Sascha, 26, non-binär – Teil 4

Was heisst schon natürlich?

Nicht was zwischen den Beinen sitzt, macht die Geschlechts­identität aus. Sondern was zwischen den Ohren ist. Und doch werden Intermenschen immer noch in eine «Natürlichkeit» gezwungen. Teil 4 der Serie «Sascha, 26, non-binär».

Von Sascha Rijkeboer (Text) und Anne Gabriel-Jürgens (Bilder), 26.03.2019

Was heisst schon natürlich?
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Ich sitze im ICN von Basel nach Zürich, während ich diesen Text schreibe. Oder von Bern nach Olten. Es spielt keine Rolle: Ich düse gerade mit 150 km/h durchs Schweizer Mittelland.

Im 19. Jahrhundert warnten Ärzte vor dem Zugfahren, auch wenn die damaligen Lokomotiven erst mit 30 km/h unterwegs waren. Die Seelen der Fahrenden würden zurückbleiben oder es könnten schwere Gehirn­erkrankungen eintreten. Die Gebär­mutter könnte kaputtgehen. Kurzum: Es wurde als nicht natürlich angesehen, dass sich ein Mensch so schnell bewegt.

Es gibt vieles, das früher nicht natürlich war, zum Beispiel einen Herz­infarkt überleben, reanimiert werden, in einem kontrollierten Koma liegen und wieder aufwachen – Dinge, die heute natürlich behandelt werden können. Die meisten Schweizer*innen haben mit dreissig noch immer alle ihre Zähne, was wir nicht als unnatürlich oder künstlich wahrnehmen, auch wenn Zahn­bürsteli und Zahn­pasta nicht auf Bäumen wachsen. Es gibt demnach vieles, was heute als natürlich gilt.

Wir haben ein ziemlich verqueres Bild von Natürlichkeit – oder Künstlichkeit. Bei genauerem Hinsehen fällt es schwer, einen Nullpunkt der Natürlichkeit auszuloten. Wo fängt Natürlichkeit an und wo hört sie auf? Und was ersetzt sie dann?

Wir sind uns wohl alle einig, dass eine «echte» Ananas natürlich ist und eine aus Plastik nicht, vorkommen tut sie natürlicherweise in der Schweiz aber einewäg nicht. Vielleicht ist das aber auch der falsche Gedanke. Man könnte stattdessen auch folgende Frage stellen: Ist die Plastik-Ananas überhaupt eine Ananas?

«Genau!», klatscht mein Gegenüber erfreut! «Ein Trans­mann ist eben kein Mann, er ist eben keine Ananas! Er ist ... zum Beispiel eine Mandarine, die eine Ananas sein will!»

Ich bin da anderer Meinung und finde diese Reduktion verletzend. Nicht das bei Geburt zugewiesene Geschlecht ist entscheidend dafür, was für ein Geschlecht ein Mensch hat, sondern seine Geschlechts­identität. Das, was im Kopf passiert, also was zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen sitzt.

Dieses Denken fiel mir – bevor ich mich geoutet und mich eingehend mit meiner Geschlechts­identität und Geschlecht/Gender auf einer theoretischen Ebene auseinandergesetzt hatte – sehr schwer. Für mich gab es zwei Geschlechter, die sehr eindeutig voneinander zu unterscheiden waren. Für mich war klar: Ich sehe das Geschlecht, ja.

Heute denke ich anders. Zuallererst ist die Vorstellung absurd, jemandes Genitalien zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Genitalien sind aber immer noch der Parameter, an dem Geschlecht festgemacht wird. Ob ich eine Frau oder ein Mann sein soll, wird anhand der Beschaffenheit meiner primären Geschlechts­merkmale festgelegt. Diese Festlegung bringt dann eine Reihe an Auferlegungen von Geschlecht mit sich: Mir wurde ein weiblicher Vorname gegeben, meine Eltern, meine Grosseltern, meine Lehrer*innen, Mitschüler*innen, Verwandten, die Person an der Coop-Kasse verwendeten weibliche Pronomen für mich. Sie alle begegneten mir als Mädchen. Sagten zum Beispiel, ich sei härzig oder es Liebs oder «duesch luege, dass nid dräckig wirsch, süsch muess dis Mami das aues putze – wenn de du mau gross bisch und Ching hesch, weisch de wie das isch». Ich wurde infolge der Beschaffenheit meiner Vulva als Mädchen erzogen, mir wurde gesagt, ich würde später auch Mutter sein, und mir war klar, was das bedeuten würde: zu Hause sein, putzen, kochen und Kinder erziehen.

Das ist nicht natürlich. Es ist lediglich eine Vorstellung davon, was natürlich ist. Es ist weder natürlich, dass sich eine Person als Frau identifizieren muss, noch dass diese Identifikation etwa mit Rosa, Blumen­sträussen, glatt rasierten Beinen, Röcketragen, Highheels und Lippen­stift korrelieren muss. Und auch nicht, dass jede Person, die sich als Frau identifiziert, zu Hause sein, putzen, kochen und Kinder erziehen muss.

Wir lernen Geschlecht. Sehen, was es bedeutet, kriegen gesagt, dass wir dieses oder jenes Geschlecht sind, und adaptieren es dann in unsere individuelle Lebens­gestaltung. Wir entwickeln eine Geschlechts­identität und leben sie in der Regel innerhalb der uns vorgelebten Muster.

Wir üben Geschlecht jeden Tag, in dem wir es reproduzieren. Zum Beispiel, indem ein Mann sich maskulin gebärdet – das wird als natürlich betrachtet; sobald dieser effeminiert geht oder die Beine übereinanderschlägt, wird seine Männlichkeit infrage gestellt, wird ihm vielleicht Homo­sexualität unterstellt, weil Homo­sexualität als unmännlich betrachtet wird. Das passiert, weil das Begehren von Männern in einer (patriarchal) hetero­normativen Logik etwas Weibliches ist.

