Die Angriffe auf Aleppo begannen bereits lange vor der Regierungs­offensive im Sommer 2016: Ein Luftangriff des Regimes zerstört 2013 Wohn­gebäude und fordert mindestens sechs Tote. Moises Saman/Magnum Photos/Keystone

Wie im Syrien-Konflikt zwei Kleinstaaten die Grossen austricksten

Die Welt schaute tatenlos zu, als 2016 die Bevölkerung Aleppos im Würgegriff des Assad-Regimes litt. Die ganze Welt? Nein, zwei kleine Monarchien lehnten sich gegen die Dominanz des Uno-Sicherheitsrates auf. Und veränderten damit die DNA der Vereinten Nationen.

Von Michael Rüegg, 29.03.2019

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Ein gesicherter weisser Container mitten in einem weitläufigen Park. Hinter seinen Wänden werten Ermittlerinnen, Analysten und Juristinnen Bilder und Videos aus, protokollierte Aussagen und Dokumente aus dem syrischen Bürgerkrieg.

Einen kleinen Teil dieses Materials kennt die Öffentlichkeit: aus den TV-Nachrichten, von Social Media. Es sind Hinweise auf Kriegs­verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Folter, Erschiessungen, Enthauptungen, Verschleppung, Vergewaltigungen, Bombardierung. Die Beweismittel stammen aus unterschiedlichen Quellen, auch von NGOs und Zivilpersonen.

Der Container steht auf dem Gelände des Genfer Palais des Nations. Neben einer schmucken Villa, die schon hundert Jahre vor dem Völkerbund­palast gebaut wurde, der Villa la Fenêtre. Ein hoher Maschendraht­zaun umgibt Container und Gebäude, ein denkmal­pflegerischer Albtraum.

Heute zeugen die stattlichen Räume, das sorgfältig gelegte Parkett und die Holzeinbauten von den Empfängen, die in der Villa gehalten wurden, als die britischen Gesandten und später die jeweiligen Generaldirektoren des Genfer Uno-Sitzes hier residierten. Der Raum, in dem Catherine Marchi-Uhel Platz nimmt, sieht aus wie das Büro eines Textil­fabrikanten des 19. Jahrhunderts. Es ist der Raum, in dem sie Gäste empfängt. Ihr eigentlicher Arbeitsort ist drüben im Modulbau-Container, dort, wo Besucher keinen Zutritt haben.

Catherine Marchi-Uhel, Direktorin der Behörde, die dabei helfen soll, die Verbrechen gegen das Völker­strafrecht im syrischen Bürgerkrieg zu untersuchen. Salvatore Di Nolfi/Keystone

Dort, wo man Abertausende an Beweismittel auf ihre Echtheit hin prüft. Sie sollen einzelnen Verbrechen und Tatverdächtigen zugeordnet werden. Daraus sollen Cases entstehen. Fälle, die später von Anklagebehörden übernommen und vor einem Gericht verhandelt werden sollen. Was genau in der eine Million Aktenstücke umfassenden Sammlung auf vier Terabytes lagert, darüber spricht Catherine Marchi-Uhel nicht.

Alles wirkt etwas provisorisch. Der Mechanismus ist erst kürzlich hier eingezogen. Weil er gewachsen ist und mehr Platz benötigt.

Der Mechanismus. So heisst die Behörde, die Catherine Marchi-Uhel, Juristin und ehemalige Richterin, leitet: International, Impartial and Independent Mechanism, plus drei weitere Zeilen, die den Auftrag deutlich umreissen und an deren Ende «ab März 2011» steht – das Datum, das den Beginn des Syrien-Konflikts markiert: Der Mechanismus soll dabei behilflich sein, Verbrechen gegen das Völker­strafrecht im syrischen Bürgerkrieg zu untersuchen.

Und die Verantwortlichen der Gerechtigkeit zuzuführen.

IIIM, oder Triple-I-M, heisst der Mechanismus im Diplomaten­slang. Was Marchi-Uhel und ihre Kollegen tun, ist unerhört. So etwas hat es noch nie gegeben. Der IIIM ist ein neuartiges Gebilde im umfangreichen Leib der Vereinten Nationen. Eine neue App im UN-Programm. Und die Programmierer stammen aus Ländern, die man eher am Katzentisch der Welt­gemeinschaft vermuten würde.

