Kunst

Unbedingt, absolut, frei

Kunstmuseum Bern: «Miriam Cahn. Ich als Mensch»

Vor fast vierzig Jahren wurde Miriam Cahn wegen einer künstlerischen Protestaktion verurteilt. Heute wird die kompromisslose Schweizer Künstlerin mit einer umfassenden Retrospektive geehrt.

Von Max Glauner, 15.03.2019

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In Miriam Cahns Bild «abbau, 23./24.06.2017» wird ein scheinbar hässlicher Körper «schön» gemalt. Stefan Jeske/Grazyna Kulczyk Collection

Das Bild zieht an, stösst ab. Der Betrachter wird es so schnell nicht wieder vergessen. Mit weit aufgerissenen Augen grinst uns eine fröhliche Fratze entgegen. Schnelle Pinsel­striche: Augen, Nase, Mund sind nur angedeutet. Es geht nicht um Wirklichkeits­nähe, Wieder­erkennbarkeit, formale Bravour. Es geht um den Archetypus: Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Mehr bedarf es nicht, damit uns ein anderer, eine andere entgegenblickt, in ihren Bann schlägt.

Und so bleiben wir gefangen von diesem kahlen Schädel, der sich, weit vorgebeugt und zur Seite gedreht, abhebt vor einem schwarzen Hinter­grund. Er wirkt wie die Fortsetzung des phallusartigen, wulstig überdehnten Halses, der übergeht in einen massigen nackten Frauen­körper, auch er monströs und seltsam faszinierend. Das Hüftbild ist nicht wie üblich frontal dargestellt, sondern nach links gedreht, sodass die rechte Körper­hälfte im Profil erscheint. Will sich die Figur nicht ganz preisgeben? Oder will sie all das exponieren, was auf den ersten Blick als hässlich erscheint? Den dünnen Arm, die geballte Faust, die schlaffe Brust, den faltigen, aufgeschwemmten Bauch, der wie ein Sack in das Schwarz der Scham­behaarung übergeht? Möglich.

Plausibler erscheint jedoch eine andere Betrachtungs­weise: Der «hässliche» Körper wird «schön» gemalt. Auffällig wechselt die Textur vom flüchtig dünnen Farb­auftrag der Fratze zu einer pastosen Altmeister­manier, als hätten flämische Barock­maler, Jacob Jordaens oder Antoon van Dyck, die Pinsel geführt, um das Inkarnat einer Nymphe oder von Susanna im Bade lebendig zu machen. Mit einem Handstreich, frech und lustvoll, zitiert und konterkariert das fast lebensgrosse Ölgemälde zentrale Motive der malerischen Mythologie: ein Spiel der Alternativen, ein Akt des Widerstandes.

Mutig und renitent

Widerstand ist denn auch ein zentrales Motiv dieser Berner Ausstellung. Das beschriebene Bild «abbau» der heute 69-jährigen Schweizer Künstlerin Miriam Cahn, exakt datiert auf den 23./24. Juni 2017, besitzt geradezu Manifest­charakter. Es zeigt, was in der Kunst­geschichte weitgehend ausgespart wurde: den unverstellten weiblichen Blick, den weiblichen Körper jenseits männlicher Begierde.

Da wirkt es fast wie ein anekdotisches Aperçu, dass «abbau» auch ein Selbstporträt ist, in dem sich Erschöpfung, Genugtuung und Triumph nach der Teilnahme an der Documenta 14 im Jahr 2017 spiegeln – als raunte uns die Künstlerin ermattet zu: «Yes! Ich habe es geschafft!»