Gleichzeitig wird aber genau das in der Regel von einem schwulen Mann erwartet: dass Schwule bitte auch Schwulen-Klischees erfüllen sollen.

Das passiert bei Trans­menschen auch: Will ein Trans­mann transitionieren, beginnt die Reproduktion der Natürlichkeit von Männlichkeit schon bei den Therapeut*innen: Trans­menschen, die stereotype binäre Identitäten aufzeigen, haben es leichter, medizinische Bedürfnisse gedeckt zu kriegen.

Mein Mastek-Bruder, den ich im Spital kennenlernte und mit dem zusammen ich die Sorgen und schlaflosen Nacht­spaziergänge am Tropf durch die Spital­flure verbrachte, ist ein sensibler, zurück­haltender Mann. Ich lernte ihn so kennen und mag ihn genau dafür sehr. Er erzählte mir, dass er, als er zu seinem Psychiater ging, um ein Attest für die Mastektomie zu erhalten, breitbeinig hingesessen sei, laut und bestimmt gesprochen habe, dem Psychiater erzählt habe, dass er gerne ins Fitness gehe und Fussball spiele, auf Frauen stehe und sie geil fände, Pink schrecklich finde usw. usf.

Er erhielt sein Treatment kurz darauf, im Gegensatz zu einem seiner Freunde, der wesentlich länger brauchte, um den gleichen Psychiater von seinem Transsein zu überzeugen, da er sich für Philosophie interessierte, gerne malte und tanzte.

Hier wird sichtbar, mit welcher Willkür und entlang welcher Normalität entschieden wird: In beiden Fällen geht es um Trans­männer. Diejenigen Trans­männer, die typisch männliche Attribute betonen, sind glaubhafter. Als ob es nur diese eine Männlichkeit gäbe.

Für mich als non-binäre Person, die innerhalb unseres binären Systems gar nicht existiert, war es wesentlich schwieriger, ernst genommen und behandelt zu werden: Ich wurde als Frau gelesen und kategorisiert, als Mensch, der kein Mann, aber auch keine Frau sein will. Das irritierte die Mediziner*innen ungemein, obwohl es medizinisch betrachtet eine nicht eindeutige binäre Geschlechtlichkeit durchaus gibt. Sie nennt sich «intersexuell», kurz «inter». Inter­menschen können nämlich nicht eindeutig einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden – sogenannt: natürlicherweise –, da sie hormonell, genetisch oder ihren primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen nicht eindeutig zuordnungsbar sind.

Intermenschen wurden und werden immer noch in eine Natürlichkeit gezwungen. Eine vorgestellte Idee davon, was ein lebenswertes menschliches Leben ist, das es nur als Mann oder Frau gibt. Inter­personen kennen eine grausige Historie an Verstümmelung, Pathologisierung und Verschweigung ihrer Existenz. Es ist die weiblich/männliche Norm­gesellschaft, die hier durchdrückt und ihre binär normierenden Mechanismen spielen lässt, indem sie Kinder ihrer geschlechtlichen Individualität beraubt und in ein Schema zu drücken versucht.

Im Zusammenhang der Normierung oder Anpassung an das sogenannt natürliche Vorkommen von Geschlechter­rollen ist die paradoxe Verkehrung interessant, die vor allem Trans­frauen erleben: Einerseits wird von ihnen erwartet, ein möglichst typisches Frauen­bild zu reproduzieren, da sie sonst als creepy Männer aus der Schmuddel­ecke wahrgenommen werden, andererseits wird ihnen ein sexistisches Reproduzieren von Weiblichkeit vorgeworfen, wenn sie genau dieses auf männliche Gefälligkeit sexualisierte Verhalten aktualisieren, indem sie sich schminken und hohe Schuhe tragen.

Transmenschen wird oft nicht geglaubt, obwohl sie die Expert*innen ihrer Geschlechts­identität sind. Und sowohl bei non-binären als auch bei binären Trans­menschen wird argumentiert, es sei nicht natürlich, sich Operationen zu unterziehen oder ein Pronomen zu verwenden, das nicht der Leseweise der Gesellschaft entspricht. Oder überhaupt keine Pronomen zu verwenden und unsere Sprache zu verhunzen.

Meine Forderung, keine Pronomen für mich zu verwenden, wird als Gender­wahn verschrien und als unnatürlich, als grammatikalisch falsch deklariert.

Trans­menschen befreien sich durch geschlechts­angleichende Massnahmen von ihrem Leidens­druck. Sei es durch Operationen, sei es, indem sie ihren Personen­stand oder ihren Vornamen ändern, sei es, indem sie bestimmte Pronomen wünschen. Sie tun das alles, weil es ihnen hilft. Und nicht, um die Mehrheits­gesellschaft zu provozieren.

Indem mich die Menschen Sascha nennen und geschlechtsneutral formulieren, wenn sie über mich reden, helfen sie mir und tun mir Gutes. Es geht mir dabei gut … oder besser.

Sie geben mir das Gefühl, dass sie mich ernst- und wahrnehmen. Das alles fühlt sich nicht künstlich an – im Gegenteil: Alles andere fühlte sich falsch und verdreht an. Endlich fühle ich mich frei. Endlich fühle ich mich ich. Ich danke Ihnen, die sich einfach und schwer damit tun, mir diesen «unnatürlichen» Gefallen zu machen. Vielleicht wird er sich ja auch für Sie eines Tages normal anfühlen.

Sascha, 26, non-binär

Teil 3

In der Pathologisierungs­maschinerie

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