Catherine Marchi-Uhel wurde erst vor anderthalb Jahren zum Head des Mechanismus ernannt. Damals stand sie noch allein vor ihrer Aufgabe. In jungen Jahren war sie Richterin in Frankreich, dann an den internationalen Tribunalen für Jugoslawien, in Kambodscha, in Den Haag sowie Ombudsfrau am Uno-Sitz in New York.

Nun ist sie im Aufbau des IIIM weit vorangeschritten. Doch vor ihr liegt ein noch weiterer Weg. Dass sie oder sonst jemand ihn überhaupt beschreiten könnte, war lange undenkbar.

Bis zum Tag, als die UN-Generalversammlung eine Tür aufstiess, die bis dahin niemand wahrgenommen hatte.

Die Welt schaut zu, was in Aleppo geschieht

Das ist die Story der Uno-Resolution 71/248. Eines Beschlusses der Vereinten Nationen, der Geschichte geschrieben hat, ohne Aufsehen zu erregen. Und den es ohne das Engagement zweier kleiner Monarchien nie gegeben hätte.

2011 begann der Bürgerkrieg in Syrien, als oppositionelle demokratische Kräfte Bashar al-Assads Truppen die Kontrolle über Teile des Landes abrangen. Die Reaktion des Machthabers war brutal, richtete sich zu grossen Teilen gegen die eigene Bevölkerung.

Der Uno-Sicherheits­rat debattierte zu Syrien, immer wieder. Und stellte der Welt­öffentlichkeit dabei stets seine eigene Unfähigkeit zur Schau. Der Versuch, Kriegs­verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Internationalen Strafgerichts­hof untersuchen zu lassen, scheiterte am Veto des ständigen Mitglieds Russland.

Im Sommer 2016 beginnen die Truppen von Diktator Assad und seiner Verbündeten mit einer Offensive auf das von Aufständischen gehaltene Aleppo. Im Ostteil der Stadt entwickelt sich über die folgenden Monate eine humanitäre Katastrophe. Insgesamt sterben bei der mehrjährigen Belagerung der Stadt über 30’000 Menschen, vor allem Zivilisten. Allein russische Bomben aus der Luft sollen eine viertstellige Zahl von Todes­opfern verursachen. Versuche im Sicherheits­rat, die Operation zu stoppen, versanden. Russland, teilweise flankiert von China, schiebt jeglicher Hoffnung einen Riegel.

Gegen die eigene Bevölkerung: Ein Kind wird nach einem Bomben­angriff der syrischen Regierung im Juli 2016 in Douma medizinisch behandelt. Mohammed Badra/EPA/Keystone

Im Oktober 2016 nennt der damalige UN-Untergeneralsekretär Stephen O’Brien das Versagen des Sicherheits­rates im Fall Aleppo «die Schande unserer Generation».

In den Aussenministerien und am Uno-Sitz in New York zerbricht man sich die Köpfe darüber, wie man aus der Starre herauskommen soll.

Der Beginn des einzigen fruchtbaren Lösungs­ansatzes ist denkbar unspektakulär: Ihren Ursprung fand die Idee in einer Medien­mitteilung der französischen Regierung, erinnert sich der liechten­steinische Botschafter Christian Wenaweser: Frankreich schlug eine Art völker­strafrechtliche Spezialbehörde vor, die Beweise sammelt und Fälle dokumentiert. Eine Art Untersuchungs­richter­amt ohne Anklage­befugnis, ohne Gericht.

Als Wenaweser diesen Gedanken vernimmt, findet er ihn nicht sonderlich überzeugend. Der Uno-Missions­chef des Fürstentums Liechtenstein setzt sich seit Jahren für den Internationalen Strafgerichts­hof ein. Er fragt sich, was Untersuchungen bringen, wenn danach keiner anklagt.

Doch je länger Wenaweser darüber nachdenkt, desto mehr reift der Gedanke zum Vorhaben heran.

Christian Wenaweser ist trotz seiner erst 55 Jahre ein erfahrener Mann im Uno-Betrieb. Seit bald zwanzig Jahren vertritt er das Fürstentum bei den Vereinten Nationen. Erst für kurze Zeit als Nummer zwei, seit 2002 als Botschafter des sechstkleinsten Uno-Mitgliedsstaates. Damit besitzt Wenaweser zwei der wichtigsten Ingredienzen für ein erfolgreiches Wirken in New York: jahrelange Erfahrung und ein dicht gewebtes Netzwerk.

