Von Hürlimann zu Ivković – und zurück

Einst waren die Jugoslawinnen und Jugoslawen in der Schweiz die Traumausländer. Bis vor 25 Jahren. Da wurde die SVP gross und «Jugo» zum Schimpfwort. Und das Leben mit einem «ić» im Nachnamen zum Hindernislauf.

Von Andrea Arezina (Text) und Merlin Flügel (Illustration), 13.03.2019

Von Hürlimann zu Ivković – und zurück
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Als Julia* und Bojan* 1989 in Luzern heirateten, wählten sie bewusst Ivković als Familien­namen und nicht Hürlimann. Julia war damals der Meinung, einen «ić»-Namen zu tragen, sollte in der Schweiz normal werden.

«Ich habe mich gewaltig getäuscht», sagt die Hunde­physio­therapeutin und hebt ihre Hände wie Takt­stöcke zu den ihr wichtigen Worten, «gewaltig getäuscht.»

Die erste Volksinitiative der SVP

1992 – drei Jahre nach Bojans und Julias Hochzeit – sah man in der «Tagesschau» Mütter und Kinder auf der Flucht und Männer, die Krieg führten. Es waren blutige Bilder von Massakern, der Vielvölker­staat Jugoslawien brach auseinander.

Im selben Jahr lancierte die SVP eine Volks­initiative «gegen die illegale Einwanderung» – das erste Volks­begehren in ihrer Parteigeschichte. Der Lohn erwerbstätiger Asyl­bewerberinnen sollte demnach an den Staat gehen, der damit die von ihnen verursachten Kosten deckt. Und illegal Eingereiste sollten kein Asyl bekommen.

Für die Flüchtlinge aus Jugoslawien wäre das verheerend gewesen: Die meisten hatten keine Chance, legal einzureisen, weil die Schweiz von ihnen ein Visum verlangte, das in den Kriegs­wirren kaum zu bekommen war.

Im Abstimmungskampf vier Jahre später schaltete die SVP hetzerische Inserate und behauptete, wegen der «zehntausendfachen, gesetzeswidrigen Ansiedlung von Rechts­brechern steigen Kosten, Kriminalität, Drogen­handel». Einige Zeitungen weigerten sich, das Inserat zu drucken. Die «Berner Zeitung» ging auf den Vorschlag der Initianten ein, die umstrittenen Aussagen durchzustreichen und den Hinweis «Die Argumente sind der Zensur zum Opfer gefallen» hinzuzufügen.

Die Provokationen der SVP funktionierten damals wunderbar: Weite Kreise reagierten mit maximaler Empörung – und trugen die fremdenfeindliche Botschaft umsonst weiter.

Die Initiative wurde zwar abgelehnt. Aber nur weil die grossen bürgerlichen Parteien und der Bundesrat sie entschieden bekämpften. Das Resultat fiel relativ knapp aus: mit 53,7 Prozent Nein-Stimmen. Die SVP war damals mit 15 Prozent nur viertstärkste Partei, hinter SP, FDP und CVP.

Das Mathebuch aus Belgrad

Bojan ist kein Ausländer, sondern Schweizer. Er kam mit seinen Eltern 1967 als Kind in die Schweiz und machte hier seine Ausbildung zum Heil­pädagogen. Dass sein Name seine jugoslawische Herkunft verrät, war für ihn lange kein grosses Thema. In den 90er-Jahren sei ihm aufgefallen, dass manche Leute anders mit ihm sprachen, wenn sie ihn für einen Jugoslawen hielten. «Ich spürte, dass sie das Gefühl hatten, ich sei nicht besonders schlau.»

Auch im Lehrerzimmer der Schule, wo er unterrichtete, geschah ihm das. Einmal brachte er darum aus Belgrad ein Mathebuch für Sechst­klässler mit und zeigte es seinem Kollegen. «Der war ziemlich verblüfft, als er den schwierigen Stoff sah», sagt Bojan und fährt sich mit den Fingern durch sein silbergraues Haar, als liessen sich die unangenehmen Erlebnisse so abstreifen.

«Er ist mehr Schweizer als ich», sagt Julia über ihren Ehemann, «und immer pünktlich.» Sie sitzt am massiven Esstisch und schenkt Tee ein.

