Endstation Lesbos: Im Norden der Insel werden Boote entsorgt, die für die Überfahrt von der Türkei verwendet wurden. Hier liegen auch Zehntausende von ausgeblichenen Schwimmwesten.

Das Freiluftgefängnis

Das EU-Türkei-Abkommen hat die Migration über die Ägäis nach Europa begrenzt. Aber zu welchem Preis? Ein Rundgang über die Insel Lesbos zeigt: In den Camps, in denen Flüchtlinge auf ihre Weiterreise warten, herrschen prekäre Bedingungen.

Von Franziska Grillmeier (Text) und Christian Grund (Bilder), 16.03.2019

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Plötzlich ist der Regen da. Noch im Dezember plauderten die Insel­bewohner auf Lesbos vor den kleinen Cafés, machten Knie­beugen am Strand, die Sonne als ständige Begleiterin. Im Januar hasten die Menschen nur noch mit eingezogenen Köpfen die Hafen­promenade entlang. Die Strassen­hunde rollen sich vor Haus­eingängen ein. Der Regen, der nun täglich in sintflutartigen Güssen über die Insel hereinbricht, lässt die Hafen­stadt Mytilini ruhig werden.

Anders im fünf Kilometer entfernten Moria, wo mehr als 5000 Menschen im grössten Flüchtlings­lager Europas auf ihre Weiter­reise warten: Hier bedeutet der Regen Lebensgefahr.

Friedhof der Schwimmwesten

Manchmal werde ich gefragt, wie es ist, auf der Insel Lesbos zu leben.

Erzähle ich dann von meiner kleinen, warmen Wohnung, die ich in einer Gasse der Hafenstadt Mytilini bewohne? Von den grünen Hügeln, die ich von meinem Balkon aus sehe? Von der nahe gelegenen Bar, die ich besuche, um ein Bier zu trinken und ein paar Oliven zu essen? Oder erzähle ich von den Menschen, die es nachts an die Küsten spült? Von dem wenige Kilometer entfernten Camp, in dem mehrere tausend Menschen in einem ehemaligen Militär­lager zusammengepfercht leben? Von schutzbedürftigen Frauen, Kindern und Folter­opfern, deren Asyl­anträge der Bürokratie zum Opfer fallen?

Ich lebe seit letztem Sommer als freie Journalistin auf Lesbos. Jeden zweiten Tag nehme ich den Bus hinter dem Haus, um in das Auffang­lager von Moria zu fahren. Dort spreche ich mit den Familien, die in den Oliven­hainen oder im Lager leben, gehe mit ein paar Frauen aus dem Camp joggen oder besuche Freunde, die im Lager arbeiten.

Vor zwei Jahren kam ich zum ersten Mal auf die Insel. Alles wirkte ein bisschen zu grell: das türkise Meer, das rote Licht, das durch die Oliven­haine brach, die Frontex-Beamten – im Sommer mit Bier und Badehose am Strand, im Winter mit Bier und Lack­schuhen in den Hafenbars –, der ausgeblichene Friedhof der Schwimm­westen, die wie eine Museums­installation im Norden der Insel neben einer Schafherde vergilbten, ein hundertfach abgelichtetes Sinnbild einer Krise, die vergraben und aus dem Sichtfeld gedrängt werden soll, die Jugendlichen, die freitagabends vor den Spielcasinos knutschen, die Nato-Schiffe, die im Hafen einfahren, kleine Hunde an Glitzer­leinen und die Freiheits­statue am Hafen von Mytilini, die ihren Arm denjenigen entgegenstreckt, die noch immer versuchen, Europa zu erreichen.

Viele griechische Bewohner können sich noch an eine eigene Geschichte der Flucht Anfang des 20. Jahrhunderts erinnern. Im vierten Jahr des Griechisch-Türkischen Krieges besiegte die türkische Armee die griechische in Izmir. Einen Tag später wurde ein Grossteil der Stadt niedergebrannt. Tausende Griechen und Armenier flohen in kleinen Holz­booten vom türkischen Festland aus in Richtung Lesbos. Manche sollen die acht Kilometer bis zum Norden der Insel sogar geschwommen sein, erzählen sich die Insel­bewohner noch heute.

Seit 2015 wird die Meerenge zwischen der Türkei und Lesbos wieder von Geflüchteten durchquert – diesmal von Menschen aus dem Nahen und dem Fernen Osten, aus Zentral­asien und Afrika.