Keine Botschafterin eines bevölkerungsreichen Landes bleibt je so lange auf ihrem Posten wie gewisse Missions­chefs von Kleinst­staaten. Der Grund ist simpel: Kleinstaaten haben häufig nur sehr wenige Vertretungen in anderen Staaten (wobei Liechtenstein mit total acht Botschaften bereits in einer höheren Liga spielt), ihre Spitzen­diplomaten rotieren entsprechend kaum von Posten zu Posten. Für Kleinstaaten ist deren jeweilige Vertretung bei den Vereinten Nationen oft die einzige echte Dialogmöglichkeit mit dem Rest der Welt – kommt hinzu, dass talentierte Diplomaten mit Kenntnissen in Multi­lateralismus in kleinen Ländern ein besonders rares Gut sind.

Ausländerinnen willkommen

Der Fahrstuhl hält im 27. Stock des Bürogebäudes an der 3rd Avenue. Rechts geht es nach Afghanistan. Links liegt Liechtenstein. Die Mission des Fürstentums nimmt nicht viel Platz ein, weit weniger als diejenige der Eidgenossenschaft zwei Stockwerke darüber.

Neben einer Sitzecke hängt an der Wand das Porträt des Staats­oberhaupts, seiner Durchlaucht Fürst Hans-Adam II., in Schwarzweiss und bemerkenswert jugendlich. Hinter dem Kopf des Monarchen liegt Wenawesers Büro. Ein corner office, in New York stets ein sicherer Hinweis auf Status.

Dass Liechtensteins ständige Vertretung überhaupt genügend Personal hat, verdankt sie ihrer Rekrutierungs­praxis für Stagiaires. Allein mit eigenen Staats­bürgerinnen liessen sich die Praktikums­plätze auf der Botschaft nicht füllen. Auch Ausländer sind jeweils für ein paar Monate willkommen. Während gewisser Debatten der General­versammlung sitzt mitunter auch mal eine junge Österreicherin, ein Schweizer oder eine Deutsche auf dem fürstlichen Sessel.

Ein bisschen Ausländer ist auch Christian Wenaweser selber. Aufgewachsen ist er in Zürich, Matura an der Kantonsschule Freudenberg, Studium der klassischen Philologie, diplomatische Ausbildung beim EDA in Bern – liechtensteinischer Diplomat wird man eben nicht im Fürstentum selber. Umgekehrt begannen auch einige Schweizer Diplomaten ihre Karriere als Praktikanten in Liechtensteins Uno-Mission, wie Wenaweser gern betont.

Christian Wenaweser, Ständiger Vertreter Liechtensteins bei den Vereinten Nationen: «Wir zogen es durch.» Albin Lohr-Jones/Pacific Press/LightRocket via Getty Images

Das Ländle hat weniger Einwohnerinnen als La Chaux-de-Fonds. Gebürtige Liechtensteiner kommen nicht einmal mehr auf heimischem Boden zur Welt. Werdende Mütter müssen zum Gebären im Spital die Landesgrenze überqueren, seit 2014 ist die einzige Geburten­abteilung geschlossen. Dieses kleine Liechtenstein sitzt in New York Schulter an Schulter mit Weltmächten. Sein Botschafter, Wenaweser, war vor ein paar Jahren gar Vizepräsident der Uno-General­versammlung.

Der neue, äusserst freundliche Praktikant aus Deutschland hat gerade zum ersten Mal in seiner beruflichen Karriere einem Besucher Kaffee gebracht. Den Unterschied zwischen Zucker und Süssstoff wird er noch lernen. Da winkt seine Exzellenz auch schon ins Büro hinein.

Christian Wenaweser ist gross, schlank, die dunklen Haarsträhnen kämmt er mit einer lässigen Handbewegung nach hinten. Wenaweser mag Kunst, ist mit Literaten befreundet, stand einst im Ruf, ein Kenner des New Yorker Nachtlebens zu sein. Mittlerweile ist er Frühaufsteher, radelt durch den Central Park und leitet die Jogging-Gruppe der Uno-Botschafter.

