Die nicht gestellte Frage zum Steuer-AHV-Paket

Die Steuer-AHV-Vorlage verletzt die Einheit der Materie. Darüber wird seit Monaten debattiert. Doch über eine andere staatspolitische Frage, die viel grundlegender ist, wird nicht gesprochen.

Ein Gastbeitrag von Alain Griffel, 27.03.2019

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Am 19. Mai stimmen wir über die Steuer-AHV-Kombi­packung ab. Ist diese nun gut oder schlecht? Ich habe dazu, losgelöst vom konkreten Inhalt der Vorlage, eine ambivalente Haltung. Auf der einen Seite stimmt etwas nicht; man nennt dies «Einheit der Materie». Auf der anderen Seite spüren wir intuitiv: Das Parlament muss doch politische Kompromisse schliessen können, um in verfahrenen Situationen voranzukommen.

Einheit der Materie bedeutet, dass zwischen den einzelnen Elementen einer Abstimmungs­vorlage ein sachlicher Zusammen­hang bestehen muss. Will heissen: Man darf Äpfel und Birnen nicht in einen Topf werfen, weil die Stimm­berechtigten sonst ihren Willen nicht unverfälscht zum Ausdruck bringen können (nämlich dann nicht, wenn sie zwar Äpfel mögen, nicht aber Birnen). Die Bundes­verfassung gewährleistet jedoch genau dies: einen Anspruch auf unverfälschte Willens­kundgabe. Daraus leitet sich das Gebot der Einheit der Materie ab.

Zugeschnitten ist dieser Grundsatz auf Volks­initiativen, die zu einer Teil­revision der Verfassung führen. Bei Gesetzen muss er differenzierter gehandhabt werden. Klar und gänzlich unbestritten ist, dass es weiterhin zulässig ist, ein ganzes Gesetz zu erlassen wie beispielsweise das Zivil­gesetzbuch (ZGB), welches verschiedene Themen in sich vereint (Eherecht, Erbrecht, Vereins­recht, Eigentum usw.). Hier aber geht es um etwas anderes: Hier wurden zwei Materien, die keinerlei Zusammen­hang aufweisen, gerade und nur deshalb ins gleiche Gesetz gepackt, um eine separate Abstimmung darüber zu verunmöglichen. Die Verbindung ist also rein abstimmungs­taktisch motiviert; man soll nur zu beidem zusammen Ja oder Nein sagen können. Damit ist die rote Linie eindeutig überschritten und die Einheit der Materie verletzt, jedenfalls nach heutigem Rechts­verständnis. Dies dürfte unter Staats­rechtlerinnen und Staats­rechtlern denn auch weitgehend unbestritten sein, auch wenn das Bundes­amt für Justiz in einem Gutachten von einem «Grenzfall» sprach. Zwischen dem Typ ZGB und dem Typ Steuer-AHV-Kombi­gesetz befindet sich, wie so oft im Recht, ein relativ grosser Unschärfe­bereich, in dem es kein eindeutiges Zulässig oder Unzulässig gibt. Wer das seltsam findet, weiss nicht, wie das Recht funktioniert.

Nur nebenbei: Die Frage der Zulässigkeit des Steuer-AHV-Gesetzes wird so im Raum stehen bleiben und nie gerichtlich geklärt werden. Denn die Schweiz leistet sich bekanntlich die Eigentümlichkeit, dass Bundes­gesetze auch dann gelten, wenn sie der höherrangigen Verfassung (hier also dem Gebot der Einheit der Materie) widersprechen. Bundes­gesetze können vom Bundes­gericht nicht auf ihre Verfassungs­mässigkeit überprüft werden. Das eidgenössische Parlament hat es bis heute stets abgelehnt, eine verfassungsgerichtliche Nach­kontrolle seines eigenen Tuns zuzulassen. Es kann letztlich also tun, was es will. Und tut dies zuweilen auch.

