Poesie & Prosa

Monströse Aporien

Yishai Sarid: «Monster»

Der israelische Autor hat einen ebenso klugen wie beklemmenden Roman über die Erinnerung an die Schoah geschrieben.

Von Ekkehard Knörer, 08.04.2019

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So ist er unversehens ein Experte für die Vernichtung geworden, der Mann, der hier schreibt und namenlos bleibt. Für den diplomatischen Dienst hat er sich beworben, das hat nicht geklappt. Er studiert Geschichte, eigentlich ist die Schoah das Letzte, womit er sich befassen will, aber nur auf diesem Gebiet scheinen die Karriere­chancen für einen eher durchschnittlichen Historiker gut. «Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeits­methoden deutscher Vernichtungs­lager im Zweiten Weltkrieg».

Sehr sachlich klingt das, er kennt alle Zahlen, Daten und Namen. Wie wurde hier gemordet, wie da. Wie erfolgte die Anfahrt, wie sah die Zwangsarbeit aus, wie die Tötungs­methode. Welche Musik musste welches Lager­orchester wann spielen. In Treblinka waren auf dem Weg zur Gaskammer jüdische Volkslieder zu hören. In Auschwitz rein deutsches Programm. Gerade auf diese Details legt er besonderen Wert.

Einen solchen Kenner braucht man vor Ort. Im Auftrag der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wird der Mann Guide in den Vernichtungs­lagern im Osten: Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Chelmno, Belzec. Im von den Nazis dem Erdboden gleichgemachten Sobibor nimmt er sogar an archäologischen Ausgrabungen teil. Er führt Schulklassen aus Israel durch die Gedenkstätten, hasst die Routinen des Erinnerns, aber alle staunen, wie sehr der Mann die Fakten im Griff hat. Etwas Empathie vermissen manche, für die Opfer wie für die Schüler, aber in Yad Vashem bekommt man äusserst positive Berichte. Bald darf er auch Prominenz führen: den israelischen Verkehrs­minister etwa, einen freilich arg beschäftigten Mann.

Dabei ist es allerdings nicht geblieben. Die Ich-Erzählung, als die uns Yishai Sarid seinen Roman präsentiert, ist ein Rechtfertigungs­bericht an den Direktor von Yad Vashem. Etwas ist vorgefallen, lange gibt es nur Andeutungen, etwas hat sich verändert, der Erzähler, der einst zu so schönen Hoffnungen Anlass gab, ist zum Problemfall geworden. In dem Bericht, der das ganze Buch ausfüllt, ja das Buch ist, will er nun schildern, wie alles kam. Wie es zuletzt dazu kam, dass er einen deutschen Film­regisseur, dem er als Guide zur Seite gestellt wurde, in der Gedenk­stätte Treblinka brutal niederschlug. Und das war nur der gravierendste Vorfall.

Was hättet ihr getan?

Mehr als dieses sich rechtfertigende Ich haben wir nicht. Der Roman ist nichts als der Bericht eines Manns, der seinen eigenen Niedergang schildert. Irgendwann ist er nicht mehr Herr seiner selbst. Blafft Schulklassen an, konfrontiert sie mit monströsen Thesen. Die Israelis müssten, um überleben zu können, selbst Nazis werden. Die Lust am Töten gehöre zum Menschen dazu, immer, kein Volk sei darüber erhaben, die Geschichte zeige es, da sei nichts zu machen.

Zugleich staunt er über die Friedfertigkeit der israelischen Soldaten, die er durch das Lager führt und die keinen Hass gegen die Deutschen hegten. Wenn ihr damals gedient hättet, so fragen die israelischen Kommandeure in ihren Ansprachen, und euer Land wäre im Krieg an allen Fronten gewesen, «wärt ihr dann desertiert, wenn ihr erfahren hättet, dass irgendwo weit weg, im Osten, schmutzige Arbeit getan wird?». Ich sicher nicht, antwortet der Guide für sich im Stillen. Ein andermal sieht er sich durch einen Überlebenden mit einer Variante dieser Frage konfrontiert: Und wie ist es mit den Kapos, die für das letzte Fitzelchen Überlebens­hoffnung kollaborierten? Hätte ich anders gehandelt?

Der Mann wird, anfallsweise zunächst, zum titel­gebenden Monster – wobei der Begriff in letzter Instanz die Schoah selbst meint, als ein Geschehen, das in die Ordnung des Menschlichen – nicht zuletzt: des Erinnerns – nie integriert werden kann. So ist es die Erinnerung, die der Erzähler ausdrücklich als Monster bezeichnet, die ihn selbst zu einem solchen gemacht hat. Die Erinnerung an die Schoah, die er sich mit Haut und Haar einverleibt hat, anstelle der Überlebenden, von denen bald keiner mehr am Leben sein wird. Erst hat er noch einen Augenzeugen bei seinen Touren dabei. Als der ausfällt, findet sich trotz mühsamer Suche kein Ersatz.

So trägt er alleine die Last.

Ein Start-up beschäftigt ihn nebenbei als Experten: Sie arbeiten an einem möglichst lebensechten Auschwitz-Computerspiel. Als naiv immersives Verfahren – das geht auch an die Adresse historischer Romane und Filme – wird die Darstellung der Schoah sehr schnell obszön, hier nähert sich der Roman ein einziges Mal der Satire. (Jedenfalls will man das hoffen.) Die Immersion wird aber auch für den Erzähler im echten Leben fatal. Er beginnt, im Lager zu halluzinieren: Die Toten bedrängen ihn, ganz buchstäblich.