Doch die meiste Zeit über ist es der Zustand der Welt, der Wenaweser beschäftigt. Wie an jenem Tag im Herbst 2016, als Assad und die russische Luftwaffe die Rebellen in Aleppo bombardieren. Und der Liechtensteiner in New York an seinem Laptop einen Entwurf tippt: zweieinhalb Seiten, die später von der Welt­gemeinschaft angenommen werden sollen und den Opfern des syrischen Bürger­kriegs zu etwas Gerechtigkeit verhelfen könnten.

Die Kleinen sind zahlenmässig überlegen

Vernimmt man Nachrichten von der Uno, drehen sie sich meist um den Sicherheits­rat. Ihm gehören zwar auch kleine und mittelgrosse Staaten an, doch ein paar grosse können als Spiel­verderber auftreten. Wie im Fall des Syrien-Konflikts. Ein «Njet» aus Moskau, und die Sache ist gelaufen. Weil eben Sicherheits­politik Angelegenheit des Sicherheits­rates ist. Und dort die fünf Vetomächte sitzen, die Sieger­mächte des Zweiten Weltkriegs und China. Plus zehn Sitze, die abwechselnd an andere Mitglieds­staaten gehen, regional verteilt.

Der Sicherheitsrat mag das Welt­krisen­gremium sein. Doch die Vereinten Nationen sind ein Gebilde aus 193 Staaten, verstreut über den Planeten. Die meisten davon sind keine grossen Nationen.

Man darf den Einfluss von Kleinstaaten auf die Weltpolitik nicht unterschätzen.

  • Dreizehn UN-Mitglieds­staaten zählen derzeit weniger als 100’000 Einwohnerinnen. Zu ihnen gehören etwa Monaco, Tuvalu, San Marino und Andorra.

  • Fünfzehn weitere Staaten haben weniger als eine halbe Million Einwohner.

  • Die Schweiz, die sich gerne klein denkt, steht bereits an der Grenze zu den mittelgrossen Mitgliedern der Vereinten Nationen. Und gehört mit einem Prozent des Uno-Budgets gemessen an ihrer Einwohnerzahl zu den bedeutenden Beitrags­zahlerinnen.

Das International Peace Institute und die neuseeländische Mission an den Vereinten Nationen haben 2014 die Stellung und die Arbeitsweise von Klein­staaten in Bezug auf ihre Rolle bei der Uno untersucht. Die Autorin des Berichts kommt zum Schluss, dass bei kleinen Staaten zwar regionale Interessen wichtiger sind als globale. Doch trotz eigener Sicht­weisen böten sich einem Kleinstaat grosse Chancen – wenn er denn erfolgreich mit anderen zusammenarbeite.

Die Zahlen sprechen für sich: 105 Uno-Mitglieds­staaten haben eine Bevölkerung von weniger als 10 Millionen. Sie sind an der Uno Teil des «Foss», des Forum of Small States. Die Kleinen sind also gegenüber den Grossen in der Mehrzahl. Gleichwohl blieb ihnen der Zugang zu einer Vielzahl von Gremien und Informationen lange verwehrt. Es war der damalige Botschafter Singapurs, der 1992 das «Foss» ins Leben rief – und mit der Vernetzung einen Prozess in Gang brachte, der die Kleinen stärker in die Welt­politik einband.

Im Tages­geschäft treten die Unterschiede dennoch deutlich zutage. So hat die amerikanische Mission im Gebäude gleich gegenüber des Uno-Hochhauses 150 feste Mitarbeiter. Diejenigen von Osttimor und Liechtenstein gerade mal deren drei. Was an Arbeitskraft fehlt, muss eine kleine Vertretung also durch Erfahrung und Priorisierung wettmachen.

Und genau das gelingt Christian Wenaweser, dem Botschafter des Fürsten. Er kennt den Uno-Betrieb lange genug, um auch dessen Schwach­stellen für sich nutzen zu können.

Solange er die richtigen Leute für seine Sache gewinnen kann.