Sie sind nicht hier, um zu bleiben
Woher kommen die Menschen, für die Lesbos zu einem temporären Zuhause wurde, und wovon träumen sie? Acht Porträts.

Rauchvergiftungen und Kurzschlüsse

Der Bus in das Militärlager von Moria fährt an den scharfen Klippen der Küste entlang, vorbei an verfallenen Fabriken und Ziegen­ställen. Auf dem Weg liegt das Familien­camp Kara Tepe, in dem 1200 Menschen untergebracht sind.

Im Gegensatz zu Moria wird Kara Tepe von der Insel­verwaltung geführt und nicht vom griechischen Militär. Es liegt gleich neben dem wohl internationalsten Lidl der Welt. Hier wuchtet eine afghanische Familie zehn Kilo Reis hinter den Wochenend­einkauf einer griechischen Seniorin, die ihren schlimmen Husten mit einer holländischen Ärztin bespricht, die Hafer­flocken auf das Band legt.

Wo Stacheldraht und weisse Container zwischen den Bäumen dichter werden, ist das ehemalige Militär­lager Moria nicht mehr weit. Für 2300 Menschen konzipiert, ist Moria mit 5300 Geflüchteten mehr als doppelt belegt. Letzten Sommer lebten sogar dreimal so viele Menschen dort wie vorgesehen.

Wer hier landet, muss viel Geduld haben: Das inoffizielle Aussencamp des Flüchtlingslagers in Moria.

Nach Protesten von Geflüchteten, Einwohnern und dem Bürger­meister der Insel kündigte der griechische Migrations­minister Dimitris Vitsas vor einem Jahr an, die Zahl der Menschen auf den Ägäischen Inseln bis zum Ende des Jahres zu halbieren.

Aktuell werden gemäss dem Uno-Hoch­kommissariat für Flüchtlinge jede Woche ein paar hundert Menschen von den Ägäischen Inseln auf das Festland transferiert. Aber das Lager auf Lesbos ist noch immer überfüllt. Und seit der Winter über die Insel gekommen ist, herrschen im Camp prekäre Bedingungen.

Die Menschen auf dem ehemaligen Militärgelände leben in alten Containern, dünnen Zelten und unter Plastik­planen. Mehr als 1000 Menschen, darunter ein Drittel Kinder, schlafen zwischen den angrenzenden Oliven­hainen. Reportern ist der Zugang zum eigentlichen Militär­gelände verwehrt, doch geht man am schwer bewachten Vorder­eingang vorbei und die ausbetonierte Strasse neben dem Gelände hinauf, kommt man nach den Dixi-Toiletten, der Wasserstelle und der ersten Reihe von Zelten zu den Hinter­eingängen von Moria. Es sind riesige Löcher im Stacheldraht­zaun, durch die Toiletten­papier, Essen und selbst Menschen gereicht werden. Wenn es schnell gehen muss, steigen auch die Müllmänner im Camp durch die Öffnungen.

Jeden Morgen bildet sich ab acht Uhr eine lange Schlange vor der Feldklinik der Hilfs­organisation Ärzte ohne Grenzen. Väter putzen ihren Kindern die Nase, schwangere Frauen halten sich am Maschendraht­zaun fest. Seit dem EU-Türkei-Abkommen hat sich die Organisation aus Protest aus dem Inneren des Lagers zurückgezogen. Sie begründet ihre Entscheidung damit, nicht in einem «Internierungs­lager» arbeiten zu wollen. Auf der Insel ist sie trotzdem immer geblieben.

Geflüchtete, die schon länger hier sind, arbeiten als Übersetzer oder Arzt­gehilfen. Zwei junge Ärzte arbeiten rund um die Uhr, um die Kinder im Camp zu versorgen. Neben dem Militärarzt im Camp ist dies die einzige medizinische Anlauf­stelle, die die Menschen in Lesbos haben. Der letzte von der Regierung geschickte Arzt im Camp kündigte letzten November. Wegen Überlastung.

Im Januar 2018 litten gemäss der Hilfs­organisation mehr als die Hälfte der Kinder in Moria an einem starken grippalen Infekt. Der Dauer­regen liess die Kleider nicht mehr trocken werden. Im Winter kann dies vor allem für Neugeborene und ältere Menschen lebensgefährlich werden.

