Am Gericht

Ein billiger Entscheid

Das Bundesgericht in Luzern hat Kalorien gezählt und Rappen gespaltet. Das Ergebnis: 8.50 Franken pro Tag müssen einem Nothilfebezüger reichen, um sich diabetesgerecht zu ernähren.

Von Yvonne Kunz, 20.03.2019

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Ort: Bundesgericht, Luzern
Zeit: 15. März 2019, 9.30 Uhr
Fall-Nr.: 8C_603/2018
Thema: Sozialhilfe

Bei Diabetes mellitus Typ II, umgangssprachlich Zuckerkrankheit, gilt heute: Wer sich ausreichend bewegt und eine ausgewogene Diät einhält, kommt meist ohne Insulinspritzen aus. Ein besonders günstiger Einfluss wird Zimt, Ingwer, Kürbis- und Sonnenblumen­kernen zugeschrieben. Und ein heisser Tipp sind grüne Superfood-Smoothies aus Spirulinapulver, Lupinenmehl, Biofrüchten und Kokosöl. Und rohe Pistazien sollen Wunder wirken.

Der Beschwerdeführer, ein 45-jähriger Mann, spritzt sich fünfmal täglich Insulin. Rohe Pistazien könnte er sich nie leisten: 100 Gramm kosten über 10 Franken – mehr als sein Tagesbudget von 8.50. So viel steht dem abgewiesenen Asylsuchenden als Nothilfebezüger zu. Zu wenig für eine seinen Bedürfnissen angemessene Ernährung, sagt er. Seit 2014 kämpft er deshalb um eine Erhöhung auf 16 Franken pro Tag. Das Sozialamt des Kantons Zürich, die Sicherheitsdirektion und das Zürcher Verwaltungsgericht wiesen das Begehren ab.

Letzten Freitag befasste sich als nächste Instanz die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Luzern mit der Frage: Verstösst der Kanton Zürich mit seiner Haltung gegen Bundesrecht? Und, in grosser Ausführlichkeit, auch mit diätischen Problemen: Ist es möglich, sich mit 8.50 Franken diabetesgerecht zu ernähren? Ballaststoffreich, kohlenhydratarm. Selber kochen statt Dönerbude, Nüsse statt Chips, frisch statt fertig? In der öffentlichen Urteilsberatung vor dicht gefüllten Zuschauerrängen legten die fünf Bundesrichterinnen ihre kontroversen Meinungen dar.

Aber sicher lässt sich mit 8.50 Franken täglich gesund essen, glaubt die Referentin, Bundesrichterin Daniela Viscione. Einfach beim Discounter einkaufen und gescheit haushalten. Dabei stützt sie sich auf eine vierseitige Liste des Zürcher Sozialamts, mit der die Nahrungsmittel­preise akribisch ausgewiesen würden. Das Fazit: «Schon 6 Franken würden reichen.»

Für Junkfood vielleicht, erwidert Gegenreferent Jean-Maurice Frésard. Aber unmöglich für den Speiseplan eines schweren Diabetikers. Ein Budget von 8.50 sei auch für Gesunde schwierig, ohne spezielle Diätanforderungen.

Alexia Heine sekundiert knochentrocken Kollegin Viscione. Ein allfälliger Mehrbedarf müsse «lebensnotwendig und konkret akut» vorhanden sein. Schon zwei frühere Bundesgerichtsentscheide hätten dies hinsichtlich einer Diabetes-Erkrankung verneint. Für sie belegt «die allgemeine Erfahrung», dass eine ausgewogene Ernährung zählt, nicht teure Spezialprodukte.

Martin Wirthlin wiederum fehlen in einer «an sich lapidaren Problemstellung» die «äusseren Bezugsrahmen». Er zweifelt an der Beweiskraft der Preisliste des Zürcher Sozialamts – sie wurde im Sommer erstellt, da sei Frisches billiger. Auch spiele eine Rolle, wer mit dem Betrag auskommen müsse: eine Durchschnittsbürgerin oder jemand, der unter prekären Verhältnissen lebt, mit minimaler Kücheninfrastruktur.

Zudem sei nicht mal erstellt, ob die 8.50 Franken nur fürs Essen sind – oder auch für Kleider, Schuhe und Hygieneartikel. Die Zürcher Instanzen gaben sich diesbezüglich mit pauschalen Erklärungen des Sozialamts zufrieden – immerhin Partei im Verfahren. Doch wird die Frage des Umfangs in den Notunterkünften des Landes unterschiedlich gehandhabt. Ein Nachhaken beim Zentrumsleiter, wie es der Rechtsbeistand des Beschwerdeführers, Michael Brülhart, beantragt hatte: Nicht zu viel verlangt. Schon aus formellen Gründen müsse die Beschwerde deshalb gutgeheissen und für weitere Abklärungen nach Zürich zurückgewiesen werden, so Wirthlin.