Ein Wüstenstaat kommt an Bord

Die ständige Vertretung des Emirats Katar liegt in einem der Bürogebäude vis-à-vis des Uno-Hauptsitzes. Man stelle sie sich wie die Firstclass-Lounge am Flughafen Doha vor: dunkel lackiertes Holz in orientalischen Mustern, elfenbeinfarbene Sofas. Männer in schwarzen Anzügen wuseln umher – doch das Kommando hat eine Frau: Alya bint Ahmed Saif Al Thani ist seit 2013 Botschafterin der Halbinsel im Persischen Golf. Sie ist eine von derzeit vier Frauen, die am Uno-Sitz in New York arabische Staaten vertreten.

Al Thani ist die Tochter eines Diplomaten, ihren Master machte sie in London mit einer Arbeit über die Rechte von Mädchen in ihrer Heimat Katar – darüber, wie die Praxis der frühen Verheiratung beendet werden kann.

Die Botschafterin bittet in ihr Büro. Ein schwarzes Kopftuch umrahmt die feinen Gesichtszüge der 44-Jährigen. Ein Angestellter bringt mit gesenktem Haupt gesüssten Tee. Ihre Exzellenz spricht schnell, macht keine Sekunde Pause, als der Mann die Gläser auf den schweren Couchtisch stellt. High Level Week steht bevor. Die Woche, während der die Regierungs­chefs eintrudeln: Präsidenten, Aussen- und Premier­ministerinnen, Könige – und Bundesrat Cassis. Strassen werden gesperrt, Hotels sind ausgebucht. Alles ist in Aufruhr. Die Exzellenzen sind in Eile, so auch Al Thani.

«Der Sicherheits­rat hat in Syrien versagt», beginnt sie. «Also mussten wir herausfinden, was wir tun konnten.»

Alya bint Ahmed Saif Al Thani, die Uno-Botschafterin Katars und Mitinitiantin der Resolution 71/248: «Der Sicherheits­rat hat in Syrien versagt.» Aurora Rose/Patrick McMullan via Getty Images

Wir, das bedeutet die General­versammlung. Das Uno-Gremium, in dem jeder Staat, egal wie gross oder klein, eine Stimme hat. In dem es kein Veto gibt und die Mehrheit bestimmt. Doch die General­versammlung ist in der Regel nicht das Gefäss, in dem Sicherheits­politik verhandelt wird.

Wir heisst aber in diesem Fall auch: sie und ihr liechtensteinischer Kollege Wenaweser, «Ambassador Christian», wie sie ihn im Gespräch nennt. Die Eltern von Resolution 71/248. Wenaweser und Al Thani sind alte Bekannte, kamen etwa zur selben Zeit das erste Mal nach New York. Er blieb, sie drehte eine Runde in Europa, kehrte zurück. Wenaweser brauchte einen verlässlichen Partner in der Region für seine Syrien-Resolution. Einen Partner wie Katar.

Die präventive Wirkung von Verantwortlichkeit

Es gehe darum, erklärt Al Thani, Accountability herzustellen, Verantwortlich­keit. Kriegs­verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen: «Wer in Syrien gegen internationales Recht verstösst, muss wissen, dass er nicht ungeschoren davonkommt.» Mit der Einsetzung des Mechanismus habe die Völker­gemeinschaft ein klares Signal nach Syrien geschickt, ist die Botschafterin überzeugt.

Eigentlich wäre die Verfolgung von Straftaten im syrischen Bürgerkrieg eine klassische Aufgabe für den Internationalen Strafgerichts­hof ICC. Doch nur der Sicherheits­rat kann ein solches Mandat erteilen. Und solange Russland Assad unterstützt, wird es nicht dazu kommen. Damit bleibt dieser Weg versperrt, bleiben Verbrechen der Bürgerkriegs­parteien ungesühnt. Und ein Gerichtshof, der genau für solche Fälle geschaffen wurde, darf nicht tätig werden.

Doch wer, wenn nicht ein internationales Gericht, soll Kriegs­verbrecher verurteilen? Der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage liegt im Begriff der universellen Gerichtsbarkeit: Auch einzelne Staaten können Personen zur Rechenschaft ziehen, die irgendwo auf der Welt Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Bloss haben die wenigsten dafür die nötigen Ressourcen. Hier setzt Wenawesers und Al Thanis Resolution an: Der Mechanismus untersucht, sammelt Beweise und bereitet die Anklage­schriften vor. Auf dieser Basis können Fälle dann vor nationalen Gerichten verhandelt werden. Deutschland etwa hat bereits einzelne Täter wegen Kriegs­verbrechen in Syrien verurteilt.

