stehender Versuch, die gesellschaftliche Entwicklung zum Besseren zu wenden. Collier ist ein ausgewiesener Maverick: Mit seinen nicht unumstrittenen, aber differenzierten Arbeiten zu Migrationsfragen hat er grund­sätzliche Probleme der Einwanderungspolitik erörtert – und sich zu einem der intellektuell satisfaktions­fähigsten Kritiker von Merkels Flüchtlings­politik aufgeschwungen.

Woran die Welt krankt

Mit «Sozialer Kapitalismus» nimmt sich Collier nun die grossen Fragen der Gegenwarts­diagnostik und unserer politischen Wertebasis vor. Auch Collier, der in seinem Essay fast zwanghaft immer wieder seiner Verachtung für Marxisten und linke Ideologen Luft macht, ist zutiefst überzeugt von der fundamentalen Krise des heutigen Kapitalismus. Und auch Collier sieht sich in der Verantwortung, den Kapitalismus zu retten.

Woran krankt die heutige Welt? Gemäss Collier wird sie zerrieben zwischen Utilitaristen und «Rawlsianern» (Anhängern des Moralphilosophen John Rawls), zwischen Ökonomen und Juristen, zwischen (rechten) Markt­fundamentalisten und (linken) Identitäts­politikern. Auf der einen Seite wird exzessiver, libertärer Egoismus und auf der anderen Seite werden inflationäre, rechtliche Ansprüche verbreitet. Auf der Strecke bleiben der Common Sense, der Pragmatismus und die Bedürfnisse der breiten Masse der Bevölkerung: «Utilitaristen, Rawlsianer und Libertäre – sie alle stellten das Individuum, nicht das Kollektiv in den Vordergrund, und sowohl utilitaristische Ökonomen als auch rawlsianische Juristen betonten Unterschiede zwischen den Gruppen, Erstere basierend auf Einkommen, Letztere basierend auf Benachteiligung.»

Der Utilitarismus, gegen den Collier zu Felde zieht, bildet die Grundlage der modernen Ökonomie, die vom Homo oeconomicus und dem Streben nach maximaler Nutzenmaximierung aller Marktteilnehmer ausgeht. Collier unterzieht diese theoretische Basis einer scharfen Kritik: Erstens sei sie vollkommen realitätsfremd. Menschen sind soziale Wesen, auf Anerkennung und zwischen­menschliche Kooperation bedacht. Der nutzen­optimierende Egoismus ist ihnen nicht fremd, aber weit davon entfernt, ihr einziger oder wichtigster Antrieb zu sein. Zweitens sei die Nutzen­maximierung eben nicht ausreichend, um eine zeitgemässe Sozialethik zu begründen. Die maximal mögliche Akkumulierung von Gütern kann keine Antwort geben auf die Frage, was eine gute Gesellschaft oder ein sinnvolles Leben ist.

Genau darum aber geht es Collier: Er strebt eine ethische Reform des gesellschaftlichen Zusammenlebens an, der Politik, der Unternehmen, der Familienstrukturen. Ohne solide ethische Grundlagen, sagt Collier mit Rekurs auf die Sozialphilosophie von Adam Smith, können Gesellschaften ganz einfach gar nicht funktionieren. Allerdings macht er den Versuch, das paternalistische Erteilen guter Ratschläge zu vermeiden und stattdessen seine Ethik aus den kommunita­ristischen Kräften der Gegenseitig­keit und des Verantwortungs­gefühls zu entwickeln, die in der Gesellschaft de facto schon am Werk sind. Bloss keine Abgehoben­heit: Das scheint einer seiner fundamentalsten theoretischen Affekte zu sein.

Ganz neu ist die kritische Analyse der utilitaristischen Grundlagen der modernen Volkswirtschaftslehre allerdings nicht. Robert Skidelsky zum Beispiel hat sie in seinem Essay «Wie viel ist genug?» bereits vor sechs Jahren sehr ausführlich entwickelt. Zitiert wird Skidelsky bei Collier jedoch nicht.

Plädoyer für eine «altlinke» Politik

Originell ist, wie Collier seine Utilitarismus­kritik mit einer Kritik der «rawlsianischen», linken Identitäts­politik verbindet. Er betrachtet sie als das symmetrische ideologische Gegenstück, die linke Kehrseite des utilitaristischen Markt­fundamentalismus. Diese Identitäts­politik, so Collier, erkenne immer weiteren Opfer- und Anspruchs­gruppen immer weitere Sonderrechte zu. Er trage deshalb seinerseits bei zur Atomisierung der Gesellschaft, weil es sich immer um individuelle Rechts­ansprüche handle – und weil diesen Ansprüchen nicht mehr die äquivalenten Pflichten gegenüber­stünden. Genau wie der libertäre Hyper­individualismus des Markts zerstörten die Minderheiten­ansprüche der linken Identitäts­politik das Zusammen­gehörigkeits­gefühl der Gesamt­gesellschaft.

