Eidgenössische Randnotizen

Der Denker und die Murmeltierwurst

Von Florian Oegerli, 18.03.2019

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Was wäre die Schweiz ohne die Alpen? Immer wieder haben sie Künstlerinnen und Denker angezogen und zu geistigen Höhen­flügen inspiriert. Nur der schwäbische Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah das bei seiner einzigen Alpen­reise etwas anders.

«Diese Gletscher» böten «weiter nichts Interessantes dar», heisst es in seinem Reisetage­buch von 1796. Trat man näher, wurde es gar noch schlimmer: «Wer eine breite, bergabgehende kotige Strasse, in der der Schnee angefangen hat, zu schmelzen, gesehen hat, kann sich von der Ansicht des unteren Teils der Gletscher (…) einen ziemlichen Begriff machen.» Gut, wusste Hegel nichts davon, dass sich zweihundert Jahre später Touristen einen Spass draus machen würden, die Schnee­hänge hinunterzubrettern. Sonst hätte er seine Vorstellung von der «Vernunft in der Geschichte» womöglich aufgegeben.

Dass es ihn überhaupt in die Berge verschlagen hatte, war Zufall. Drei Jahre zuvor war der junge Theologie­absolvent von einer Berner Patrizier­familie als Hofmeister angestellt worden, eine Art Hauslehrer für den Adel. Erst war er froh, an die Stelle gekommen zu sein, obwohl sie für seinen Geschmack schlecht bezahlt war.

Doch bald verursachte ihm das Leben in Bern ernsthafte Depressionen.

Das lag zum einen an der Arbeit: Hofmeister sassen zwischen Stuhl und Bank. Sie waren gebildeter als ihre adeligen Dienstherren, die behandelten sie allerdings so herablassend wie ihre übrige Dienerschaft. Zum anderen waren da die politischen Verhältnisse. Bern war damals ein Stadtstaat, doch von republikanischen Verhältnissen konnte nicht die Rede sein. Der Grosse Rat wurde zwar gewählt, bestand aber letztlich aus einigen wenigen Patrizier­familien. Auch Hegels Dienstherr gehörte dazu. Das konnte ihm, der die Französische Revolution bewunderte, nicht gefallen. Erst recht nicht, weil die Verwandten seines Chefs einen Krieg gegen Frankreich befürworteten.

Im Sommer 1796 dann endlich die Erlösung: Hegel erhielt eine Stelle in Frankfurt. Bevor er der Schweiz ein für alle Mal den Rücken kehrte, wollte er sich diese Berge aber doch einmal genauer ansehen. Schliesslich hatte er seinen Rousseau mit Begeisterung gelesen. Und der forderte: Zurück zur Natur.

Am 25. Juli um vier Uhr morgens ging es los. Innert sechs Stunden marschierte Hegel bis nach Thun. Dort bestieg er ein Schiff, das ihn nach Interlaken brachte. Von da ging es über Grindelwald und die Scheidegg weiter nach Meiringen, Guttannen und ins Wallis.

Ging es da also voller Tatendrang auf eine Versöhnungs­tour mit den Bergen? War da gar noch Liebe auf den zweiten Blick drin?

Für den schlecht gelaunten Schwaben war die Reise eine einzige Qual. Das Walliser Brot fand er «sehr hart», und die geräucherte Murmeltier­wurst, mit der man ihn bewirtete, schien ihm «kein Leckerbissen». Je höher es ging, desto ärger wurde es: «Man trifft (…) nur verkrüppeltes Tannen­gesträuch, Moos, elendes oder kein Gras», stellte er fest.

Im Oberen Haslital verlor er schliesslich ganz die Nerven. Wenn es Gott gebe, so der junge Theologe, habe er die Natur eindeutig nicht für den Menschen erschaffen. Das könne man an den völlig zwecklos übereinandergeworfenen, hässlichen Felsblöcken sehen.

Das Hochgebirge mit seinen «ewigen toten Massen» – es ödete ihn an. Zurück blieb nur die «in die Länge langweilige Vorstellung: es ist so». Und so war es auch. Den Rest seines Lebens machte er einen Bogen um die Berge. Er hatte ja nichts gegen die Natur. Aber als Idee war sie ihm um einiges lieber.

Auch mit den Berner Patriziern wurde er nicht mehr warm. Im Gegenteil.

Doch er sollte seine Rache bekommen. Zwei Jahre nach seiner Abreise übersetzte er heimlich ein Pamphlet, in dem sie als Unter­drücker der Waadt angeklagt wurden. Es war seine erste Veröffentlichung, auch wenn nicht mal seine Familie davon erfuhr. Noch im selben Jahr marschierten die Franzosen in Bern ein. Die Waadt wurde befreit. Einige Monate später kam es zur Ausrufung der Helvetischen Republik. Die Berge blieben trotzdem stehen.

Zum Autor

Florian Oegerli, geboren 1990, studierte in Basel und Leipzig Philosophie. 2017 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Adam Schwarz seinen Roman­erstling «Das Fleisch der Welt oder Die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe» bei Zytglogge. Er lebt in Leipzig.

Die Quellen für diesen Text

G. W. F.  Hegel: «Frühe Schriften», Suhrkamp, 1986
Horst Althaus: «Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie», Hanser, 1992
Terry Pinkard: «Hegel: A biography», Cambridge University Press, 2001
Walter Jaeschke: «Hegel-Handbuch: Leben – Werk – Schule», Metzler, 2010

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