Binswanger

It’s the economy, stupid!

Über Populismus wird viel gestritten – und zur Not ein Diagramm gemacht. Doch es gibt interessante Ansätze, die die Debatte voranbringen.

Von Daniel Binswanger, 16.03.2019

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Was ist Populismus? So lautet die Schicksalsfrage unserer Zeit. Geht es um Globalisierungs­verlierer und ökonomische Unsicherheit – also eine Neu­artikulation von verteilungs­politischen Konflikt­linien? Geht es um ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit und die steigende Diversität der Gesellschaft – also um Migration, Multi­kulturalität und den weissen Backlash? Geht es um den Wertewandel, Feminismus, die LGBT-Bewegung – und eine autoritäre Gegenreaktion von patriarchalischen Kräften? Oder um alles ein bisschen? Sämtliche Thesen werden vertreten, debattiert, durch dicke Studien bewiesen und widerlegt. Um dem Populismus entgegen­treten zu können, müssen wir seine Ursache kennen. Doch bereits an der Gretchen­frage class oder identity scheiden sich weiterhin die Geister.

Was macht man in solchen Fällen? In aller Regel ein Diagramm. Eine Smartspider, ein paar bunte Balken, einen scatter plot. Was immer wir grafisch darstellen, fühlt sich gleich viel übersichtlicher an. Zudem kann man es ganz zeitgemäss als Daten­journalismus bezeichnen. Willkürliche methodische Entscheidungen, erratische Gewichtungen, irrelevante Sample, Verzerrungs­faktoren, mangelnde Vergleich­barkeit, beliebige Ad-hoc-Kriterien: Kann alles in einer Fussnote versenkt werden – oder am besten gleich gänzlich ignoriert.

Ein interaktives Quiz, das die Website des «Tages-Anzeigers» vor ein paar Tagen aufgeschaltet hat, ist wunderbar populär. Nach Beantwortung von nur ein paar wenigen Fragen will das magische Tool den Leser nicht nur präzise auf einer Links-Rechts-Achse situieren können – sondern auch noch eruieren, wie populistisch oder eben nicht populistisch seine politischen Präferenzen sind. Raffinierte Fragen im Stil von «Ist Patriotismus wichtig?» oder «Ist freie Marktwirtschaft wichtig?» sollen das politische Profil erfassen und einen Vergleich der eigenen Positionierung mit Chefideologen wie Trump, Orbán oder gar Roger Köppel erlauben. Das ist grossartiger Humbug, der durchaus unterhaltend wäre, bestünde nicht die fatale Gefahr, dass manche Leute ihn ernst nehmen (full disclosure: Mein eigener Datenpunkt im «Tagi»-Test ist praktisch identisch mit dem von Obama – was auch immer das besagen mag).

Aber es gibt trotz aller Widrigkeiten auch hilfreiche Versuche, dem Epochen­phänomen des Populismus auf den Grund zu gehen. Einen der viel­versprechendsten stellt das neue Buch des Bremer Politologie­professors Philip Manow dar. Seine «Politische Ökonomie des Populismus» hebt die Diskussion über Eliten­versagen, Demokratie­gefährdung und Migration auf ein neues Niveau. Manow legt ein Erklärungs­modell vor, das für die populistische Dynamik länder­übergreifende, komparative Per­spek­tiven entwickelt, auf stringente Weise verschiedene Ursachen differen­ziert und die gewaltigen Unterschiede zwischen Manifestationen des Populismus in verschiedenen Ländern plausibel machen kann.

Manows Grundansatz ist ökonomisch. Er geht aus von der Hypothese, dass letztlich immer wirtschaftliche Entwicklungen den Ausschlag geben für politische Radikalisie­rung. Allerdings entwickelt er ein Modell, das keine welt­umspannende Pauschal­these aufstellt (Stichwort «Globalisierungs­verlierer»), sondern zeigt, wie die je verschiedenen wirtschaftlichen und sozial­staatlichen Strukturen der Länder dafür verantwortlich sind, dass sich auch ganz verschiedene Formen des Populismus – insbesondere links- oder rechts­populistische – entwickeln können. Manow nennt es das «Anna-Karenina-Prinzip» des Populismus, was besagen soll, dass «jede politische Ökonomie auf ihr ganz eigene Art unglücklich ist».