In Cahns Kunst bildet oft leuchtend bunte Farbigkeit einen provokanten Kontrast zu Themen wie Sexualität, Gewalt, Tod oder Krieg: «o.t., 14.12.2017». Stefan Jeske/Courtesy the artist and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe

Man stellte Miriam Cahn vor zwei Jahren in Athen und Kassel zwei grosse Räume zur Verfügung. Im Athener Benaki-Museum installierte sie monumentale Kohle­zeichnungen, die sie bereits 1982 in Kassel an der Documenta 7 hätte zeigen sollen. Damals hängte sie die Bilder aber wieder ab, als sie entgegen den Absprachen mit dem damaligen Kurator Rudi Fuchs für einen Kollegen hätte zur Seite rücken sollen. Ein mutiger Schritt, den sich eigentlich kein Künstler leisten kann. Ihrer Freundin Hella Santarossa schreibt Cahn im Herbst 1982: «documenta 7, biennale Venedig, alles ausstellungen, in denen künstler und die paar künstlerinnen nur noch handlanger sind von grössen­wahnsinnigen ausstellungs­machern, die sich profilieren wollen.»

Politisch – und gegen den Strom

Die Zeiten haben sich geändert. Im Kunstmuseum Bern weht mit der vor zwei Jahren ernannten Direktorin Nina Zimmer ein neuer Wind. Das Bild «abbau», gezeigt in einem Seiten­kabinett, könnten Besucherinnen in Bern sogar relativ leicht übersehen, wurde doch der gesamte repräsentative Altbau des Museums hoch über der Aare leer geräumt für die Retrospektive «Miriam Cahn. Ich als Mensch». Ausgestellt werden Hunderte von Arbeiten, Zeichnungen und Gemälden.

Cahn geht es nicht um Wirklichkeitsnähe, sondern um den Archetypus: «o.t., 18.04.2017». Stefan Jeske/Private Collection
Wer will, kann sich in den Bildern ein Stück weit wiedererkennen: «am strand, 14.12.2016». Stefan Jeske/Private Collection

Auch das ist ein Manifest. Vor kurzem hätte man Cahn noch zwei, drei Räume überlassen. Nun ist es das ganze Haus, zehn Säle insgesamt. Dass die Schau anschliessend nach München ins Haus der Kunst sowie nach Warschau ins Muzeum Sztuki tourt und parallel im Kunsthaus Bregenz und in Madrid im Museo Reina Sofía umfassende Ausstellungen geplant sind, belegt sicherlich den Post-Documenta-Hype, noch mehr jedoch die enorme künstlerische Kraft und Ernsthaftigkeit von Cahns Werk, dem man in Bern nun Raum gegeben hat. Die Kuratorin Kathleen Bühler nahm sich in ihrer Rolle weitgehend zurück und liess der Künstlerin freie Hand bei der inszenatorischen Gestaltung der Ausstellung.

Cahn fügt Zeichnungen und Gemälde aus allen Schaffens­perioden zwischen den frühen 1980er-Jahren und heute von Raum zu Raum zu thematischen Sets zusammen. Sie arrangiert ihre Zeichnungen und Ölbilder in ihrem Sinn stimmig, was auch bedeutet, dass sie keinem Bild, sei es noch so gross und gewichtig, einen Rahmen gegeben hat. Stattdessen sind die Zeichnungen, mögen sie noch so monumental und fragil sein, mit Klebstoff oder Nadeln an der Wand befestigt worden.

Stimmig heisst bei Cahn vor allem aber auch, politisch zu sein, gegen den Strom zu schwimmen, sich für Minderheiten, für Flüchtlinge, gegen Krieg und gegen Männer-Macho-Kisten einzusetzen, Gegen­bilder zu entwerfen zum Mainstream-Reklame-Wahnsinn, der uns täglich unter Beschuss nimmt.