Julias Heimatort war Zug, die Heirat mit Bojan machte sie zur Luzernerin. Das führt sie allen, die es hören wollen, genüsslich vor. «Die Leute sollen nicht meinen, ein Bojan Ivković könne eine Julia Hürlimann nicht zur Lozärnerin machen.»

Julia verliert ihre fröhliche Art, wenn sie an die 90er-Jahre zurückdenkt. Eigentlich sei sie ja stolz gewesen auf ihren neuen Nachnamen Ivković, sagt Julia, auch weil sie sich als Kämpferin gegen fremdenfeindliche Vorurteile gesehen habe. Doch was sie erlebte, wenn sie ihren Namen aussprach, damit hatte sie nicht gerechnet: «Oft hatte ich das Gefühl, bei den Leuten geht der Laden runter.» Der Blick­kontakt verschwand, sie schauten sie nicht mehr an und schwiegen zusehends.

Julia entwickelte Strategien. Nachdem sie bei telefonischen Reservationen in einem Restaurant immer wieder den Tisch in der Nähe des WCs bekommen hatte, ging sie dazu über, auf den Namen Hürlimann zu reservieren. «Damit wir auch wieder mal am Fenster sassen.»

Manchmal liess sich der Name nicht vermeiden, und die Ivkovićs mussten einen grossen Aufwand betreiben. Bei der Wohnungs­suche etwa. Dann versuchten sie dem Vermieter mit Bojans Rang in der Armee zu imponieren. Oft waren die Anstrengungen so mühsam wie erfolglos. Wenn Julia an ihre damaligen Verrenkungen denkt, findet sie es rückblickend «nur noch absurd».

Waren Julia und Bojan einfach naiv, als sie ihren Familien­namen wählten? «Vielleicht», sagen sie heute. «Aber die Feindlichkeit gegenüber Jugoslawinnen und Jugoslawen hat uns wirklich überrascht.»

Ragusa als Inspiration

Zwei Drittel aller serbischen, bosnischen und kroatischen Nachnamen enden auf «ić». Eine halbe Million Personen, die heute in der Schweiz leben, haben ihre Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien. Rund 300’000 von ihnen haben keinen Schweizer Pass. Es ist die grösste Ausländer­gruppe im Land. Eine, deren Image sich in den 90er-Jahren rasant verschlechterte.

Jugoslawien war für die Schweiz einst ein Sehnsuchts­land. Nachdem der Chocolatier Camille Bloch (1891–1970) seine Ferien in einer Küsten­stadt am Adriatischen Meer verbracht hatte, benannte er ein neues Produkt nach ihr. Der Schokoladen­riegel mit den ganzen Hasel­nüssen heisst immer noch Ragusa. Die Stadt heisst heute Dubrovnik und ist im Sommer ein überfüllter Touristenort.

«Menschen aus Jugoslawien waren einmal hoch angesehen in der Schweiz», sagt der Historiker Thomas Bürgisser, der in seiner Dissertation die Beziehung zwischen der Schweiz und Jugoslawien untersuchte.

Schon in den 60er-Jahren rekrutierten Firmen wie BBC und Sulzer Elektro- und Maschinen­ingenieure aus Jugoslawien. Auch viele Ärztinnen und Zahnärzte, die in der Schweiz fehlten, holte man aus Jugoslawien. «Damals war die Arbeits­migration aus Jugoslawien noch vorwiegend eine Elite­migration», sagt Bürgisser.

Ab den 60er-Jahren kamen die Saisonniers dazu. Im März standen sie in langen Schlangen am Grenz­bahnhof Buchs SG und warteten auf die «sanitarische Kontrolle»: Sie mussten sich nackt ausziehen und auf Krankheiten untersuchen lassen. Danach wurden sie an ihren Einsatzort geschickt. Die Stelle zu wechseln, war ihnen nicht erlaubt, länger als neun Monate durften sie nicht in der Schweiz bleiben. Der «Blick» porträtierte diese «Fremd­arbeiter» 1975 unter dem Titel «Menschen wie Du und ich».

Die Fremden­feindlichkeit wurde in den 60er-Jahren politisch angefacht. Etwa von der Initiative des Rechts­populisten James Schwarzenbach, der vor «Überfremdung» warnte und den Anteil der Ausländer an der Gesamt­bevölkerung auf 10 Prozent begrenzen wollte. (Derzeit liegt ihr Anteil bei knapp 25 Prozent.)