Reformstau und direkte Demokratie

Hinter dem Steuer-AHV-Deal steht jedoch noch eine andere, viel grundlegendere staatspolitische Frage, über die eigenartigerweise nicht gesprochen wird: Welches Niveau an direkter Demokratie können wir uns (noch) leisten? Die Schweiz ist nach der Jahrtausend­wende in einem Zustand der Reform­unfähigkeit angekommen. Die Reform der Alters­vorsorge ist ebenso gescheitert wie die Reform der Unternehmens­steuern. Eine Regierungs­reform, welche unsere Staats­leitungs­strukturen vom 19. ins 21. Jahrhundert überführen sollte, dümpelte zwanzig Jahre lang vor sich hin und endete im Nichts. Und unser Verhältnis zu Europa werden wir vermutlich nie klären; das faktisch wohl bereits beerdigte Rahmen­abkommen mit der EU lässt grüssen.

Schuld an dieser Blockade in zentralen, ja existenziellen Fragen unseres Staats­wesens ist in erster Linie die Verhärtung der politischen Fronten – in Kombination mit dem Referendum. Referendums­fähige Parteien zur Linken und zur Rechten sind ohne weiteres in der Lage, ein ihnen nicht genehmes Gesetz via Volks­abstimmung und gut alimentierte Kampagne zu bodigen. Das Referendum wandelte sich dadurch zunehmend vom vorwirkenden Hebel für Kompromisse zum Blockade­hebel. Um nicht missverstanden zu werden: Das sage ich als klarer Befürworter der direkten Demokratie. Aber man darf diese nicht einfach im Stil von 1.-August-Reden verklären.

Demokratie und Rechts­staatlichkeit sind denn auch keine festen Grössen, sondern kennen verschiedene Entwicklungs­stufen. So war die Schweiz bereits nach der Bundes­staats­gründung im Jahr 1848 eine Demokratie, obwohl das Gesetzes­referendum erst 1874 eingeführt wurde, die Volks­initiative auf Teilrevision der Bundes­verfassung sogar erst 1891. Und sie ist seither eine direkte Demokratie, ungeachtet der Tatsache, dass wir auf Bundes­ebene – anders als in den Kantonen – weder das Gesetzes­initiativ­recht noch das Finanz­referendum für staatliche Ausgaben kennen. Ebenso ist sie ein Rechts­staat, obschon gegenüber Bundes­gesetzen, wie erwähnt, bedauerlicherweise keine Verfassungs­gerichtsbarkeit besteht. Es geht also nicht um Schwarz oder Weiss, sondern um Grautöne, um feine Abstufungen.

Sollte es Schule machen, was das Parlament mit der Steuer-AHV-Vorlage getan hat – ein bewusstes Verunmöglichen einer differenzierten Willens­kundgabe durch die Stimm­berechtigten –, so wird das bisherige Niveau der direkten Demokratie wieder ein Stück weit abgesenkt. Wohlgemerkt: nicht wegen der Globalisierung, nicht wegen der EU, nicht wegen fremder Richter, sondern unseretwegen. Das ist staatspolitisch nicht wirklich ein Drama, auch wenn es dem geltenden Recht widerspricht; denn das Parlament ist ja das demokratisch gewählte Legislativ­organ, in dem es Platz haben muss für politische Kompromisse.

Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass National- und Ständerat das Niveau der direkten Demokratie gerade eben um eine ganze Umdrehung heruntergeschraubt haben – allerdings ohne es zu sagen. Durch dieses So-tun-als-ob-es-korrekt-wäre erhielt die Vorlage den Beigeschmack eines Gewurstels, eines unsauberen Hinter­zimmer­deals, was in jeder Beziehung ungut ist. Denn es nagt an der verfassungs­mässigen Ordnung und schürt in der Bevölkerung berechtigtes Misstrauen, welches sich am Abstimmungs­tag sogar als Bumerang erweisen könnte. Sprechen wir doch darüber, ob wir unsere direkte Demokratie angesichts der sich häufenden Reform­blockaden nachjustieren müssen! Und schaffen wir doch in einem demokratischen Prozess die entsprechenden gesetzlichen Grund­lagen, an die sich dann auch das Parlament wird halten müssen.

Zum Autor

Alain Griffel ist Professor für Staats- und Verwaltungs­recht an der Universität Zürich. Mit seinen Kolumnen will er die staatspolitisch interessierte Öffentlichkeit zum Nachdenken anregen.

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