Vis-à-vis von «La vie»

Ein Publikums­magnet sondergleichen – die Fondation Beyeler bei Basel zeigt «Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode». Was ist da zu sehen? Genauer: Was ist das Sichtbare, was das Unsichtbare in den Museums­räumen und auf den Bildern?

Ein Essay von Gianna Molinari, 27.03.2019

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Ich sage nicht alles, aber ich male alles, sagte er und schuf 50’000 Werke.

Auf der Mittleren Brücke wehen Picasso-Fahnen. In Unterführungen, Überführungen, an Seiten-, Haupt­plakatwänden und -säulen. Fast hinter jeder Strassen­ecke lauert ein Picasso. Ich frage mich, wie viele davon insgesamt in Basel hängen. Wie viele Originale und wie viele Reproduktionen.

Ich stehe eine Stunde vor den regulären Öffnungs­zeiten der Ausstellung «Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode» pünktlich um 9 Uhr vor dem Eingang des Museums. Die erste Eingangs­tür surrt, ich öffne sie. Hinter mir muss sie zuerst ins Schloss fallen, bis die zweite Eingangstür ebenfalls surrt und sich öffnen lässt.

Das ist ein Schleusenkonzept, das ist für die Sicherheit, sagt Herr Sollberger von der Kommunikationsabteilung und bittet mich nun ganz hinein ins Foyer der Fondation Beyeler.

Ein Elektriker sitzt in einer Ecke und testet die Storen. Der Aufsichtsleiter (Uwe, wie ich von Herrn Sollberger erfahre) durchquert mit grossen Schritten den Raum. Menschen räumen den Shop ein, bringen auf Schiebewagen neue Ware. Im Foyer herrscht geschäftiges Treiben.

Ich frage Herrn Sollberger, welche weiteren ersten Handgriffe normalerweise getätigt werden an einem gewöhnlichen Museums­morgen, und erfahre, dass gewisse Bilder über Nacht Pyjamas angezogen bekämen. Diese Pyjamas sind weisse Stoffe, die über die Bilder gehängt werden, damit diese, sobald das Museum schliesst und bis kurz vor Museums­öffnung, so wenig wie möglich dem Tageslicht ausgesetzt sind. An einem gewöhnlichen Museums­morgen gehört es zu den ersten Handgriffen, die Pyjamas von den Bildern zu nehmen und die Bilder sichtbar zu machen für den beginnenden Museumstag.

Ich folge Herrn Sollberger durch die besucherleeren Räume und bin nur mit Herrn Sollberger und Picasso im Beyeler, was mir noch nie passiert ist.

Mein Blick streift blaue Hände und rosa Füsse, gesenkte Gesichter, mit Augen tief in Augen­höhlen, und Gesichter ohne Augen. Wie viele blaue Hände, wie viele rosa Füsse sind in diesen Räumen zu sehen? Wo sind die Augen?, frage ich mich und sehe sie nicht. Und da, wo ich welche sehe, frage ich mich, wohin sie blicken. Was ist das Sichtbare, das Unsichtbare in diesen Räumen auf diesen Bildern?

Ich frage Herrn Sollberger, was es mit den kleinen Löchern in den Wänden auf sich hat, und er sagt, dass dort die Lufttemperatur und die Luft­feuchtigkeit gemessen werden. Diese zu messen sei wesentlich, das Raum­klima müsse eine Konstante sein. Wenn beispielsweise am Wochenende viele Besucherinnen und Besucher kommen, dann steigen Luft­temperatur und Luft­feuchtigkeit, und dann muss die Klima­anlage das regeln.

9.25 Uhr – das Licht geht an: Tageslicht vermischt sich mit Kunstlicht. Und wir stehen vor «Femme (Epoque des ‹Demoiselles d’Avignon›)» von 1907.

Das Bild sei wichtig für die Beyelers gewesen, sagt Herr Sollberger. Es gebe eine Geschichte dazu, die ihm gefalle, dass nämlich Ernst Beyeler das Bild verkaufen wollte und Hildy Beyeler dann ihre gepackten Koffer unter das Bild gestellt und gesagt habe, wenn das Bild gehe, dann gehe auch sie. Und das habe sie wohl sehr bestimmt gesagt, sodass das Bild blieb und Hildy auch.

So oder so ähnlich habe das Hildy gesagt, sagt Herr Sollberger, der jetzt auf die Uhr schaut und meint, dass nun die Schulklasse jeden Moment kommen werde. Diese dürfe vor den Öffnungs­zeiten begleitet durch die Ausstellung gehen. Bis zu tausend Schulklassen besuchten pro Jahr das Beyeler-Museum. Ich versuche mir tausend Schulklassen vorzustellen und überlege mir, was diese Anzahl Menschen für Auswirkungen auf die Klima­anlage haben könnte, aber da kommt auch schon die Schulklasse herein.

