Unbedingt, absolut, frei
Kunstmuseum Bern: «Miriam Cahn. Ich als Mensch»
Vor fast vierzig Jahren wurde Miriam Cahn wegen einer künstlerischen Protestaktion verurteilt. Heute wird die kompromisslose Schweizer Künstlerin mit einer umfassenden Retrospektive geehrt.
Von Max Glauner, 15.03.2019
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Das Bild zieht an, stösst ab. Der Betrachter wird es so schnell nicht wieder vergessen. Mit weit aufgerissenen Augen grinst uns eine fröhliche Fratze entgegen. Schnelle Pinselstriche: Augen, Nase, Mund sind nur angedeutet. Es geht nicht um Wirklichkeitsnähe, Wiedererkennbarkeit, formale Bravour. Es geht um den Archetypus: Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Mehr bedarf es nicht, damit uns ein anderer, eine andere entgegenblickt, in ihren Bann schlägt.
Und so bleiben wir gefangen von diesem kahlen Schädel, der sich, weit vorgebeugt und zur Seite gedreht, abhebt vor einem schwarzen Hintergrund. Er wirkt wie die Fortsetzung des phallusartigen, wulstig überdehnten Halses, der übergeht in einen massigen nackten Frauenkörper, auch er monströs und seltsam faszinierend. Das Hüftbild ist nicht wie üblich frontal dargestellt, sondern nach links gedreht, sodass die rechte Körperhälfte im Profil erscheint. Will sich die Figur nicht ganz preisgeben? Oder will sie all das exponieren, was auf den ersten Blick als hässlich erscheint? Den dünnen Arm, die geballte Faust, die schlaffe Brust, den faltigen, aufgeschwemmten Bauch, der wie ein Sack in das Schwarz der Schambehaarung übergeht? Möglich.
Plausibler erscheint jedoch eine andere Betrachtungsweise: Der «hässliche» Körper wird «schön» gemalt. Auffällig wechselt die Textur vom flüchtig dünnen Farbauftrag der Fratze zu einer pastosen Altmeistermanier, als hätten flämische Barockmaler, Jacob Jordaens oder Antoon van Dyck, die Pinsel geführt, um das Inkarnat einer Nymphe oder von Susanna im Bade lebendig zu machen. Mit einem Handstreich, frech und lustvoll, zitiert und konterkariert das fast lebensgrosse Ölgemälde zentrale Motive der malerischen Mythologie: ein Spiel der Alternativen, ein Akt des Widerstandes.
Mutig und renitent
Widerstand ist denn auch ein zentrales Motiv dieser Berner Ausstellung. Das beschriebene Bild «abbau» der heute 69-jährigen Schweizer Künstlerin Miriam Cahn, exakt datiert auf den 23./24. Juni 2017, besitzt geradezu Manifestcharakter. Es zeigt, was in der Kunstgeschichte weitgehend ausgespart wurde: den unverstellten weiblichen Blick, den weiblichen Körper jenseits männlicher Begierde.
Da wirkt es fast wie ein anekdotisches Aperçu, dass «abbau» auch ein Selbstporträt ist, in dem sich Erschöpfung, Genugtuung und Triumph nach der Teilnahme an der Documenta 14 im Jahr 2017 spiegeln – als raunte uns die Künstlerin ermattet zu: «Yes! Ich habe es geschafft!»
Man stellte Miriam Cahn vor zwei Jahren in Athen und Kassel zwei grosse Räume zur Verfügung. Im Athener Benaki-Museum installierte sie monumentale Kohlezeichnungen, die sie bereits 1982 in Kassel an der Documenta 7 hätte zeigen sollen. Damals hängte sie die Bilder aber wieder ab, als sie entgegen den Absprachen mit dem damaligen Kurator Rudi Fuchs für einen Kollegen hätte zur Seite rücken sollen. Ein mutiger Schritt, den sich eigentlich kein Künstler leisten kann. Ihrer Freundin Hella Santarossa schreibt Cahn im Herbst 1982: «documenta 7, biennale Venedig, alles ausstellungen, in denen künstler und die paar künstlerinnen nur noch handlanger sind von grössenwahnsinnigen ausstellungsmachern, die sich profilieren wollen.»
Politisch – und gegen den Strom
Die Zeiten haben sich geändert. Im Kunstmuseum Bern weht mit der vor zwei Jahren ernannten Direktorin Nina Zimmer ein neuer Wind. Das Bild «abbau», gezeigt in einem Seitenkabinett, könnten Besucherinnen in Bern sogar relativ leicht übersehen, wurde doch der gesamte repräsentative Altbau des Museums hoch über der Aare leer geräumt für die Retrospektive «Miriam Cahn. Ich als Mensch». Ausgestellt werden Hunderte von Arbeiten, Zeichnungen und Gemälden.