Das Hauptargument gegen die gängigen ökonomischen Erklärungs­modelle liegt darin, dass populistische Bewegungen mittlerweile in sehr vielen Ländern des Globus an Wichtigkeit gewinnen, dass deren wirtschaftliche Situation jedoch kaum unterschiedlicher sein könnte. Die Schweiz und Österreich sind zwei sehr prosperierende Länder – und dennoch zu Vor­reiterinnen des Rechts­populismus geworden. In vergleichbarer Weise erlebte Deutschland eine beispiellose Dauer­konjunktur – und simultan den Durchbruch der AfD.

Doch der Populismus ist nicht nur in den reichen Ländern Kontinental­europas anzutreffen. Im von der Euro-Krise gebeutelten Süden dominieren links­populistische Bewegungen. Im ökonomisch sehr viel fragileren Osteuropa dominiert eine illiberale Rechte. Italien bringt es sogar zustande, simultan von eigentlich konträren Varianten des Populismus beherrscht zu werden: von der Lega im Norden, von Cinque Stelle im Süden. Und dann ist da noch der Sonderfall des Vereinigten Königreichs.

Wie bringt man alle diese Phänomene in ein Erklärungs­schema? Manow stützt sich auf die von Dani Rodrik entwickelte «Kompensations­theorie» der Globalisierung. Je nach Wirtschafts­struktur sind die Länder auf unter­schiedliche Weise von der Globalisie­rung betroffen. Und je nach Sozial­staats­typus können sie ihrer Bevölkerung Schutz gegen negative Entwicklungen bieten. Zunächst ist zu unter­scheiden zwischen Export­nationen (Nord- und Kontinental­europa) und mehr auf Binnenkonsum ausgerichteten Ländern. Erstere werden den Freihandel und die wirt­schaft­liche Offenheit bejahen, während Letztere empfänglich sind für einen linken Anti­globalisierungs­diskurs. Das ist der Fall in Südeuropa, wo links­populistischer Widerstand gegen das Austeritäts­diktat der EU auf Resonanz stösst.

Die Beschaffenheit des Sozialstaates wiederum hat starke Auswirkungen auf die Toleranz gegenüber Migration. Gut ausgebaute und für Migranten zugängliche Sozialstaaten befördern die rechts­populistische Abwehr. Das ist der Fall in Ländern wie Schweden, Deutschland oder der Schweiz. Die süd­europäischen Länder verfügen auch über ausgebaute Sozialstaaten, die aber weniger universalistisch und viel stärker klientelistisch organisiert sind. Migranten haben nur in begrenztem Masse Zugang. Stattdessen gibt es einen grossen informellen Arbeitsmarkt, der sie als Billigst­lohnkräfte ausbeutet. In solchen Ländern ist der migrations­feindliche Rechts­populismus deutlich schwächer als im Norden.

Die Struktur des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats hat auch grossen Einfluss darauf, wer für den Populismus mobilisierbar ist. In Staaten mit starken Sozial­versicherungen, also zum Beispiel Deutschland, sind es hauptsächlich die bedrohten Insider: Nicht Arbeit­nehmer am untersten Ende der Lohn­verteilung, sondern zum Beispiel Facharbeiter, die sich davor fürchten, eines Tages aus dem System herauszufallen. In einem Land hingegen mit relativ schwacher Sozial­versicherung und liberalem Arbeits­markt, also zum Beispiel Gross­britannien, sind es viel stärker die unqualifizierten Arbeitskräfte, die mit den Migranten um schlecht bezahlte Service­jobs konkurrieren. Je nach System sind nicht die «Globalisierungs­verlierer» gegen Migranten zu mobilisieren, sondern vielmehr die System­insider, die noch etwas zu verlieren haben.

Was folgt daraus? Populismus nimmt völlig irrationale Formen an – aber er hat in der Regel einen rationalen, ökonomisch motivierten Kern. Wer sich nur am Phäno­typ seines schlechten Stils aufreibt, kann ihn nicht bekämpfen. Populismus reagiert immer auf ein wahr­genommenes Defizit ökonomischer Schutzleistungen des Staates. Wer ihn nicht triumphieren lassen will, muss sich die Mittel geben, dieser Wahr­nehmung entgegen­zu­treten.

Illustration: Alex Solman

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