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Schnell untersucht, falsch bestraft

Von Brigitte Hürlimann, 12.03.2019

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Das hat Potenzial für einen Eintrag im «Guinnessbuch der Rekorde»: Innerhalb von nur sechs Tagen heisst das Obergericht des Kantons Zürich gleich zwei Revisions­begehren gut. Hat man so etwas schon einmal erlebt?

Dazu muss man Folgendes wissen: Die Revision ist ein ausserordentliches Rechtsmittel – ihre Gutheissung führt zur Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils. Die Voraussetzungen dafür sind allerdings sehr streng: Das Vertrauen in die Richtigkeit eines Urteils müsse «nachträglich durch schwerwiegende Tatsachen erschüttert werden», schreibt das Obergericht. Das heisst, diese Tatsachen oder Beweis­mittel haben zwar schon vor der Verurteilung existiert, wurden vom Gericht aber nicht zur Kenntnis genommen: weil sie niemand thematisiert hat.

In unseren beiden Fällen hat sich jedoch nie ein Gericht mit der Sache beschäftigt. Es geht um zwei Strafbefehle, die nicht angefochten, dadurch rechtskräftig und zum Urteil geworden sind, ausgestellt von der Staats­anwaltschaft. Also von jener Behörde, die den Sachverhalt untersucht und danach entscheidet, ob der Fall eingestellt, per Anklage vor ein Gericht gebracht oder eben per Strafbefehl gleich selbst erledigt wird, was in über 90 Prozent aller Straffälle passiert. Der sogenannte ordentliche Straf­prozess ist längst zum Ausnahmefall geworden.

Und nun hebt also die II. Strafkammer des Zürcher Obergerichts via Revisions­gesuch zwei rechtskräftige Strafbefehle auf – und, man staune nochmals, heisst damit zwei Begehren der Staats­anwaltschaft gut. Es sind die zu Richtern mutierten Ankläger, die verlangen, man möge bitte ihre eigenen Entscheide aufheben, weil es sich klarerweise um Fehlurteile handelt.

So viel zum Thema, wie sorgfältig im Rahmen eines Strafbefehls­verfahrens noch untersucht wird – oder eben nicht. Häufig stützen sich die Staats­anwaltschaften einzig auf die Polizeiakten, verzichten auf Einvernahmen der Beschuldigten oder auf andere Beweis­erhebungen. Die Beschuldigten wiederum verzichten häufig auf eine Einsprache gegen den Strafbefehl respektive gegen ihre Verurteilung: weil sie oft nicht verstehen, was da mit ihnen passiert.

Die beiden Fehlurteile, die aufgehoben worden sind und zur Neubeurteilung zurück an die Staats­anwaltschaft spediert werden (wie von ihr verlangt), betreffen zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte.

In einem Fall geht es um einen 81-jährigen Autofahrer, der wegen fahrlässiger Körper­verletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 50 Franken plus einer Busse von 400 Franken verurteilt wurde – weil er einen Verkehrsunfall verursacht haben soll. Erst im Nachhinein, als der Strafbefehl rechtskräftig war, realisierte die Staats­anwaltschaft, dass nicht der Verurteilte am Steuer sass, sondern dessen Bruder. Dieser hatte sich mit dem Führerausweis des Verurteilten ausgewiesen, was im Zusammenhang mit einem weiteren Unfall aufflog. Der zweifache Unfall­verursacher gab gegenüber der Polizei zu, er habe den Führer­ausweis seines Bruders behändigt, weil ihm der eigene entzogen worden war. Der Bruder habe dies nicht gewusst. Der ahnungslose und völlig unschuldige Senior wurde prompt per Strafbefehl bestraft und wehrte sich nicht dagegen.

Beim zweiten Vorfall geht es um eine 39-jährige Doktorandin, die wegen Diebstahl zu einer bedingten Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 50 Franken plus einer Busse von 400 Franken verurteilt wurde; sie hatte nach dem Vorfall sogar einen Tag in Haft verbracht. Die Frau wehrte sich zwar gegen den Schuldspruch und die Strafe, reichte ihre Einsprache aber mit einem Tag Verspätung ein. Der Strafbefehl wurde rechtskräftig und damit zum Urteil.

Erst Monate später reichte die Verurteilte bei der Staats­anwaltschaft ein medizinisches Gutachten ein, das aufzeigt, dass sie an einer schweren psychischen Erkrankung leidet und zum Zeitpunkt des Diebstahls ihr Handeln nicht steuern konnte – sprich: Sie war schuldunfähig und darf nicht bestraft werden. Der Staats­anwaltschaft war zwar bekannt, dass die Frau in die Psychiatrie hatte eingeliefert werden müssen, sie klärte aber eine allfällige Schuld­unfähigkeit zum Tatzeitpunkt offensichtlich nicht ab.

Warum eigentlich nicht?

Mit Strafbefehlen sollen Massendelikte effizient abgewickelt werden. Ob das Bestreben nach Effizienz der Gerechtigkeit dient oder ein faires Verfahren ermöglicht, steht auf einem anderen Blatt. Mittels Revisions­begehren hat sich die Zürcher Staatsanwaltschaft immerhin in zwei Fällen bemüht, unterlassene Untersuchungs­handlungen, die zu Fehlurteilen führten, wiedergutzumachen. Bleibt zu hoffen, dass die Strafverfolger-Richter ihre Lehren daraus ziehen.

Beschluss vom 10. Januar 2019, SR180017, und Beschluss vom 16. Januar 2019, SR180022.

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