Eine Kriegserklärung

Wohl auch deshalb kommt die Berner Schau so wohltuend altmodisch daher. Obwohl Cahn durchaus Super-8- und Video-Filme gedreht hat, zeigt sie in Bern nur eine Arbeit mit digitalem Bewegtbild, die Installation «Schlachtfeld/Alterswerk» aus dem Jahr 2012. Sie befindet sich am dramatischen Höhepunkt des Gebäudes wie auch der Ausstellung, im Vestibül des Ober­geschosses, in dessen Nischen die Donatoren des Hauses aus dem 19. Jahrhundert mit Gipsbüsten verewigt sind. Diesen stellt beziehungsweise legt Cahn ein Dutzend entrindete, unterschiedlich bearbeitete Holzstämme entgegen sowie acht Video­screens an der Wand, auf denen nahsichtig – man sieht nur die Hand, die Ton bearbeitet – das Material in Form gebracht und erforscht wird.

Die Installation «Schlachtfeld/Alterswerk» aus dem Jahr 2012 kann auch als Kriegserklärung gelesen werden. Kunstmuseum Bern

Wie fühlt es sich an, wenn ich den Ton als Penis, Brust, Klitoris oder als Weltkugel behandle? Honni soit qui mal y pense. Die Herren in Stehkragen und Zwirbel­bart auf der anderen Seite dürften es kaum goutieren. Es ist eine Kriegserklärung.

Die Schwester, die Künstlerin und wir

Geboren wurde Miriam Cahn am 21. Juli 1949 in ein bürgerliches Basler Elternhaus. Der Vater, Herbert Adolf Cahn, ein angesehener klassischer Archäologe und Münz­kundler aus einer jüdischen Familie, war mit seiner Frau bereits 1933 von Frankfurt am Main in die Schweiz emigriert. Doch die Familien­idylle bekommt bald Risse. Die Mutter leidet unter Depressionen. Die jüngere Schwester nimmt sich im Alter von zwanzig Jahren das Leben.

Zehn Jahre nach ihrem Tod verarbeitet Miriam Cahn das traumatische Erlebnis in einer berührenden Serie querformatiger A4-Bleistift­zeichnungen, scheinbar unbeholfen und schnell aufs Blatt geworfene Köpfchen im Stil der Art brut: «schweigende schwester, freundliche köpfe mit haaren», 1980. Das Werk ist im letzten Saal ausgestellt, der an den Wänden und in Vitrinen zum Schluss­akkord noch einmal Zeichnungen und Skizzen­bücher aus allen Lebens­phasen versammelt. In den verzweifelten Gesichtchen blickt nicht allein die Schwester aus dem Totenreich. Vielmehr starrt uns auch die Künstlerin entgegen, in deren Antlitz wir uns schliesslich selbst wiederfinden, in aller Bedürftigkeit, Einsamkeit. Doch Lamentieren ist Cahns Sache nicht.

Cahns Kunst ist mal monumental, mal fragil: «liebenmüssen, 30.05.2017». Stefan Jeske/Private Collection
Mehr Performance als ewig gültiges Meisterwerk: «haus», 2017. Stefan Jeske/Private Collection

Bereits der Untertitel der Ausstellung, «Ich als Mensch», indiziert, dass Cahn sich nicht auf einen Aspekt ihres Schaffens als Zeichnerin, Malerin, Performerin reduzieren lassen will – und auch nicht auf ihre Rolle als Frau. So begegnet dem Publikum eine wache, streitbare und politische Zeitgenossin, in deren Kunst oft leuchtend bunte Farbigkeit einen provokanten Kontrast zu Themen wie Sexualität, Gewalt, Tod und Krieg herstellt.

Ein widerständiges Leben

Von Anfang an war für Cahn die Kunst ein Weg zum Widerstand, sowohl gegen die engen familiären als auch gegen die politischen Verhältnisse, die in den 1970er- und 1980er-Jahren von der Ost-West-Konfrontation, einem drohenden Nuklear­krieg und der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit der deutschen Gesellschaft geprägt waren. Sind die grossformatigen Aquarellserien «atombomben» aus den Jahren 1989 und 1991 nicht zu dekorativ und verdrängen das Grauen? Nein, denn wie Bruce Conners Filmcollage «Crossroads» aus dem Jahr 1976, ein ironischer Zusammen­schnitt von Aufnahmen US-amerikanischer Atombomben­tests, rufen sie das Ereignis auf und halten es im Gedächtnis, auch wenn die Betrachterin eine Tapete zu sehen vermeint.