Auch das ist ein Manifest. Vor kurzem hätte man Cahn noch zwei, drei Räume überlassen. Nun ist es das ganze Haus, zehn Säle insgesamt. Dass die Schau anschliessend nach München ins Haus der Kunst sowie nach Warschau ins Muzeum Sztuki tourt und parallel im Kunsthaus Bregenz und in Madrid im Museo Reina Sofía umfassende Ausstellungen geplant sind, belegt sicherlich den Post-Documenta-Hype, noch mehr jedoch die enorme künstlerische Kraft und Ernsthaftigkeit von Cahns Werk, dem man in Bern nun Raum gegeben hat. Die Kuratorin Kathleen Bühler nahm sich in ihrer Rolle weitgehend zurück und liess der Künstlerin freie Hand bei der inszenatorischen Gestaltung der Ausstellung.
Cahn fügt Zeichnungen und Gemälde aus allen Schaffensperioden zwischen den frühen 1980er-Jahren und heute von Raum zu Raum zu thematischen Sets zusammen. Sie arrangiert ihre Zeichnungen und Ölbilder in ihrem Sinn stimmig, was auch bedeutet, dass sie keinem Bild, sei es noch so gross und gewichtig, einen Rahmen gegeben hat. Stattdessen sind die Zeichnungen, mögen sie noch so monumental und fragil sein, mit Klebstoff oder Nadeln an der Wand befestigt worden.
Stimmig heisst bei Cahn vor allem aber auch, politisch zu sein, gegen den Strom zu schwimmen, sich für Minderheiten, für Flüchtlinge, gegen Krieg und gegen Männer-Macho-Kisten einzusetzen, Gegenbilder zu entwerfen zum Mainstream-Reklame-Wahnsinn, der uns täglich unter Beschuss nimmt.
Eine Kriegserklärung
Wohl auch deshalb kommt die Berner Schau so wohltuend altmodisch daher. Obwohl Cahn durchaus Super-8- und Video-Filme gedreht hat, zeigt sie in Bern nur eine Arbeit mit digitalem Bewegtbild, die Installation «Schlachtfeld/Alterswerk» aus dem Jahr 2012. Sie befindet sich am dramatischen Höhepunkt des Gebäudes wie auch der Ausstellung, im Vestibül des Obergeschosses, in dessen Nischen die Donatoren des Hauses aus dem 19. Jahrhundert mit Gipsbüsten verewigt sind. Diesen stellt beziehungsweise legt Cahn ein Dutzend entrindete, unterschiedlich bearbeitete Holzstämme entgegen sowie acht Videoscreens an der Wand, auf denen nahsichtig – man sieht nur die Hand, die Ton bearbeitet – das Material in Form gebracht und erforscht wird.
Wie fühlt es sich an, wenn ich den Ton als Penis, Brust, Klitoris oder als Weltkugel behandle? Honni soit qui mal y pense. Die Herren in Stehkragen und Zwirbelbart auf der anderen Seite dürften es kaum goutieren. Es ist eine Kriegserklärung.
Die Schwester, die Künstlerin und wir
Geboren wurde Miriam Cahn am 21. Juli 1949 in ein bürgerliches Basler Elternhaus. Der Vater, Herbert Adolf Cahn, ein angesehener klassischer Archäologe und Münzkundler aus einer jüdischen Familie, war mit seiner Frau bereits 1933 von Frankfurt am Main in die Schweiz emigriert. Doch die Familienidylle bekommt bald Risse. Die Mutter leidet unter Depressionen. Die jüngere Schwester nimmt sich im Alter von zwanzig Jahren das Leben.
Zehn Jahre nach ihrem Tod verarbeitet Miriam Cahn das traumatische Erlebnis in einer berührenden Serie querformatiger A4-Bleistiftzeichnungen, scheinbar unbeholfen und schnell aufs Blatt geworfene Köpfchen im Stil der Art brut: «schweigende schwester, freundliche köpfe mit haaren», 1980. Das Werk ist im letzten Saal ausgestellt, der an den Wänden und in Vitrinen zum Schlussakkord noch einmal Zeichnungen und Skizzenbücher aus allen Lebensphasen versammelt. In den verzweifelten Gesichtchen blickt nicht allein die Schwester aus dem Totenreich. Vielmehr starrt uns auch die Künstlerin entgegen, in deren Antlitz wir uns schliesslich selbst wiederfinden, in aller Bedürftigkeit, Einsamkeit. Doch Lamentieren ist Cahns Sache nicht.
