Helden der Wichtigkeit

Der Mensch ist eine tierisch gute Rechtfertigungs­maschine. Vor allem, wenn er will, dass alles beim Alten bleibt.

Von Daniel Graf, 25.03.2019

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Vegetarierinnen und Veganer begegnen hin und wieder dem Eskimo. Also nicht dem Vertreter einer indigenen Völkergruppe (die sich diesen Namen nicht ausgesucht hat und die man vielleicht besser anders nennt). Sondern dem Eskimo als Argument.

Das geht zum Beispiel so. Gemeinsames Abendessen in grösserer Runde, man plaudert zwanglos. Bis sich bei der Auswahl der Speisen herausstellt: Einer am Tisch isst kein Fleisch. Abweichung ist jetzt das Damokles­schwert über der ausgelassenen Stimmung, und irgendwer reisst garantiert am Rosshaar und forscht nach den Gründen. Der Vegetarier hat nun folgende Möglichkeiten. Erstens: eine Nahrungsmittel­intoleranz erfinden. Zweitens: elegant das Thema wechseln (damit wird er nicht davonkommen). Drittens: die Wahrheit. Der Abend verläuft jetzt je nach Misch­verhältnis von Ehrlichkeit, Höflichkeit und Missionierungs­drang auf beiden Seiten.

«Aus tierethischen Gründen», sagt er und hofft, dass sich von hieraus doch noch ein Weg zu Option zwei ergibt. «Wie, und nicht mal Fisch?» – «Na ja ... ist ein Tier, oder?» – «Also ich ess auch nicht jeden Tag Fleisch. Und immer nur bio!» – «Sie müssen sich doch nicht rechtfertigen!» – «Wir kaufen nur bei der Metzg im Quartier.» – «Wirklich, Sie müssen nicht ...» – «Und nur von glücklichen Tieren!»

Noch sind die Aussichten auf einen friedvollen Abend nicht dahin. Aber wenn sich der Vegetarier jetzt auf den Exkurs zur Glücks­philosophie einlässt und laut über Lebens­freude auf der Schlacht­bank nachdenkt; wenn die Menü­folge von Argument und Recht­fertigung die Wangen schneller rötet als der Wein; und wenn ein paar Gänge später immer noch keiner Option zwei serviert, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass irgendwann einer der Fleisch­esser den letzten Stroh­halm im arktischen Eis sucht: «Und dem Eskimo auf der Scholle willst du den Fisch verbieten, oder was?»

Es ist der Moment, in dem eisiges Schweigen einsetzt. Die Vegetarierin denkt: Echt jetzt, du willst sagen, du verzehrst deinen Cervelat bloss, weil es in der Eiswüste nur Tiere gibt? Und die übrigen Fleisch­esser sehen ihre Felle davon­schwimmen, weil ihnen die Rede des Kollegen doch eher ein Bären­dienst war.

Nun hat es womöglich den Anschein, das hier sei ein Text über Tier­ethik. Aber das stimmt höchstens mit Blick auf den Menschen als das «sprachbegabte Tier».

Was die Tisch­szene zeigen soll: Der Mensch ist eine beeindruckende Rechtfertigungs­maschine. Und er läuft zur Höchstform auf, wenn er die Gefahr der Veränderung wittert.

Etwas unfreundlicher ausgedrückt: Wenn der Bauch schon entschieden hat, was der Kopf denken soll, geht uns Plausibilität meist am Aller­wertesten vorbei. Notfalls ist uns kein Gedanke zu weit hergeholt (nicht mal vom Polar­kreis), kein Argument zu doof, wenn alles so bleiben soll, wie’s ist. Sind wir nicht eine staunenswerte Kreatur? Der Mensch wird zum Hochleistungs-Sophisten, nur damit er träge bleiben kann!

Der aktuelle Dauerbrenner unter den Eskimo-Manövern ist die Frage, ob Problem X denn wirklich so wichtig sei.

Gendergerechte Sprache: Gibt es wirklich nichts Dringlicheres?

Geschlechts­identität von Transmenschen: Ja, haben wir denn sonst keine Sorgen?

Tierethik und Massen­tierhaltung: Weiss Gott grad nicht das Wichtigste!

Sanfte Gegenfrage: Was ist denn «das Wichtigste»? Wann haben Sie zuletzt Ihren Wochen­plan am gesellschaftlich Dringlichsten ausgerichtet? Ist der Mensch ein «Homo wichticus»?

Das Praktische an der Wichtigkeits­frage ist ja: Man kann sie bei allem stellen. Sie ist das Schweizer Taschen­messer unter den Argumenten: universell einsetzbar, wenn man grad was zum Abwiegeln braucht. Ausser beim Klima­wandel. Der ist so objektiv das wichtigste Problem, dass man ihn höchstens leugnen kann.

Neuerdings ist der Wichtigkeits­wettbewerb ja auch unter Linken wieder beliebt: Minderheiten­rechte? Wir müssen uns auf die soziale Frage konzentrieren! Kleiner Trost: Wenigstens verrät da mal einer, was er für wichtiger hält.

Normalerweise ermittelt das rhetorische Wichtigkeits­barometer nämlich vor allem, was nicht so wichtig ist. Nicht so wichtig ist eigentlich immer das, wovon gerade die Rede war. Womit man sich eventuell befassen müsste. Wenn es denn das Wichtigste wäre.

Ein Mindestmass an Political Correctness bei Diskussionen im Alltag? – Ja, gibt es denn keine grösseren Probleme? Ähm, doch. Siehe oben.

Aber womöglich ist das mit den grösseren Problemen ja so gemeint, liebe Heldinnen und Helden der Wichtigkeit, dass ihr einfach für die Bekämpfung des Klima­wandels alle Kraft, Energie und Klarsicht braucht? Weil sich, wenn wir das nicht in den Griff kriegen, auch das Priorisieren von Fragen bald erledigt hat? Und auch der «Eskimo auf der Scholle», wenn er denn die Wahl hätte, noch eher einen PC-Verstoss in Kauf nähme als das Wegschmelzen der Pole? Ist es das?

Dann könntet ihr euch doch vielleicht einreihen! Bei denen, die hier ebenfalls Priorität sehen, ohne sich deswegen Blindheit für alles andere aufzuerlegen.

Ein Vorschlag zur Güte. Oder weil hier dauernd von Tieren die Rede ist: eine Anstiftung zum Kuhhandel.

Die Priorisierungs­fetischisten bekommen ein verbrieftes Recht auf Ignoranz. Sie werden künftig von allen Substufen der Wichtigkeit entlastet. Ihre Kritikerinnen verpflichten sich zu Still­schweigen. Kein Wort des Zweifels gegen die Freunde der Ausschliesslichkeit! Aber unter einer Bedingung: volle Konzentration auf Prio eins! Twenty-four-seven widmen sich die Helden der Wichtigkeit der Rettung des Planeten – selbstredend mit prioritär geordneter To-do-List. Ein Leben streng entlang der Wichtigkeits­hierarchie! Das schliesst dann allerdings auch den Verzicht auf Bullshit­argumente ein. Allein schon aus Zeit­gründen.

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