Weil das ehemalige Militärlager Moria, das für 2300 Menschen konzipiert ist, mit 5300 Geflüchteten mehr als doppelt belegt ist, leben viele Menschen ausserhalb des offiziellen Camps.

Meistens bleibe ich im umliegenden «Olivenbaum-Camp» und besuche Neuankömmlinge und alte Bekannte. Schiesse Fotos. Spiele Fussball oder stehe vollkommen nutzlos zwischen den Zelten herum.

Einige Familien haben die Löcher im dünnen Nylon mit schwarzer Drahtwolle gestopft und die Zelte tief in den Boden gegraben, um sich vor Wasser und Kälte zu schützen. Doch schon nach drei Tagen Regen frisst sich der Matsch wieder in das Zeltinnere. Müll schwimmt in kleinen Rinn­salen an den Füssen der Zelt­bewohnerinnen vorbei, von denen viele, selbst im Winter, in Flipflops stecken.

Immer wieder entzünden die Menschen Feuer – wegen des Regens in ihren Zelten. Mindestens drei Menschen starben in den vergangenen Wintern an einer Rauch­vergiftung. Viele schliessen Heiz­strahler an Verlängerungs­kabel an, die im Schlamm liegen – es herrscht permanente Kurzschluss­gefahr. Anfang Januar starb ein 24-jähriger Kameruner im Camp an den Folgen einer unbehandelten Grippe.

Wie vor einer Wand

Als ich vor zwei Wintern zum ersten Mal auf die Insel kam, teilten sich bis zu 70 Menschen eine Dusche, aus der nur kaltes Wasser tröpfelte. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Dennoch: Heute herrscht auf der Insel kein Ausnahme­zustand mehr.

Es herrscht keine Krise, die nicht zu bewältigen ist – wie noch 2015, als täglich Tausende Menschen ankamen, als Inselbewohner brusthoch im Wasser standen und den Menschen aus dem Meer halfen. Damals schliefen Hunderte Geflüchtete am Hafen, auf den Strassen, auf Haus­dächern. Heute kommen pro Nacht höchstens noch 100 Menschen an.

Die sogenannte Flüchtlings­krise ist mittlerweile zu einer Unterkunfts­krise geworden: Im Auffang­lager gibt es keine Zelte, die Geflüchteten kaufen sich Planen und Seile und bauen sich selbst welche oder frieren bei Minus­temperaturen unter Party­zelten. Die meisten Toiletten haben keine Dächer, in zerbrochenen Kloschüsseln sammelt sich das Regenwasser. Kinder spielen Steine­versenken in den Schüsseln bei den Waschanlagen.

Die heutige Krise auf Lesbos – sie wäre zu bewältigen. Wenn sich denn jemand fände, der sie bewältigen wollte.

Bis zum März 2016 wurden die Ankommenden auf der ägäischen Insel nur registriert und gleich weitergeschickt. Die meisten reisten weiter über den Balkan nach Norden. Dann schlossen die EU und die Türkei ein Abkommen, um die Migration nach Europa zu reduzieren. Seither müssen Asyl­suchende auf der Insel bleiben, bis ihr Asyl­verfahren abgeschlossen ist. Erst dann können sie auf das griechische Festland übersetzen.

Oft dauert es mehrere Monate, bis die Geflüchteten einen der völlig überlasteten Asyl­beamten treffen können. Sie kommen nicht weiter. Es ist, als würden sie jeden Tag vor einer Wand aufwachen. Das ist das grosse Problem auf der Insel: das ewige Warten.

Die langwierige Bürokratie hat Lesbos zu dem gemacht, was es heute ist: ein Freiluftgefängnis.

Viele Geflüchtete haben sich in Moria mit Blachen und Seilen selber Zelte gebaut.

Der griechische Migrations­minister Vitsas begründet die Verzögerungen in den Asyl­verfahren mit den Spar­massnahmen, die zu drastischen Kürzungen im öffentlichen Dienst geführt hatten. Es fehle an Richtern für die Rekurse, an Ärztinnen und Psychologen für die Gutachten.