Eigensinn war Cahn früh eingeschrieben: «ich / wollte künstler werden / Picasso werden / [...] künstler sein / unbedingt / absolut / frei / wie ein mann leben / aber aber / nie mann sein», notiert sie 2013 rückblickend. Dem Vater trotzt sie nach ihrem Grafik­studium an der Basler Kunstgewerbe­schule 1973 für fünf Jahre eine finanzielle Zuwendung ab, um ihren Traum zu verwirklichen. In den Jahren 1978 und 1979 erhält sie von der Stadt Basel ein Atelier in Paris.

Bei Cahn ist Kunst auch ein Niederschlag ihrer Befindlichkeit: «meredith grey (gestern im TV gesehen), 15.7.15». Markus Tretter/Courtesy the artist, Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe and Galerie Jocelyn Wolff, Paris

Nach ihrer Rückkehr zeichnet sie grossflächig mit Kohle auf die Beton­pfeiler der gerade erbauten Basler Nord­tangente. Mit einiger Chuzpe erklärt sie das Gelände zu ihrem Freiluft­atelier. Der Protest beschert ihr eine Gerichts­verurteilung und frühen Ruhm, die Einladung nach Kassel und 1983 eine erste Einzel­ausstellung in der Kunsthalle Basel bei Jean-Christophe Ammann.

Malen als Performance

Um nicht den Habitus des Malerfürsten zu reproduzieren, arbeitet Cahn ausschliesslich mit Kohle und Kreide, zerreibt sie am Boden und zeichnet kniend in schnellen Zügen, nahe am Objekt. Ein atemberaubendes Beispiel aus dem Jahr 1981 ist «schweigende schwester. kriegsschiff», eine wandfüllende Kreide­zeichnung auf Transparent­papier, im westlichen Kabinettsaal des Ober­geschosses. Bis heute ist kein Werk entstanden, an dem Cahn länger als zwei Tage gearbeitet hat. Sie versteht ihr Tun als Performance, das Kunstwerk nicht als ewig gültiges Meister­werk, sondern als Niederschlag ihrer Haltung, ihrer Befindlichkeit, ihrer Einfühlung in das Objekt, die sich im besten Fall auf die Betrachterin überträgt.

Ungerahmt hängt Cahn ihre Bilder in Clustern übereinander, doch nach Möglichkeit so, dass die geisterhaften abgebildeten Wesen auf Augenhöhe mit den Betrachtenden erscheinen. Allein durch die Hängung rückt sie in «schnell nach rechts!» aus den Jahren 2005 und 2017 das maskenhafte Kind ins Zentrum der Aufmerksamkeit, ein unheimlicher Wieder­gänger der Putti in Raffaels «Sixtinischer Madonna» ebenso wie von Alan Kurdi, dem ertrunkenen syrischen Flüchtlings­kind, dessen lebloser, an einem Strand der türkischen Küste angespülter Körper als Pressefoto durch die Weltmedien ging.

Miriam Cahn zwingt ihren Betrachtern diese Sicht­weisen nicht auf. Sie stellt sie ihnen bloss zur Verfügung, eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich darin wenigstens ein Stück weit wiederzuerkennen. Das Angebot ist kompromisslos – und von unschätzbarem Wert.

Zur Ausstellung

«Miriam Cahn. Ich als Mensch» ist noch bis zum 16. Juni im Kunstmuseum Bern zu sehen.

Zum Autor

Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», Frieze.com, «Artforum» und «Kunstforum international». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er zu innovativen Produktions- und Aufführungs­formaten sowie Strategien der Partizipation und Kollaboration lehrt und forscht.

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