Premiere vor dem Gericht: Verlegerinnen und Verleger der Republik, gemeinsam mit Gerichtsreporterin Brigitte Hürlimann (erste Reihe, ganz rechts). Nick Lobeck

Am Gericht

Zu Besuch bei Justitia

So sollte es sein: volle Zuschauerreihen im Gerichtssaal. Junge, Ältere, Frauen und Männer, die mitverfolgen, wie um ein Urteil gerungen wird. Zehn Verlegerinnen und Verleger der Republik nehmen an einem Strafprozess teil – und finden: Das müsste Pflichtstoff an Schulen sein.

Von Brigitte Hürlimann, 13.03.2019

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 7. März 2019, 14 Uhr
Fall-Nr.: DG180317
Thema: Raub

«Die vorsitzende Richterin hat mich beeindruckt. Es war eine faire, zügige Verhandlung.»

«Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie Schweizerdeutsch gesprochen hätte? Ich bin mir nicht sicher, ob der junge Mann alles verstanden hat.»

«Er war bestimmt wahnsinnig eingeschüchtert. Das Gericht sitzt zu dritt oben auf dem Podest, er muss vorne am Pult stehen, und diese juristische Sprache ist schon ziemlich gestelzt.»

«Er hat ja nur eine minime Bildung, kommt aus einer unterprivilegierten Familie. Und zu Hause sprechen sie nicht Deutsch.»

«Ich finde, die Richterin ist einfühlsam mit ihm umgegangen. Die beiden anderen, die Staatsanwältin und der Verteidiger, die waren viel technischer.»

«Ich hätte ganz andere Fragen an den Beschuldigten gestellt.»

«Ich auch! Hatte er immer ein Messer mit dabei oder nur an jenem Abend? Und was ist passiert an diesem Tag, dass er so frustriert war und offensichtlich ganz allein unterwegs, Alkohol trank und kiffte, obwohl er das sonst nicht mehr tat?»

«Wenn das stimmt. Ich glaube ihm das nicht. Seine Reue hat er schön dargelegt, aber wenn es um die Sache ging, um den Raub, da konnte er sich plötzlich nicht mehr erinnern. Das hat mich nicht überzeugt.»

Wir sitzen am Tisch und debattieren, unsere Köpfe rauchen. Wir haben nur eine Dreiviertel­stunde Zeit, um die Eindrücke zu verarbeiten und auszutauschen, danach wird das Urteil verkündet. Jetzt gerade findet nämlich die geheime Urteils­beratung statt, zwei Stockwerke tiefer. Zwei Richterinnen und ein Richter müssen entscheiden, wie ein junger, geständiger Räuber bestraft werden soll; ein Ersttäter und einer, der es nicht leicht hat im Leben. Sechzehn Monate Freiheits­strafe bedingt wegen qualifizierten Raubs verlangt Staats­anwältin Gabi Alkalay; genau die Hälfte davon, acht Monate, wegen einfachen Raubs der Verteidiger, Amr Abdelaziz. Das Messer, die Tatwaffe, wird eine entscheidende Rolle spielen bei der Beurteilung dieses Falls.

Auch darüber reden wir. Oder über die Rolle der Staats­anwaltschaft, über den Unterschied zwischen Strafrecht und Zivilrecht, den Parteien­proporz, warum es keine Untersuchungs­richter mehr gibt und warum kaum jemand weiss, dass hierzulande die Gerichts­verhandlungen grundsätzlich öffentlich sind. Wir haben uns in einen Sitzungs­raum zurückgezogen, zuoberst im Gebäude, im Bezirks­gericht Zürich. Wir platzen schier vor lauter Eindrücken. Und wir haben viele, viele Fragen.

Wir vertreten hier die Öffentlichkeit, wir sind sozusagen das Volk, das in den Zuschauer­reihen mitverfolgt, wie an unseren Gerichten Recht gesprochen wird: zehn Verlegerinnen und Verleger, alle zum ersten Mal an einem Strafprozess, begleitet von der Gerichts­reporterin der Republik und von Sabina Motta, der Medien­verantwortlichen am Bezirksgericht Zürich. Es ist eine gemischte Truppe, quer durch die Bevölkerung, die unterschiedlichsten Berufs- und Alters­gruppen sind vertreten.