Ziel des EU-Türkei-Deals war: weniger Flüchtlinge nach Europa. Die Türkei verpflichtete sich, alle von Griechenland abgelehnten Asyl­bewerber zurückzunehmen, die es von der türkischen Küste zu einer griechischen Insel geschafft haben. Die EU zahlte dafür 3 Milliarden Euro. Vergangenes Jahr kamen weitere 3 Milliarden Euro dazu.

Doch drei Jahre nach dem Deal zeigt sich: Der Plan ging höchstens auf dem Papier auf. Das Abkommen hat das Abschieben der Verantwortung der EU-Länder an die Aussen­grenze noch verstärkt. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Zwar kamen weit weniger Menschen auf die Ägäischen Inseln als vor März 2016. Waren es 2015 mehr als 800’000 Menschen, waren es im vergangenen Jahr noch 50’000. Doch auch heute kommen jeden Monat 1000 bis 3000 Geflüchtete über die Ägäis. So viele, dass die fünf sogenannten Hotspots auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos völlig überbelegt sind. Sie erfüllen selbst grundlegende Standards nicht. Auf Samos befinden sich derzeit sechsmal so viele Geflüchtete wie vorgesehen.

Auch nahm die Türkei viel weniger Geflüchtete zurück als ursprünglich erhofft. In den letzten drei Jahren wurden etwas mehr als 1000 Menschen in die Türkei zurückgeführt, vergangenes Jahr waren es nur rund 300.

Die Inseln sind überlastet, auf dem Festland finden die Menschen keinen Zugang zu Weiter­bildung oder Arbeit. Griechenland hat noch immer die höchste Arbeitslosen­quote in der EU. Für die Geflüchteten sind die Grenzen zur Weiterreise in andere europäische Länder geschlossen. Sie stecken fest.

Wo ist das EU-Geld geblieben?

Seit 2015 hat die EU den Griechen 1,6 Milliarden Euro für die Unterstützung der Geflüchteten zugesprochen. Auf der Insel fragen sich viele, wo das Geld geblieben ist.

«Das würde ich auch gerne wissen», sagt Marios Andriotis, der politische Berater des Bürger­meisters von Lesbos. Er sitzt in seinem Büro, lacht und leert in einem Zug seinen Kaffee­becher. Es gibt viel zu tun. Er plant gerade eine neue Tourismus­kampagne für den Sommer.

Die Europäer hätten schon 2015 gewusst, dass Griechenland die Aufnahme der Geflüchteten nicht würde stemmen können. «Griechenland hatte mitten in der Finanz­krise doch gar nicht die strategischen Mittel, um auf die humanitäre Krise zu reagieren», sagt Andriotis. «Damals hatten wir noch nicht einmal ein Migrationsministerium.»

Andriotis sagt, er hoffe, die EU nutze die Insel nicht dazu, die Menschen von einer Überfahrt nach Europa abzuschrecken. Das funktioniere nämlich nicht. «Sie kommen trotzdem», sagt er.

Nicht nur Andriotis, auch humanitäre Organisationen und zivile Helfer vor Ort vermuten hinter den katastrophalen Bedingungen Kalkül. Wie sonst soll es möglich sein, dass sich an den Zuständen in Moria auch drei Jahre nach dem EU-Türkei-Deal nichts geändert hat?

Auch Korruptionsvorwürfe werden laut. Das Europäische Amt für Betrugs­bekämpfung hat eine Untersuchung wegen angeblicher «Unregel­mässigkeiten in Bezug auf die Bestimmungen der EU-finanzierten Lebensmittel für Flüchtlinge» eingeleitet. Mehr ist noch nicht zu erfahren.

Kriminalisierung der Helfer

Nicht nur an Land, auch im Meer spitzt sich die Lage zu. Der europäischen Grenzschutz­behörde Frontex waren die Rettungs­aktionen freiwilliger Hilfs­organisationen auf dem Mittelmeer ein Dorn im Auge. Mehrere private Rettungs­schiffe in Italien und Malta wurden beschlagnahmt. Auch auf der Ägäis sind mittlerweile keine Rettungs­schiffe mehr unterwegs.

Letztes Jahr sind 2277 Menschen bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer zu überqueren. 70 Prozent dieser Todesfälle ereigneten sich, nachdem Italien im Juni seine Häfen geschlossen hatte und Rettungs­schiffen die Flagge entzogen worden war.

Private Retter und humanitäre Helfer an den Küsten wurden beschuldigt, die illegale Einwanderung zu erleichtern, also den Schleusern in die Hände zu spielen.

