Binswanger

Euroklimapolitik

Joschka Fischer hat einen Essay zur Weltlage geschrieben – und analysiert die Themen, die auch in der Schweiz die Debatte beherrschen.

Von Daniel Binswanger, 06.04.2019

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Betrachtungen zum Weltenlauf aus der Feder eines elder statesman sind grundsätzlich ein schwieriges publizistisches Genre. In der Regel wird da immer viel gewarnt, geraunt, Verantwortung und Vision gefordert. Es werden grosse Bögen geschlagen und die fraglicheren Details der Argumentations­zusammenhänge auch gerne mal vernachlässigt. «Der Abstieg des Westens» von Joschka Fischer ist ein Elder-statesman-Buch. Doch es ist trotzdem sehr empfehlenswert.

Es gelingt Fischer, in einem dichten Text eine erhellende Perspektive auf die heutige Weltlage zu entwickeln, die entscheidenden Konflikt­linien nachzuzeichnen, die wichtigen Herausforderungen zu benennen. Vor allem aber ist «Abstieg des Westens» ein hochaktuelles Buch: Es erörtert nicht nur die grundsätzlichen Fragen, um die es bei den anstehenden Europa-Wahlen unbedingt gehen müsste – und die aus der Debatte weitgehend verdrängt werden. Auch im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen steckt es den grossen Rahmen der Auseinander­setzung ab: Neben einer Analyse der Grossthemen Umwelt­schutz und europäische Integration zeigt es vor allem, wie eng sie miteinander verwoben sind.

Das Grundargument von Fischer ist weder neu noch originell, aber er verleiht ihm neue Dringlichkeit: Europa muss sich zusammenraufen, wenn es seinen Platz im 21. Jahrhundert behaupten will. Die USA sind weiterhin die überlegene Supermacht, doch die westliche Werte­gemeinschaft verliert an Kohäsions­kraft. «Der Abschied der USA von einer globalen Führungs- und Ordnungs­macht­rolle» wurde durch Trump massiv beschleunigt und dürfte jedoch auch nach seinem Abgang nicht wirklich rückgängig gemacht werden. Der aus dem Kalten Krieg geborene transatlantische Pakt, der nach 1989 zu einer unipolaren Weltordnung führte, verliert an Verbindlichkeit. Europa wird wohl oder übel in die Selbstständigkeit entlassen.

Wenn die Europäer dieser Herausforderung nicht gemeinsam, sondern mit neonationalistischen Illusionen entgegentreten, werden sie schlicht in der Bedeutungslosigkeit versinken. «Die Annahme, dass die überkommene europäische Staaten­ordnung Vorbild sein könne für die Welt des 21. Jahrhunderts, wirkt bizarr bis naiv», meint Fischer lakonisch.

Bisher findet die Europäische Union ihre Rechtfertigung hauptsächlich darin, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg als «Friedensprojekt» funktionierte. Fischer wäre der Letzte, der diese Rolle geringschätzen würde. Aber die Frage, die sich heute stellt, ist eine andere: «Das neue Narrativ muss von der europäischen Zukunft handeln, die nicht mehr von einzelnen souveränen europäischen Staaten bestimmt werden wird, sondern von einer gemeinsamen europäischen Souveränität, die auf den Mitgliedstaaten und der europäischen Demokratie und ihrem gemeinsamen Rechtsraum gründet. Die Alternative zu dieser gemeinsamen Souveränität im 21. Jahrhundert heisst für die Europäer schlicht und einfach Fremdbestimmung.»

Dass diese Fremdbestimmung unausweichlich würde, macht Fischer insbesondere an einer historischen Entwicklung fest: dem Aufstieg Chinas und des asiatischen Wirtschaftsraums. «Was wird aus uns Europäern in dem vor uns liegenden asiatisch-chinesischen Jahrhundert?» Es ist eine der zentralen Fragen, die den deutschen Aussenminister a. D. umtreiben. Insbesondere den europäischen Rückstand im Bereich der Informations­technologie betrachtet er als strategisches Problem: «Europa heute ist stark in den Technologien und Industrien des 20. Jahrhunderts und schwach in denen des 21. Jahrhunderts.» Wie ist darauf zu reagieren? Mit mehr Investitionen, mehr Risikokapital, einer gemeinsamen Politik zur Förderung der Innovation, meint Fischer. Durch Initiativen, die nur ein geeintes Europa stemmen kann.