Was schlägt Collier vor? Es geht ihm darum, den Kommunitarismus und die gesamt­gesellschaft­liche Solidar­gemeinschaft wieder zu stärken. Leitend sind für ihn die goldenen Jahre des Nachkriegs­kapitalismus und die damalige Sozial­demokratie. Er stimmt damit ein in den Chor der zahl­reichen, eigentlich eher konservativen Stimmen – wie Christopher Lasch, Francis Fukuyama, Mark Lilla – die einerseits die linke Minderheiten- und Identitäts­politik denunzieren, andererseits aber für eine «altlinke» Politik des sozialen Ausgleichs plädieren. «Heute steckt die Sozial­demokratie als politische Kraft in einer existenziellen Krise», beklagt Collier und fordert neuen Raum für «die Leitideen der Genossenschafts­bewegung».

Interessant sind die Analysen, die er auf konkretere Themenfelder anwendet. Beispielsweise die Frage, wie heute eine ethische Unternehmens­kultur funktionieren müsste – Collier legt eindrücklich dar, wie destruktiv das Shareholder-Value-Prinzip für das Wirtschafts­leben ist. Es brauche stattdessen eine «Erneuerung reziproker Verpflichtungen in Unternehmen», ein Stakeholder- statt ein Shareholder-Prinzip. Denn sozialen Ausgleich fordert Collier nicht primär auf der Ebene der Einkommen und der Konsum­möglichkeiten, sondern auf der Ebene der Produktivität. Dass zwischen den Metropolen und dem Hinterland, den globalen Funktions­eliten und den Normalbürgern, den Hoch- und den Niedrig­qualifizierten so massive Produktivitäts­unterschiede entstanden sind, betrachtet er als das Haupt­problem der heutigen Zeit. Und als den Kern des Politik­versagens.

Ebenfalls sehr interessant – und provokant – sind seine Überlegungen zu einer «ethischen Familienpolitik». Er stützt sich auf umfangreiche statistische Daten, die belegen, dass die Auflösung der traditionellen Kernfamilie erstens in den Unterschichten sehr viel stärker verbreitet ist als in den bildungsnahen, oberen Schichten, dass sie zu einer starken Benachteiligung der betroffenen Kinder führt und dass sie die soziale Mobilität auf massive Weise unterminiert.

Die prägende persönliche Erfahrung

Collier, der aus dem Arbeitermilieu von Sheffield stammt und dank öffentlicher Förderung eine glänzende akademische Karriere gemacht hat, spricht auch aus eigener Erfahrung. Eine seiner Cousinen war in der Schule immer besser als er selber, wurde dann aber durch eine Teenager-Schwangerschaft aus der Bahn geworfen und durchlebte danach die klassische Biografie einer allein­erziehenden Mutter aus der englischen Unterschicht – inklusive mehrerer Töchter, die ihrerseits wieder als Teenager zu Müttern wurden. Als zwei seiner Grossnichten zu Fürsorge­fällen wurden und ihre Unterbringung in einem Heim zur Debatte stand, hat Collier die Mädchen in Obhut genommen und adoptiert. Er lässt diesen persönlichen Erfahrungs­hintergrund in uneitler und überzeugender Manier in seine theoretischen Analysen einfliessen. Die Konsequenz, die er daraus zieht, nämlich, dass der Staat unbedingt grösste Anstrengung unternehmen müsse zum Schutz und zur Förderung intakter Kernfamilien, ist eine der ideologischen Provokationen, wie Collier sie mag. Es ist nicht zu bestreiten, dass er dafür starke Argumente entwickelt.

«Sozialer Kapitalismus» ist ein starkes, manchmal schräges, immer wieder inspirierendes Werk. Es ist einerseits bemerkenswert als weitere Manifestation einer sich immer weiter ausbreitenden Systemkritik. Ja, Kapitalismus ist gut – nein, in seiner heutigen Form wird er uns um die Ohren fliegen. So lautet die Grundansage von Colliers «Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft», wie das Buch im Untertitel heisst.

Andererseits gelingt es dem Autor, zu einzelnen Themenfeldern interessante Reflexionen zu entwickeln, auch wenn der globale Rahmen seiner Analysen wenig originell und manchmal etwas naiv wirkt. Ist es wirklich so, dass die zunehmende Wichtigkeit von Minderheiten­rechten und Anti­diskriminie­rungs­politik dieselbe transformative Wirkung hat wie die Zerstörung der sozialen Marktwirtschaft durch die Globalisierung und den politischen Wandel? War der Minderheiten­schutz tatsächlich genauso einschneidend für die Transformation Gross­britanniens wie Margaret Thatcher? Diese Grund­annahme wird nirgendwo in dem Buch wirklich begründet oder nachvoll­ziehbar gemacht.

Doch Collier hat ein manisches Bedürfnis, seine Kritik immer exakt symmetrisch sowohl nach links als auch nach rechts auszuteilen. Er will unbedingt ein Pragmatiker und ja kein Ideologe sein. Warum jedoch der Pragmatismus immer exakt in der geometrischen Mitte aller existierenden Positionen liegen soll, macht auch «Sozialer Kapitalismus» nicht plausibel.

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