Gerichtspräsident Marcel Maillard versucht festzustellen, was denn eigentlich das Thema sei. Nicht die 8.50 Franken, sagt er, sondern der Anspruch auf Erhöhung des Betrags. Und das sei vorliegend auch keine medizinische Frage; Krankenkost rechtfertige keinen Mehraufwand, das bestätigten nicht nur die gängige bundesgerichtliche Rechtsprechung, sondern auch die führenden Diabetologen und die entsprechenden Leitfäden.

Vor allem erinnert Maillard daran: Der Asylantrag des Beschwerdeführers sei seit 2012 rechtskräftig abgelehnt. Seit 2008 habe diese Personen kein Anrecht mehr auf Sozialhilfe, sondern nur noch auf Nothilfe – Nahrung, Obdach und medizinische Grundversorgung. Dafür sorge die Zürcher Sicherheits­direktion, so Maillard. Bundesrecht sei nicht verletzt worden.

Viele Worte verliert das fünfköpfige Gremium zur Rechtsgrundlage des strittigen Falls. Artikel 12 der Bundesverfassung hält fest: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»

Zur Detailfrage aber, was im Einzelfall für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich ist, bringen die Richter auch in einer zweiten Rederunde wenig Erhellendes – oder Juristisches – vor. Sie wiederholen ihre Argumente, gelangen gar selbst zum Schluss, man schiebe nur Behauptungen hin und her. Und sie stellen fest, man sei sich uneins. Insgesamt und in den Details – etwa, wer denn nun die Beweislast trägt: Muss der Staat beweisen, dass die 8.50 Franken reichen – oder der Beschwerdeführer das Gegenteil?

Referentin Viscione hält daran fest, das Sozialamt habe über Seiten hinweg «sämtliche Produkte» aufgeführt und aufgezeigt, dass 6 Franken reichten. Aber es hätte ohnehin der Beschwerdeführer darlegen müssen, weshalb 16 Franken nötig seien. Eben nicht, sagt ihr Gegenüber, Jean-Maurice Frésard, man sei ja nicht in einem Zivilprozess, in dem Forderungen substanziiert werden müssten. Der Kanton habe «absolut nichts unternommen», um abschliessend zu belegen, dass 8.50 reichen, um die empfohlenen Ernährungsregeln einzuhalten.

Polarisiert, unfokussiert, selektiv in der Wahrnehmung, lebensfremd. Wer sich hier eher in einem politischen statt in einem juristischen Betrieb wähnt, liegt wohl richtig. Die beiden Frauen, die so vehement vertreten, 8.50 Franken reichten, sind von der SVP. Die beiden Männer, die dies bestreiten, von der SP. Der Präsident ist CVPler. Mit drei bürgerlichen zu zwei linken Stimmen entscheidet das Gericht gegen den Beschwerdeführer.

Farce ist ein starkes Wort – aber in praktischer Hinsicht leuchtet in dieser höchstrichterlichen Runde nichts ein. Der springende Punkt bleibt unerwähnt: Im verschärften Nothilfe-Regime beziehen die Klienten die täglichen 8.50 Franken nicht wie früher jede Woche, sondern jeden Morgen. Das bedeutet konkret: Es ist ihnen verwehrt, günstige Produkte zu kaufen, die es meist nur in grösseren Mengen gibt. Ein Kilogramm Vollkornreis wird bei dieser Praxis schier unerschwinglich. Eine Peperoni und zwei Pilze kosten hierzulande schon 2 Franken – und zwar nicht im Gourmetladen. Da hilft auch ein zusätzlicher Spind nicht weiter, wie es Richterin Viscione vorschlägt.

Sicher, Pistazien und Superfood-Smoothies sind kein Menschenrecht. Bei Vollkornprodukten für Diabetikerinnen müssten jedoch auch Asylkritiker, die sich um falsche Anreize sorgen, über die Bücher. Denn damit könnten vielleicht längerfristig die Kosten für das Insulin von 400 Franken monatlich eingespart werden. Das dient der Menschenwürde des Beschwerdeführers – und es dient der Staatskasse.

Illustration Friederike Hantel

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