Was uns alle eint: das Interesse an der dritten Staatsgewalt. Und, um es gleich vorwegzunehmen: Spätestens am Abend, wenn das Urteil längst gefällt ist, bei Bier, Weisswein und Eistee in der Rothaus-Bar, wenn wir das Geschehene Revue passieren lassen, äussern die Gerichts­novizen einhellig die Meinung, das müsse man wiederholen. «Gerichtsbesuche sollten Pflichtstoff an den Schulen sein», sagt einer der Verleger.

Thema unseres Prozesses war eher Alltags­kriminalität, auf jeden Fall kein spektakuläres Schwer­verbrechen, weder Mord noch Totschlag, kein prominenter Beschuldigter, kein aussergewöhnlicher Sachverhalt – ausser natürlich für den Geschädigten, der ein einschneidendes Erlebnis zu bewältigen hat. Ihn treffen wir vor Gericht nicht an, wir erfahren jedoch von der Gerichts­vorsitzenden Maya Knüsel, dass er weder Schaden­ersatz noch Genugtuung verlangt, hingegen die Bestrafung des Täters.

Passiert ist Folgendes: Es war ein später Freitagabend im Oktober letzten Jahres. Der Beschuldigte, der damals erst kurz zuvor 18 Jahre alt geworden ist, strolcht mit dem Velo in Zürich herum, trinkt Alkohol und kifft. Er sagt, das sei eigentlich ein ungewöhnliches Verhalten gewesen, seit er einen Cannabis-Entzug gemacht habe, einen Monat lang in der Psychiatrie war. Erklären kann der Schweizer das erneute Kiffen und das Trinken nicht. Irgendwann landet er vor dem Veloraum am Bahnhof Stettbach und trifft dort auf sein Opfer. Er fragt den Unbekannten: «Hesch öppis?», und als dieser verneint und den Veloraum betritt, geht er ihm nach. Der 18-Jährige insistiert mit dem Fragen, verlangt nach dem Portemonnaie, will den Rucksack sehen, hält den Bedrängten an dessen Jacke fest – und zieht gleichzeitig mit der linken Hand ein Messer aus der Jackentasche.

Das Opfer steht in der Ecke, einem jungen Mann gegenüber, der mit dem Messer fuchtelt. Er öffnet das Portemonnaie und übergibt dem Räuber zehn Schweizer Franken und zehn Euro. Mehr hat er nicht dabei. Der Bursche gibt sich mit der Beute zufrieden, lässt von ihm ab und entfernt sich aus dem Veloraum. Was er nicht weiss: Der Überfall wurde von einer Video­kamera aufgenommen, die Aufnahme wird später als Beweis­mittel dienen. Noch an Ort und Stelle alarmiert das Opfer die Polizei – und der Täter kann mehr oder weniger in flagranti festgenommen werden. Er habe einen verwirrten, desorientierten, psychisch angeschlagenen Eindruck gemacht, schreiben die Polizisten im Rapport. Auch der Geschädigte sagt aus, der Räuber habe benebelt gewirkt.

Am Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich kann der Lehrling nicht darlegen, warum er den Raub­überfall begangen hat. Er nennt das Cannabis und den Alkohol als Grund; ein Motiv hatte er nicht, und offenbar hatte er die Tat auch nicht im Voraus geplant. Unklar bleibt bis zum Schluss die Sache mit dem Messer: Warum hatte er dieses dabei, woher stammt es, trägt er immer ein Messer auf sich, wenn er nach draussen geht?

Das Messer hat eine Klingenlänge von circa neun Zentimetern, es lässt sich nicht einhändig öffnen. Die Gerichts­vorsitzende hebt ein paar Fotografien hoch, und der Lehrling bestätigt, es handle sich um das Messer, das er im Veloraum gezückt habe. Verteidiger Abdelaziz sagt später im Plädoyer, dieses Messer könne nicht als eine Waffe im Sinne des Waffen­gesetzes bezeichnet werden, auch nicht als ein gefährlicher Gegen­stand. Ergo müsse sein Mandant wegen einfachen Raubes schuldig gesprochen werden, nicht wegen qualifizierten – was eine höhere Straf­androhung zur Folge hätte. Das Messer sei wohl am ehesten mit einem Sackmesser zu vergleichen. Und ja, so mancher Jugendliche habe halt eine Faszination für Messer.