Auch das Schweizer Strafrecht lässt eine Verurteilung wegen im Ausland begangener Kriegs­verbrechen zu – sofern ein Täter sich im Land befindet und kein internationales Gericht zuständig ist. Die Bundes­anwaltschaft bestätigt, dass sie in regelmässigem Kontakt zum IIIM steht.

So weit diese Seite der Theorie. Wenawesers und Al Thanis Mechanismus könnte also dereinst wirken. Doch im Herbst 2016 ist er erst eine zu Papier gebrachte Idee. Der Entwurf von Resolution 71/248. Weit weg von einer Mehrheit.

Bis zur Verabschiedung der Resolution ist es noch ein langer Weg. Denn der Mechanismus ist für die Uno Neuland. Er tangierte die Kompetenzen des Sicherheits­rates – und manch ein Land fürchtet, dass auch ihm mal eine unwillkommene Untersuchungs­behörde aufgezwungen werden könnte. Entsprechend skeptisch geben sich viele der Mitglieds­staaten.

Wenaweser und Al Thani können sich nicht auf die Kraft ihrer Idee verlassen. Sie müssen alles unternehmen, um die nötigen Stimmen zu besorgen.

Die heissen Drähte der Telefon­diplomatie

Dass im Welt­parlament überhaupt abgestimmt wird, ist ungewöhnlich. Die meisten Resolutionen passieren die General­versammlung per Akklamation. Angestrebt wird stets der Konsens, nicht die Mehrheit. Doch im Fall von Resolution 71/248, die gegen einen Mitglieds­staat und seine Verbündeten zielt, ist der Konsens von vornherein ausgeschlossen.

Also muss eine Mehrheit her. Und Mehrheiten holt man wie in jedem Parlament bei den Hinter­bänklern, in diesem Fall den vielen Dutzend kleinen und mittleren Mitglieds­staaten. Denn in der General­versammlung hat jeder Staat eine Stimme, egal ob zehntausend Einwohner oder hunderte Millionen.

Christian Wenaweser setzt an, die europäischen Staaten für sein Vorhaben zu gewinnen. Die Katarerin Al Thani klopft bei ihren Nachbarn im Nahen Osten an. Der Vollständigkeit halber sei hier angefügt: Das gelingt ihr zu jener Zeit noch besser als heute – damals pflegen Katar und Saudiarabien ein freund­nachbarschaftliches Verhältnis. Später beginnt eine Eiszeit, nachdem die Saudis Katar bei seinen Nachbarn diffamiert und die Versorgung des Landes blockiert haben. Alya Ahmed Al Thani bezeichnet diese Blockade durch Katars drei Nachbar­länder als illegal: «Sie lenkt die Golfregion von regionalen Problemen ab, unter anderem davon, eine politische Lösung im Syrien-Konflikt zu finden», sagt sie heute. Doch, insistiert die Botschafterin, Katar bleibe dabei und unterstütze die syrische Bevölkerung wie auch die Verfolgung der Verbrechen im Bürgerkrieg.

Als einige Bedenken bereinigt sind und der finale Resolutions­entwurf vorliegt, stehen bereits die Namen der 36 «Co-Sponsoren» fest – darunter die Schweiz, europäische und arabische Staaten, aber auch Länder wie Kanada, Costa Rica, die Malediven und Botswana.

Doch damit ist die Sache noch längst nicht eingetütet. Denn Wenaweser weiss: Wenn er seine Idee überlebensfähig machen will, muss er ein starkes Zeichen setzen. Er braucht mehr als hundert der 193 Stimmen. Enthaltungen zählen zwar für das Ergebnis nicht, sind es aber zu viele, steht das Schicksal einer Resolution auf tönernen Füssen.

Es ist ein Rennen gegen die Zeit, in dem sich Wenaweser und Al Thani befinden: Assad und Russland intensivieren ihre Offensive auf Aleppo im November, die humanitäre Tragödie bildet das Momentum, die Aufmerksamkeit der Welt­öffentlichkeit ist gegeben – es wird jetzt klappen oder nie.

Noch vor Weihnachten 2016 muss die Abstimmung stattfinden, ist Wenaweser überzeugt.