Der Hass konzentrierte sich auf die damals grösste Ausländer­gruppe, die Italiener. «Das Ausländer­problem wurde in der Bevölkerung vorwiegend als ein Italiener­problem wahrgenommen», so Historiker Bürgisser. Die Jugoslawen waren in den Jahren der Überfremdungs­debatte als Alternative zu den Italienern sogar willkommen.

Sie galten als genügsam, arbeitsam, zuverlässig, als Traum­ausländer. Die jugoslawischen Gast­arbeiter «werden von den schweizerischen Arbeit­gebern im Allgemeinen überdurchschnittlich geschätzt», hielt der Bundesrat 1976 fest. Und so war es in den Rezessions­jahren der 70er-Jahre möglich, dass die Zahl der Jugoslawen sich auf 60’000 verdoppelte, während die anderer Ausländer­gruppen zurückging.

Ende der 80er-Jahre, als vermehrt ungelernte Personen aus ärmeren Gebieten Jugoslawiens in die Schweiz kamen, erschienen erste negative Schlagzeilen über Jugoslawen in der Schweiz. Ein Fall von Messer­stecherei, die Blutrache, Diebes­banden. Doch das waren Einzelfälle.

Nun kamen nicht mehr nur erwünschte Arbeits­kräfte, sondern auch ungerufene Flüchtlinge. Bei Kriegs­ausbruch nahmen die Asyl­gesuche aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens zu: 1991 waren es 16’000, im Jahr 1999 stieg ihre Zahl auf 33’000 an. Eine kleine Zahl, verglichen mit den sieben Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der Schweiz.

Von schwarzen Männern und weissen Schäfchen

Drei Jahre nach der Ablehnung der Initiative «gegen illegale Einwanderung» lancierte die SVP eine neue Initiative, diesmal «gegen Asyl­missbrauch». Sie forderte die Abweisung von Asyl­suchenden, die aus einem sicheren Drittland einreisen – also von fast allen, denn die Schweiz ist umgeben von sicheren Dritt­ländern. Und wer Asyl bekommt, hätte zum Überleben von den Behörden kein Geld mehr bekommen sollen, sondern nur Sachleistungen.

Die Initiative scheiterte 2002 extrem knapp: Es fehlten ihr 4208 Stimmen.

In der Sache ging die SVP mit den Initiativen ans Limit des völkerrechtlich Erlaubten. In den Kampagnen verstiess sie seit den 90er-Jahren gegen alle Standards. Schwarze Männer erheben das Messer gegen weisse Frauen. Schwarze Männer zerschneiden die Schweizer Fahne. Schwarze Hände bedienen sich in einer Kiste voller Schweizer Pässe. Und das gerade in seiner Niedlichkeit wirksamste Plakat von allen: Weisse Schäfchen weiden in der Schweiz und eines tritt ein schwarzes Schaf mit den Hinter­beinen hinaus. Die Schafe erregten auch im Ausland Aufsehen und wurden von rechten Parteien in Deutschland, Tschechien und anderswo kopiert. Im August 2018 tauchten sie an den Demonstrationen der Rechtsradikalen in Chemnitz wieder auf.

Die SVP hat das Politisieren der Fremden­feindlichkeit in der Schweiz nicht erfunden. Kleinparteien am rechten Rand waren ihr da voraus. Aber sie hat eine Stimmung aufgesaugt und nach Kräften geschürt. Ihr Aufstieg zur stärksten Partei der Schweiz fiel zusammen mit dem Abstieg der einst geschätzten Jugoslawinnen und Jugoslawen zu den verachteten «Jugos». Und die beiden Entwicklungen hingen zusammen. Die Ausländer­feindlichkeit war die perfekte Ergänzung zur Anti-Europa-Politik der SVP. Das waren die zwei Säulen ihres Nationalismus.

2003 gewann die SVP die Wahlen und wurde zur stärksten Partei der Schweiz.

Rassismus? Gibts hier nicht

Im selben Jahr fassten Bojan und Julia den Entschluss, ihren Familien­namen zu ändern. Sie wollten Hürlimann heissen, nicht mehr Ivković. Den Ausschlag gab das Wohl ihrer zwei Kinder. «Die hätten es ohne das ‹ić› im Namen viel einfacher gehabt», sagt Julia.