Das Gericht folgt der Argumentation des Verteidigers, bejaht einen einfachen Raub und verurteilt den Lehrling zu einer bedingten Freiheits­strafe von elf Monaten. Die vier Tage, die er in Untersuchungshaft verbracht hat, werden davon abgezogen. Zur Strafe kommen ein paar Tausend Franken an Gerichts- und Verfahrens­kosten hinzu, die dem Mittel­losen aufgebrummt werden; es werde Jahre dauern, meint der Verteidiger, bis der Bursche diese Kosten abgestottert habe.

«Ich habe auf zwölf Monate getippt, einfach auf eine Zahl, die irgendwo in der Mitte liegt, zwischen der Staatsanwältin und dem Verteidiger.»

«Es sieht ein bisschen nach Milchbüchleinrechnung aus. Ist das immer so?»

«Das Urteil ist gerecht.»

«Es macht keinen Sinn, diesen 18-Jährigen wie einen Erwachsenen zu behandeln und zu bestrafen. Er hätte nach den Regeln des Jugendstrafrechts beurteilt werden müssen. Ich finde, er bräuchte dringend eine Massnahme, eine Anschlusslösung, damit so etwas nicht wieder passiert.»

«Es geht auch um eine pädagogische Komponente. Weil das Urteil unter dem Antrag der Staatsanwältin liegt, realisiert der Beschuldigte, dass es sich lohnt, den Fehler einzugestehen und zu bereuen.»

Tatsächlich beteuert der junge Mann am Prozess mehrfach, das sei eine Dummheit, was er gemacht habe, ein grosser Fehler, so etwas werde nie mehr geschehen. Er wolle nun fleissig arbeiten, gute Noten nach Hause bringen, seinen jüngeren Brüdern ein Vorbild sein, ihnen bei den Haus­aufgaben helfen; das ist etwas, was er als ältester Sohn einer fremdsprachigen, bildungsfernen Familie nicht erlebt hat.

Anfänglich klappte es bei ihm gut in der Schule, doch ab der Sekundar­schule nahmen die Probleme zu. Er wurde zuerst herabgestuft, dann in eine Sonder­schule gesteckt, am Schluss aus der Schule geworfen. Als Gründe dafür nennt er sein schlechtes Benehmen; er habe sich gegenüber den Lehrern respektlos verhalten, Termine nicht eingehalten, aber er sei auch zu hoch eingestuft worden und deshalb unter Druck gestanden. In die Sonder­schule, sagt er, hätte man alle Problem­kinder gesteckt. Die Reibereien seien dort schlimmer geworden.

Heute hat sich der 18-Jährige aufgerappelt, einmal abgesehen vom Raubüberfall und von der Vorstrafe, die ihm das Fort­kommen nicht erleichtern wird. Er hofft, die Lehre beenden zu können, und berichtet dem dreiköpfigen Gerichts­gremium stolz von den guten Noten, die er im ersten Semester erzielt habe. Irgendwann während der Befragung zieht er einen Entschuldigungs­brief hervor, den er seinem Opfer geschrieben hat, und liest einige Passagen vor. Er sagt, er würde sich gerne persönlich beim Geschädigten entschuldigen, es tue ihm wirklich leid, er wolle Wieder­gutmachung leisten. Und ja, er habe den Brief allein geschrieben, ohne Hilfe, er habe im Internet nach den passenden Formulierungen gesucht.

«Also, diese Geschichte mit dem Entschuldigungsbrief, ich finde das komisch. Das war doch reine Prozesstaktik, sonst hätte er den Brief schon längst abgeschickt.»

«Die Gerichtsvorsitzende hat das Urteil gut begründet, ich glaube, das hat auch er verstanden.»

«Überhaupt fand ich den Prozess verständlicher, als ich es erwartet habe.»

«Ich fand ihn menschlicher als erwartet.»

«Ich fand den Prozess distanziert.»

«Am Schluss befürchtete ich, dass eine Moralpredigt kommt, wie man das oft in den Gerichtsberichten liest. Ich war wohltuend überrascht, dass dies nicht der Fall war. Die Vorsitzende beliess es bei einer kleinen Ermahnung.»

Es sei mehr als eine Dummheit, was er getan habe, gibt die Gerichts­vorsitzende Maya Knüsel dem Verurteilten mit auf den Weg. Er müsse aber nicht ins Gefängnis, sondern habe eine bedingte Freiheits­strafe erhalten, mit einer minimalen Probezeit: «Dieses Urteil ist ein Warnschuss.»

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