Das Hearing zum Resolutions­entwurf findet am Freitag­nachmittag statt vor der letzten Arbeits­woche des Jahres, dem 16. Dezember. Sollte es den Gegnern gelingen, die Sache zu verzögern, Schlaufen einzubauen, müsste die Abstimmung verschoben werden – auf nach Weihnachten.

Syrien, das sich gegen die Resolution wehrt, würde es vermutlich gelingen, eine Verzögerung hinzubekommen, mutmasst Christian Wenaweser. Und ist das Vorhaben erst einmal zurückgestellt, könnte die politische Dynamik schnell eine andere sein. «Momentum gehört ins Lieblings­vokabular jedes Uno-Diplomaten», sagt Wenaweser.

Auf dem Schluss­spurt macht Syrien einen entscheidenden Fehler: Das Land ruft zum Boykott der Gespräche auf. Und nimmt sich selbst damit jede Möglichkeit, der Resolution Steine in den Weg zu legen. Russland hingegen tritt am Hearing auf, allerdings bleibt der damalige Botschafter, der charismatische Witali Tschurkin, der Veranstaltung fern. Stattdessen taucht ein subalternes Mitglied der russischen Delegation auf. Warum? Die Russen könnten etwa unter ihrem Einfluss stehende afrikanische Staaten dazu bringen, Bedenken gegen dieses oder jenes Detail einzuwerfen. Doch auch sie verzichten darauf, auf der Klaviatur der Verzögerung zu spielen. Stattdessen stellt Christian Wenaweser, der das Hearing leitet, verwundert fest: «Russland hat einfach Nein gesagt und ist nach Hause gegangen.»

Nach dem Hearing stehen Wenaweser, Al Thani und ihre Verbündeten vor der entscheidenden Frage: Zur Abstimmung bringen oder nicht? «Einzelne Staaten hatten Bedenken», erzählt Wenaweser. «Aber wir zogen es durch.» Es ist Freitag­abend. Nun beginnt die entscheidende Lobbying­phase. Die Sponsoren der Resolution 71/248 nehmen die Hörer in die Hand. Nun beginnt ein Telefon­marathon.

Lange blieben die USA ein unsicherer Faktor. Die Supermacht behält die Dossiers lieber im Sicherheits­rat – auch dann, wenn dieser handlungsunfähig wird. Würde die liechtensteinische Resolution durchkommen, beträten die Vereinten Nationen Neuland. Und Neuland stellt aus Sicht der Vetomächte immer ein Risiko für die bestehende Ordnung dar.

Doch dann sagt Samantha Power, die damalige amerikanische Uno-Botschafterin der Obama-Regierung, kurz vor Endspurt ihre Unterstützung zu. Und auch in der Mission der Vereinigten Staaten beginnt man nun zu telefonieren. Quasi in letzter Sekunde mobilisieren die Amerikaner etliche Staaten, hauptsächlich auf dem afrikanischen Kontinent.

Denn es geht nicht einfach um eine Mehrheit. Es geht um eine satte Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Welt­gemeinschaft ein Zeichen aussenden würde: Seht her, wenn der Sicherheits­rat sich im Kreis dreht, übernehmen wir die Führung.

Wenaweser und Al Thani spüren das Adrenalin im Blut, als am Mittwoch nach der letzten Anhörung die Abstimmung ansteht. Der Moment ist gekommen. Jetzt oder nie.

Tag der Entscheidung, ein Mittwoch

Am 21. Dezember 2016 stellt Liechtenstein seine Resolution in der General­versammlung vor. Wenaweser greift in seinem Statement die Vetomächte Russland und China an: Ihr Handeln im Sicherheits­rat habe die multilaterale Diplomatie zusammenbrechen lassen. Und zu Syrien sagt er, es sei die Aufgabe des jeweiligen Landes, Verbrechen zu untersuchen und Täter zu verfolgen. Fehle das, seien andere Schritte nötig.

Der Vertreter Syriens bezeichnet den Vorgang als illegal, zahlreiche andere Länder sprechen davon, dass zwar der Konflikt beendet werden müsse, die Resolution aber nicht der richtige Weg sei.

Dann die Abstimmung.