Bereits der Untertitel der Ausstellung, «Ich als Mensch», indiziert, dass Cahn sich nicht auf einen Aspekt ihres Schaffens als Zeichnerin, Malerin, Performerin reduzieren lassen will – und auch nicht auf ihre Rolle als Frau. So begegnet dem Publikum eine wache, streitbare und politische Zeitgenossin, in deren Kunst oft leuchtend bunte Farbigkeit einen provokanten Kontrast zu Themen wie Sexualität, Gewalt, Tod und Krieg herstellt.
Ein widerständiges Leben
Von Anfang an war für Cahn die Kunst ein Weg zum Widerstand, sowohl gegen die engen familiären als auch gegen die politischen Verhältnisse, die in den 1970er- und 1980er-Jahren von der Ost-West-Konfrontation, einem drohenden Nuklearkrieg und der unaufgearbeiteten NS-Vergangenheit der deutschen Gesellschaft geprägt waren. Sind die grossformatigen Aquarellserien «atombomben» aus den Jahren 1989 und 1991 nicht zu dekorativ und verdrängen das Grauen? Nein, denn wie Bruce Conners Filmcollage «Crossroads» aus dem Jahr 1976, ein ironischer Zusammenschnitt von Aufnahmen US-amerikanischer Atombombentests, rufen sie das Ereignis auf und halten es im Gedächtnis, auch wenn die Betrachterin eine Tapete zu sehen vermeint.
Eigensinn war Cahn früh eingeschrieben: «ich / wollte künstler werden / Picasso werden / [...] künstler sein / unbedingt / absolut / frei / wie ein mann leben / aber aber / nie mann sein», notiert sie 2013 rückblickend. Dem Vater trotzt sie nach ihrem Grafikstudium an der Basler Kunstgewerbeschule 1973 für fünf Jahre eine finanzielle Zuwendung ab, um ihren Traum zu verwirklichen. In den Jahren 1978 und 1979 erhält sie von der Stadt Basel ein Atelier in Paris.
Nach ihrer Rückkehr zeichnet sie grossflächig mit Kohle auf die Betonpfeiler der gerade erbauten Basler Nordtangente. Mit einiger Chuzpe erklärt sie das Gelände zu ihrem Freiluftatelier. Der Protest beschert ihr eine Gerichtsverurteilung und frühen Ruhm, die Einladung nach Kassel und 1983 eine erste Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel bei Jean-Christophe Ammann.
Malen als Performance
Um nicht den Habitus des Malerfürsten zu reproduzieren, arbeitet Cahn ausschliesslich mit Kohle und Kreide, zerreibt sie am Boden und zeichnet kniend in schnellen Zügen, nahe am Objekt. Ein atemberaubendes Beispiel aus dem Jahr 1981 ist «schweigende schwester. kriegsschiff», eine wandfüllende Kreidezeichnung auf Transparentpapier, im westlichen Kabinettsaal des Obergeschosses. Bis heute ist kein Werk entstanden, an dem Cahn länger als zwei Tage gearbeitet hat. Sie versteht ihr Tun als Performance, das Kunstwerk nicht als ewig gültiges Meisterwerk, sondern als Niederschlag ihrer Haltung, ihrer Befindlichkeit, ihrer Einfühlung in das Objekt, die sich im besten Fall auf die Betrachterin überträgt.
Ungerahmt hängt Cahn ihre Bilder in Clustern übereinander, doch nach Möglichkeit so, dass die geisterhaften abgebildeten Wesen auf Augenhöhe mit den Betrachtenden erscheinen. Allein durch die Hängung rückt sie in «schnell nach rechts!» aus den Jahren 2005 und 2017 das maskenhafte Kind ins Zentrum der Aufmerksamkeit, ein unheimlicher Wiedergänger der Putti in Raffaels «Sixtinischer Madonna» ebenso wie von Alan Kurdi, dem ertrunkenen syrischen Flüchtlingskind, dessen lebloser, an einem Strand der türkischen Küste angespülter Körper als Pressefoto durch die Weltmedien ging.
Miriam Cahn zwingt ihren Betrachtern diese Sichtweisen nicht auf. Sie stellt sie ihnen bloss zur Verfügung, eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich darin wenigstens ein Stück weit wiederzuerkennen. Das Angebot ist kompromisslos – und von unschätzbarem Wert.
«Miriam Cahn. Ich als Mensch» ist noch bis zum 16. Juni im Kunstmuseum Bern zu sehen.
Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», Frieze.com, «Artforum» und «Kunstforum international». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er zu innovativen Produktions- und Aufführungsformaten sowie Strategien der Partizipation und Kollaboration lehrt und forscht.