Yishai Sarid gewährt in seinem Roman keinen sicheren Grund. Man gewinnt als Leser zum Ich-Erzähler kein klares Verhältnis. Etwas vom Monster steckt von den ersten Sätzen an in der Figur und damit im Buch. Es ist fraglos eine Geschichte darüber, wie das Monströse der Schoah sich fortzeugt und einen niemals heilbaren Unfrieden stiftet. Darüber auch, wie die Opfer und die Kinder der Opfer das Trauma mitunter nur durch monströse Reaktions­muster verarbeiten können: bis hin zur Bewunderung für die Täter. Das gilt auch für den Erzähler; der Lektor seiner Dissertation kann gar nicht begreifen, warum darin Heydrich so ausführlich und voll Anerkennung dargestellt wird.

Andere Reaktionen sind ebenso verstörend: Eine Gruppe orthodoxer Juden leugnet bei der Exkursion einem Rabbi, den sie verehren, stur und wider besseren Wissens die Auslöschung des jüdischen Lebens vor Ort. Und der Verkehrs­minister betrachtet den Lager­besuch als reine Öffentlichkeits­arbeit.

Vielfaches Scheitern

«Monster» ist die Geschichte eines Mannes, der die Schoah bis ins letzte Detail zu fassen versucht. Er weiss, was man wissen kann, er kennt die Banalität des Bösen, die Effizienz, die Sachlichkeit dieses Bösen, die es vollends monströs machen. Er kennt, so sagt er selbst, die Täter, nicht die Toten, jedenfalls immer nur Einzel­schicksale. Es sind zu viele, viel zu viele. Er kennt die Fotos und Filme, es gibt sehr wenige davon. Er ist Vermittler dieses Wissens, das sich kaum vermitteln lässt. Er verzweifelt, scheinbar gefasst, indem er sein Inneres bis zum Ende in eine sachliche Sprache zu fassen sucht; und er verzweifelt an der Unmöglichkeit, dem vielfachen Scheitern: des Fassens, des Vermittelns, der Vorstellungskraft.

Der Ich-Erzähler, namenlos, ist kein besonderes Monster. Er ist auch nicht repräsentativ. Er ist aber eine Figur, an der Yishai Sarid die Folgen der Schoah bis in ihre finstersten Konsequenzen durchdenkt. Dass es sich um einen subjektiven, unzuverlässigen Erzähler handelt, jemanden, dem man nie bedingungslos traut, dem man aber die Sympathie trotzdem nie ganz entzieht, auch dann nicht, wenn er Ungeheuerliches sagt – das ist fürs Gelingen des Romans unbedingt wichtig.

Und der Roman, die Fiktion erweist sich durch die rigorose Beschränkung auf die unzuverlässig-subjektive Perspektive als höchst angemessenes Mittel, die Aporien des Umgangs mit der Schoah zu zeigen, durchzuarbeiten und die Darstellung auf beunruhigende Weise in der Schwebe zu halten. Der Erzähler sperrt sich dagegen, die Erinnerung ans Monströse durch Gedenk­routinen zu zähmen – und erlebt, dass sein Wider­spruch, sein Insistieren etwa auf der Frage, ob auch die Opfer mehr und andere Handlungs­möglich­keiten gehabt hätten, in den Wahnsinn zu führen droht.

Diese Schwebe als Aporie hat mit Wegschauen, mit Vagheit, mit Darum­herum­reden nichts zu tun, ganz im Gegenteil. So wenig, wie Fiktion hier fabulierende Erfindung bedeutet. Je genauer die Vernichtung fokussiert wird, desto deutlicher wird die Unfassbarkeit des Geschehenen – gerade in der Häufung der bizarren, aber auch der banalen Details. Auf vermeintlichen Neben­schauplätzen, etwa einem kleinen Kindergarten­drama um den Sohn des Erzählers, nuanciert Sarid Fragen danach, was Menschen einander antun und warum.

«Monster» ist – als Roman – ein höchst empfindliches Instrument der Sondierung. Kein Essay könnte das in dieser offenen Weise verhandeln, auch kein historisches Sachbuch, von allen Versuchen zu schweigen, das Unfassbare in Text oder Bild unmittelbar heraufzubeschwören.

Das Buch

Yishai Sarid: «Monster». Roman. Kein & Aber, Zürich 2019. 176 Seiten, ca. 26 Franken. Auf der Verlagsseite gibt es auch eine Leseprobe.

Zum Rezensenten

Ekkehard Knörer ist Kultur­wissenschaftler, Literatur- und Film­kritiker. Er ist Mitgründer, Heraus­geber und Redaktor der Zeit­schrift «Cargo», Redaktor und seit 2017 Mitherausgeber der Zeit­schrift «Merkur». Unter anderem schreibt er für die TAZ, für «Kolik» sowie für wissenschaftliche Zeit­schriften und Sammel­bände. Zuletzt schrieb Ekkehard Knörer in der Republik über das skandalumwitterte Kunstprojekt «Dau».

Nach «Monster» hat Knörer gleich «Limassol», Yishai Sarids Debüt­roman, gelesen. Auch diesen kann er nachdrücklich empfehlen.

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