Heimatlos: Weil es sonst nirgends Platz für sie hat, schlafen mehr als 1000 Menschen in den Olivenhainen rund um das Flüchtlingscamp Moria.

Auch auf Lesbos wurden junge Helfer verhaftet, die als Seenot­retter und in der Erstversorgung gearbeitet hatten. Darunter die syrische Schwimmerin Sarah Mardini, die eigentlich in Berlin in Sicherheit leben könnte, nachdem sie 2015, ein Flüchtlingsboot hinter sich herziehend, an der Küste von Lesbos angekommen war.

Doch sie kehrte zurück nach Lesbos. Half abends am Strand bei der Erst­versorgung der auf Schlauch­booten Ankommenden, zog Menschen aus dem Wasser, wickelte sie in Decken, leistete medizinische Hilfe und übergab sie anschliessend dem Auffang­lager in Moria.

Als sie nach einem Jahr ihr Studium in Berlin wieder aufnehmen wollte, wurde sie zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen einer Hilfs­organisation am Flughafen von Mytilini verhaftet. Kurz vor Weihnachten ist sie nach vier Monaten im Hochsicherheits­gefängnis in Athen auf Kaution freigekommen. Die Beweislage war dünn. Jetzt wartet sie auf einen Gerichtstermin.

Viele vermuten, man habe mit der Kriminalisierung humanitärer Helfer ein Exempel statuieren wollen. Dabei sind es die Helfer, die seit Jahren die riesigen Lücken im Versorgungs­system der Auffang­lager füllen. Wie kann es sein, dass im dritten Winter in Moria und den umliegenden Flüchtlings­camps auf den Ägäischen Inseln noch immer Menschen in der Kälte sterben, obwohl die Ressourcen vorhanden wären?

Wie durch ein Brennglas

Vor ein paar Wochen sass ich mit einem Freund in der Sonne, vor einer kleinen orthodoxen Kirche auf den umliegenden Hügeln von Mytilini. Ein älterer Mann hatte uns Multivitamin­saft geschenkt. Wir freuten uns, zogen das Zucker­wasser durch den Strohhalm und machten ein Selfie. Ich schickte es meinen Freunden und meiner Familie.

Eine Freundin schrieb zurück: «Cocktails trinken auf Lesbos?» Sie meinte es humorvoll, doch die Irritation schwang mit.

Wie ist es also, auf Lesbos zu leben?

Lesbos ist eine ruhige Insel mit Ouzofabriken, Käsereien und rauen Stränden. Hier fahren Radtouristen die Serpentinen zwischen den 5 Millionen Oliven­bäumen entlang.

Auf dieser Insel zu leben heisst, Grossmütter, Schwestern, Enkel, Anwälte, Langstrecken­läuferinnen und Musiker kennenzulernen. Aus Griechenland. Aber auch aus Äthiopien, Syrien oder dem Kongo.

Es heisst, abends in einer Bar zu sitzen, in der sich der alte Segler Yasin einen Ouzo gegen das Vergessen einschenkt, in der Amal – eine Palästinenserin aus dem Jarmuk-Flüchtlingscamp bei Damaskus – sich ein Glas Rotwein und ein paar Zigaretten mit ihren Freunden teilt, in der sich griechische Schlager im Kreis drehen und der Metzger nach Laden­schluss noch auf einen Plausch vorbeikommt, während die Kinder am Nebentisch Haus­aufgaben machen. Es ist ein Ort, der Brüche zulässt. Ein Ort, an dem Menschen – trotz allem – leben.

Auf Lesbos zu leben, gibt mir die Möglichkeit, wie durch ein Brenn­glas auf Europa zu sehen. Zu verstehen, was eine Politik des Vertreibens und Verdrängens bewirkt.

Und ausserdem ist es ein verdammt schöner Ort, wenn man zu jenen gehört, die jederzeit ein Ticket nach Athen lösen können.

Zur Autorin

Franziska Grillmeier lebt auf der Insel Lesbos. In ihren Reportagen fokussiert sie meistens auf das Leben einzelner Menschen. Ihre Geschichten handeln oft von kulturellem Widerstand, Gesundheits­versorgung in Konflikt­regionen und den Folgen von Vertreibung. Sie schreibt für deutschsprachige Wochen­zeitungen und Magazine.

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