Zunächst einmal lässt der ehemalige Chefdiplomat sich also leiten von Fragen der Realpolitik. Einen zentralen Platz besetzt in seinen Überlegungen aber auch die Ökologie. «Das Wachstum der Menschheit und seine konkreten Folgen werfen fortan ‹Menschheits­fragen› auf, welche die Lösungs­kapazität und Lösungs­kompetenz der einzelnen Staaten, selbst der grössten und mächtigsten unter ihnen, bei weitem überfordern.» Die «notwendige Effizienz­revolution beim Ressourcen­verbrauch» lässt uns gar keine andere Wahl als eine massive verstärkte supra­nationale Kooperation. Auch deshalb darf die Europäische Union nicht scheitern. Als politisches Handlungs­subjekt kann sie einen Beitrag leisten zur Lösung der drängenden globalen Probleme. Als Sammelsurium der Klein- und Mittelmächte wird Europa hilflos bleiben. Und gar nicht die Möglichkeit haben, um für die Regelung der globalen Probleme Entscheidendes zu leisten.

Womit wir auch bei den Schweizer Wahlen wären. Zwei Themen werden auch bei uns im Zentrum stehen: das Umweltthema und Europa. In den jüngsten kantonalen Wahlkämpfen ist es jedoch ganz klar so gewesen, dass der Klimawandel Europa von der Agenda verdrängt hat. Es sieht sehr danach aus, als würde auch im Herbst die Ökologie dominieren.

Aus der Perspektive des ehemaligen grünen Europa­politikers Fischer wird jedoch sofort klar, dass es sich letztlich um dasselbe Thema handelt: Nur ein geeintes Europa wird auf der Höhe der klima­politischen Heraus­forderungen sein. Auch die Schweiz hat deshalb bereits aus ökologischen Gründen ein überwältigendes Interesse daran, zur politischen Kohäsion Europas beizutragen. Es kann im Gegenzug nicht überraschen, dass dieselben konservativen Kräfte, die sich jetzt mit Leib und Seele der Verleugnung des Klimawandels verschreiben, auch die europäische Integration mit aller Macht bekämpfen.

Zu einer Frage lässt sich Fischer allerdings nur wenig vernehmen: Wie wird es Europa gelingen, auf tragfähige Weise eine stärkere Integration tatsächlich herbeizuführen? Auf der Basis welcher institutionellen Reformen, auf der Basis welcher gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik? Fischer plädiert für ein Europa der zwei Geschwindig­keiten – weil die Zeit drängt und weil die Widerstände gegen eine verstärkte Integration in vielen Teilen des Kontinents sehr stark sind. Er plädiert für die Umsetzung von Macrons Reform­vorschlägen und dafür, dass Deutschland endlich seine europa­politische Passivität überwindet, zu mehr Engagement, Grosszügigkeit und Leadership findet. Aber wie all dies gelingen soll, bleibt relativ wage.

Mit dieser konkreteren Ebene muss sich allerdings der Schweizer Stimmbürger auseinandersetzen, der im nächsten Herbst zur Frage der Klima­erwärmung und des Rahmen­abkommens mit der EU eine Position einnehmen soll. Auf welches Europa wollen wir hinarbeiten? Welche Abstriche bei der Lohnpolitik sind in Kauf zu nehmen? Welche Formen der europäischen Integration sind nachhaltig und welche werden bloss zum definitiven Scheitern führen? Das sind letztlich die Problemstellungen, welche die Eidgenossenschaft nun zu bewältigen hat. Fischers Buch behandelt diese Fragen nicht direkt. Aber es belegt eindrücklich, dass wir die falsche Antwort nicht geben dürfen.

Illustration: Alex Solman

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