15 Staaten lehnen ab. 53 enthalten sich der Stimme. Und 105 Staaten stimmen zu. Damit haben Wenaweser und Al Thani ihre über hundert Stimmen. Zu den Nein-Sagern gehören neben China und Russland etwa Kuba, Venezuela, Weissrussland, Nordkorea und der Iran, «die üblichen Verdächtigen», wie westliche Diplomatinnen sie nennen.

Der Repräsentant von Syrien in der Uno, Bashar al-Jaafari (mittlere Reihe, 3. v. l.), während der Abstimmung über die Resolution 71/248 am 21. Dezember 2016. Er bezeichnet die Resolution als illegal und als Gefahr für eine Lösung im Syrien-Konflikt. Volkan Furuncu/Anadolu Agency/Getty Images

Nun ist der Weg für den IIIM frei. Obwohl bitte keine Wunder zu erwarten sind, wie die Botschafterin der USA bereits in der Debatte klarstellt. Samantha Power: «Die Arbeit des Mechanismus wird voraussichtlich technisch sein und sich hinter den Kulissen abspielen. Aber er hat das Potenzial, einen entscheidenden Part darin zu spielen, was wir alle kommen sehen: die Abrechnung dafür, was in Syrien geschehen ist.»

Der Grundsatz der Uno, der es dem Sicherheits­rat vorbehält, Mandate für die Verfolgung von Kriegs­verbrechen und Völker­mord auszusprechen – dieser Grundsatz hat nun seinen ersten Riss bekommen.

«Eine Form von Gerechtigkeit»

Wenn Catherine Marchi-Uhel aus dem Fenster des Modulbaus neben der Villa la Fenêtre in Genf schaut, sieht sie den See, das gegenüber­liegende grüne Ufer. Und dahinter den Mont Blanc, mit seiner immerweissen Spitze. «Eine friedliche Umgebung ist wichtig für unsere Arbeit», sagt sie, die früher über Massaker oder ethnische Säuberungen zu Gericht sass. «Wenn Sie täglich mit diesen Themen konfrontiert sind, birgt das Risiken.» Ihre Mitarbeiter, sagt sie, könnten angesichts der Gewalt­bilder, die sich auf ihren Bildschirmen wiederholen, sekundäre Traumata entwickeln.

Keine zwei Jahre, nachdem die General­versammlung der Vereinten Nationen Wenawesers und Al Thanis Resolution angenommen hat, ist der Mechanismus bereits auf halbem Weg.

Obwohl er noch durch Zuwendungen einzelner Mitglieder finanziert wird und noch nicht im Budget der Uno integriert ist. Auch wenn noch gut 30 der rund 60 Mitarbeiterinnen fehlen, etwa Spezialisten für die Opferbetreuung oder Informationsauswertung.

Die Baustellen, die Christine Marchi-Uhel noch im und um ihr Gebäude hat, sie sind zahlreich.

Zwei Fälle hat die Chefin in nächster Zeit in Aussicht gestellt. Worum es geht und wo sie verhandelt werden dürften, will sie nicht sagen. «Die Opfer werden erkennen, dass es eine Form von Gerechtigkeit gibt», verspricht sie. Und: «Wir werden jede juristische Gelegenheit packen, die sich uns bietet.» Vielleicht wird es eines fernen Tages gar ein syrisches Gericht sein, das ihre Fälle verhandelt – vorausgesetzt, ein solches Gericht wird die Anforderungen der Uno, etwa in Sachen Menschenrechts­standard, erfüllen können. In anderen Ländern gelang das trotz jahrelang tobender Bürger­kriege auch.

Inzwischen hat der Uno-Menschenrechts­rat ein ähnliches Mandat für Burma verabschiedet: Ein Mechanismus soll Beweise für Verbrechen gegenüber ethnischen Minderheiten wie den Rohingya sammeln. Der neue Weg, den Christian Wenaweser und Alya Ahmed Al Thani in New York mit ihrer Resolution gegangen sind, macht also bereits Schule. Er hat der Welt­gemeinschaft gegenüber dem Sicherheits­rat den Rücken gestärkt.

Und er hat gezeigt, dass die kleinen, mittleren – und einige grosse – Länder das Schicksal eines Volkes im Konflikt­fall nicht zwingend an zerstrittene Gross­mächte delegieren müssen.

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