Herr Sollberger bringt mich zurück ins Foyer, wo ich den Kurator der Ausstellung, Herrn Bouvier treffe. Wir setzen uns in den Winter­garten, und mit Blick in die Winter­landschaft sagt Herr Bouvier, dass in der Ausstellung Bilder hängen, die vielleicht fünfzig, sechzig Jahre nicht mehr der Öffentlichkeit gezeigt worden seien. Und im Verlaufe der Recherche für die Ausstellung komme man plötzlich auf eine Spur und verfolge diese und könne Bilder ausfindig machen, die nicht mehr öffentlich zugänglich waren.

Von Herrn Bouvier erfahre ich, dass nicht alle Bilder reisen dürfen. Auch bei Werken aus Museen ist nicht immer klar, ob eine Leihgabe möglich ist.

Ich frage Herrn Bouvier, was ihm an der Ausstellung besonders gut gefalle. Der grosse Raum, in dem «La vie» hängt, sei schon ein Höhepunkt der Ausstellung. Was weniger mit seiner Arbeit als mit den Bildern zu tun habe, fügt er unmittelbar an und lacht ein wenig. Und in diesem Lachen ist auf sympathische Weise mitzulesen, dass neben den Bildern für Herrn Bouvier doch auch seine Arbeit gelungen ist.

Dieser Raum zeige Bilder aus der Blauen Periode; der Tod von Picassos Freund Carles Casagemas, der sich in Paris in einem Café aufgrund einer unglücklichen Liebe erschoss, läute diese Periode ein, sagt Herr Bouvier. Picasso malte den Freund viele Male. Zwei dieser Bilder, auf denen der Freund auf dem Toten­bett liegt, hängen nun links und rechts von Picassos blauem Selbstporträt an einer Wand. Diese Wand tritt mit der Wand vis-à-vis, an der «La vie» hängt, in einen Dialog. Skizzen von Picasso weisen darauf hin, dass er auf diesem Bild ursprünglich sich selber darstellen wollte. Erst im Verlauf der Arbeit am Bild übermalte er sein Gesicht mit dem Gesicht seines verstorbenen Freundes. Die Gesichter der beiden Freunde, auf der einen Wand als Einzel­porträts, sind auf dieser Wand über-, untereinander, gemeinsam auf einem Bild.

Picasso habe viel übermalt, auch aus Mangel an Geld, sagt Herr Bouvier, und so frage ich mich nun bei jedem Bild, was wohl auch noch darunter liegt und was im Museum an Unsichtbarem hängt, die Bilder unter den Bildern.

Ob ihn auch die Rückseiten der Bilder interessieren, frage ich Herrn Bouvier, worauf er antwortet, dass ihn die Vorderseite schon mehr interessiere, aber zu jedem Bild gehöre auch eine Rückseite, und es sei interessant zu sehen, was diese zu erzählen habe. So seien gewisse Bilder von Picasso auch auf der Rückseite bemalt, «La gommeuse» beispielsweise. Auf der Rückseite seien auch die Provenienzen sichtbar, dort befänden sich beispielsweise Etiketten von früheren Kunst­händlern oder von Museen, die die Bilder auch schon einmal ausgestellt hatten. Daraus könne die Präsentations­geschichte des Bildes abgelesen werden, sagt Herr Bouvier.

Ob er ein Lieblings­detail habe, frage ich und denke an mein Lieblings­detail, an die Farb­proben am oberen Rand von «Femme».

Die Hals­krausen der Harlekine finde er sehr berührend, sagt Herr Bouvier, diese seien von einer Feinheit, Zerbrechlichkeit auch, die sich in den Gesichtern widerspiegle; die Stofflichkeit in diesem Spiel von Licht und Schatten.

Ich frage Herrn Bouvier, ob er schon einmal von Picassos Bildern geträumt habe.

Vielleicht habe er einmal geträumt, dass «La vie» zugesagt worden sei, bevor das Bild wirklich zugesagt worden sei.

Ich mache eine letzte Runde durch die Räume, belausche eine Schulklasse und höre, dass ein Kind auf die Frage, was denn eine Palette sei, antwortet: Ein Bumerang mit Farben darauf. Und auf die Frage, was die Figuren auf dem Bild machen würden, sagt ein anderes Kind, dass die Figuren traurig seien. Das würden sie machen, das Traurig­sein.

Und das gefällt mir gut, was das Kind da sieht und dass Figuren das machen können.

Von den Bildern schauen mich Augen an oder eben gerade nicht an, und die Blicke vom Aufsichts­leiter Uwe und seinem Aufsichts­team schauen mich auch an und die Kameras, die in jedem Raum sind, und dann habe ich ein bisschen genug von all den Augen oder Nichtaugen, von all dem Schauen und gehe mit einem letzten Blick über die Schulter und sehr beglückt durch die Menschen­traube, die vor dem Museum ansteht, hinaus.

Zur Ausstellung

«Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode» ist noch bis 26. Mai 2019 in der Fondation Beyeler zu sehen.

Zur Autorin

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Bei den Tagen der deutschen Literatur 2017 in Klagenfurt wurde sie mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Ihr Debüt «Hier ist noch alles möglich» (Aufbau-Verlag, Berlin 2018) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis; es erhielt den Robert-Walser-Preis.

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