Eines Tages kam ihre kleine Tochter Milena* von der Schule nach Hause und wollte kein Wort Serbo­kroatisch mehr reden. Was vorgefallen war, erzählte Milena nie. Aber der Schock sass offensichtlich tief: Sie zog ihren Sprach­boykott durch. Sie sträubte sich gegen Sommer­ferien in Belgrad, und wenn sie trotzdem mitmusste, sprach sie kein Wort mit ihren Gross­eltern und weigerte sich, zu essen.

Danach bereiteten Julia und Bojan alles vor für die Namens­änderung: ein dickes Dossier mit Erlebnis­berichten, ärztlichen Gutachten und einem Leumunds­zeugnis von Bojans Chef. Das Gesuch wurde abgelehnt.

Die für die Namens­änderung benötigten «wichtigen Gründe» seien nicht erfüllt, so die Begründung, denn: Rassismus existiere in der Schweiz nicht. «Richtig, richtig zynisch war das», Julia und Bojan wiederholen die Worte mehrmals, sie hebt dazu ihre Hände, er schüttelt den Kopf und fährt sich durchs Haar.

Sie spielten alles Mögliche durch: In den Kanton Zug ziehen, weil es dort einfacher sein soll, den Namen zu ändern? Scheidung, und dann nochmals heiraten, diesmal mit Hürlimann als Familien­namen? Die Sache bis vor Bundes­gericht ziehen? Aus Kosten­gründen verwarfen sie alle Ideen.

Dann änderte das Gesetz, Namen­sänderungen wurden einfacher. 2013 reichten die Ivkovićs ein zweites Gesuch ein. Wieder wurde es abgelehnt. «Weil der Kanton Luzern noch nichts vom neuen Gesetz mitbekommen hatte», sagt Julia, sie schüttelt den Kopf. Im dritten Gesuch nannten sie die neu gelockerten Paragrafen. Und es klappte. Seit dem 27. März 2013 heissen sie Julia und Bojan Hürlimann.

«Unsere Schweiz»?

Zu diesem Zeitpunkt schaute die SVP in der Ausländer­politik längst auf mehr als nur Achtungs­erfolge zurück. 2006 nahm das Volk das von SVP-Bundesrat Blocher verschärfte Asylgesetz deutlich an. Und 2010 setzte sich die Partei erstmals mit einer ausländerfeindlichen Initiative durch. Ausländer, die mit Drogen handeln, stehlen oder Sozial­hilfe erschleichen, müssen demnach zwingend ausgeschafft werden.

Heute zielt die Partei nicht mehr nur gegen Asyl­bewerber, sondern gegen alle Ausländerinnen und Ausländer, auch jene aus EU-Ländern. Im Januar stellte die SVP das neue Partei­programm vor. «Heimat ist das, was wir vermissen, wenn wir auswärts sind», heisst es da. «Den Schweizer Dialekt, die Musik, das frische Trinkwasser, knuspriges Brot, den Cervelat, ja sogar das ‹Aromat›.» Parteipräsident Albert Rösti sagt vor den Medien aber vor allem, was für ihn nicht zur Heimat gehört: die Zuwanderung nämlich. «Unsere Schweiz ist geprägt von überfüllten Zügen, von verstopften Strassen, von an Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen herumhängenden Asylanten. Das ist ein Bild, das uns nicht gefällt.» Dass heute die Zuwanderung so tief wie lange nicht mehr ist, erwähnt er nicht.

Rösti spricht von derselben Schweiz, in der Bojan Ivković aufgewachsen ist. Und die ihn dazu veranlasste, seinen Namen aufzugeben, und Julia dazu, ihren Mädchen­namen wieder anzunehmen.

Besonders Julia ist die Erleichterung anzusehen, während Bojan erzählt, wie er zum ersten Mal als Herr Hürlimann bei den SBB ein Ticket bestellte. Er konnte seinen Ohren nicht trauen, als er diese freundliche Frage hörte: «Herr Hürlimann, schön, dass Sie anrufen. Wie können wir Ihnen helfen?» Er lacht, wenn er das erzählt. Und dann seufzt er.

Weil es diese Freundlichkeit in der Schweiz für Julia und Bojan als Ivković nicht gab.

* Namen wurden geändert.

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