Von ganzem Herzen Nein

In ihrem neuen Buch beschäftigt sich Sheila Heti mit der Frage, ob sie Mutter werden soll. Ihr Versuch, fern von äusseren Erwartungen Antworten zu finden, ist eine Übung in weiblicher Autonomie.

Von Hanna Engelmeier, 04.03.2019

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Sheila Heti hat viele Fragen. Grosse Fragen. Aus diesen Fragen hat sie Literatur gemacht, und wenn man genauer sagen möchte, was für eine Literatur das ist, wird es sofort schwierig. Das galt schon für ihr Buch «How Should a Person Be?», das man der Einfachheit halber einen Roman genannt hat.

Mit guten Gründen hätte man es auch eine Kompilation nennen können, denn es besteht aus essayistischen Passagen, Erzählungen und Interviews, die die Erzählerin namens Sheila mit ihren Freundinnen führt. So versucht die Erzählerin herauszufinden, was sie selbst eigentlich ausmacht: «Ich weiss, dass Persönlichkeit eine Erfindung der Nachrichten­organe ist. Ich weiss, dass es Charakter nur rein äusserlich gibt und dass sich im Körper alles bloss um Temperatur dreht. Wie also arbeitet man an seiner Seele? An einem gewissen Punkt, das weiss ich, muss man seine Seele vergessen und einfach tun, was von einem verlangt wird.»

Von sich selbst verlangt die Erzählerin vor allem eines: eine Autorin zu sein, und von diesem Verlangen und ihrer Arbeit handelt das Buch ebenso wie von ihrer gescheiterten Ehe, komplizierten Freundschaften, Trips zur Art Basel Miami Beach und allem Möglichen sonst, was nach einer Netflix-Verfilmung mit Kathryn Hahn in der Hauptrolle ruft.

In ihrem neuen Buch «Mutterschaft» (ins Deutsche gebracht von Thomas Überhoff) will Hetis Erzählerin wissen, ob sie Mutter werden soll. Sie ist Ende dreissig, und alles scheint darauf hinzudeuten, dass sie sich beeilen sollte.

Aber sie nimmt sich Zeit.

Denn «die intensivste Beziehung» im Leben der Erzählerin ist die zum Schreiben. Und eine Entscheidung für die Mutterschaft würde vor allem bedeuten, dass eine neue, ganz andere Beziehung entstünde, nämlich die zu einem Kind. Damit ist die zentrale Konfliktfrage im Raum: wie sich Mutterschaft und Schreiben zueinander verhalten – und ob sie überhaupt zusammengehen. So also kann man die Vereinbarkeits­frage auch stellen.

Auch «Mutterschaft» trägt wieder den Untertitel «Roman», im Text aber tauchen noch ganz andere Bezeichnungen auf für das, was Heti hier veranstaltet. Von einem «Selbstverhör» ist die Rede und von einer «Autopsie».

Was Sheila Heti mit «Mutterschaft» veranstaltet, könnte ein Roman sein, aber auch ein Selbstverhör oder eine Autopsie. Steph Martyniuk

Das sind sehr starke Wörter; ob sie passend sind, ist eine andere Frage. Treffend sind sie, weil sie auf Hetis unerbittliche Fragetechnik verweisen. Und weil das Organische eine immense Bedeutung hat in diesem Text, dessen Abteilungen nach den unterschiedlichen Phasen des weiblichen Zyklus benannt sind.

Münzwürfe als Provokation

Die Fragen ihres Verhörs aber richtet Heti nicht an sich, sondern an drei Münzen, die sie wirft: Zwei- oder dreimal Zahl bedeutet Ja, zwei oder dreimal Kopf bedeutet Nein. Mit dieser vom Orakelteil des chinesischen «I Ging» inspirierten Technik stellt Heti nun Fragen wie diese: «Kann also das Universum eine Frau, die Bücher macht, aus der Verantwortung dafür nehmen, dass sie nicht dieses lebendige Etwas erschafft, das wir Babys nennen?» Mithilfe von Fragen aber schildert sie auch ihren Alltag und die Beziehung zu ihrem Freund, der der Vater ihres Kindes sein würde, wenn sie sich denn zu diesem Schritt entschlösse. Weil die spärlichen Antworten der Münzen oft widersprüchlich ausfallen, trägt das Verfahren jedoch wenig zur Klarheit bei. Irritation und Nervosität sind die Folge. Und vor allem führen die Fragen zwar zu immer komplexeren Überlegungen – aber kaum zu konkreten Handlungen. Vorerst.

Diese Münzwürfe sind eine Provokation: Ausgerechnet bei der Frage «Kind ja oder nein?» soll dem Zufall eine entscheidende Rolle zukommen. Der Zufall als anregendes Spiel.

In einem Interview hat Heti davon gesprochen, dass sie als Kind gern Schauspielerin geworden wäre und dass sie ihr Schreiben als eine Umsetzung dieses Wunsches betrachte, weil sie in ihren Texten ganz unterschiedliche Rollen ausprobieren könne. Dass es sich bei diesem Zugang zum Thema vor allem um ein enormes soziales Privileg handelt, spricht sie allerdings nicht an.

Privatistische Selbstzerfleischung

Was bei den Überlegungen im Buch ebenfalls nicht vorkommt: ob und wie sie ihr Kind betreuen lassen und irgendwann für seine Ausbildung aufkommen könnte. Wie sich womöglich die Beziehung zu ihrem Freund verändert. Oder ob sich die guten Freundschaften weiter pflegen liessen. Heti fragt auch nicht, ob sie weiterhin von ihrem Schreiben leben könnte; ob sie unter Umständen eine wie auch immer geartete Fest­anstellung annehmen müsste und ob sie eine solche als Mutter finden würde. Im Buch finden sich keine vergleichenden Überlegungen dazu, wie Mutterschaft in anderen Kulturen ausgeübt wird. Oder darüber, welche globalen wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten dazu führen, dass sie vor einer Wahl steht, die vielen anderen Frauen als reiner Luxus erscheinen muss.

Anders gesagt: Zentrale Themen, die in der gegenwärtigen Diskussion um Mutterschaft eine Rolle spielen, kommen bei ihr nicht vor.

Die Provokation dieses Buches besteht in der Verweigerung, dieses Thema explizit feministisch und damit politisch zu behandeln – und stattdessen eine Autopsie zu veranstalten, die man auch als privatistische Selbst­zerfleischung bezeichnen könnte.

Mit guten Gründen könnte man eine derartige Schreibhaltung kritisieren. Andererseits: Was damit eingefordert würde, gibt es ja bereits anderswo, von der sozial­wissenschaftlichen Forschung Nancy Frasers über die queer­theoretischen Essays etwa von Maggie Nelson bis zu Patricia Hill Collins’ Auseinandersetzung mit Fragen von Mutterschaft und race.

Feministische Pointe

Heti hingegen nimmt sich die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie sie sich die Frage nach der Mutterschaft stellt. Man kann das als Verweigerung all jener Fragen lesen, die derzeit Gegenstand der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung sind. Oder aber man sieht Hetis Buch als Entscheidung dafür, über Mutterschaft im Medium eines Künstlerinnen­romans zu schreiben, einer Gattung, die offenbar noch so unbekannt ist, dass mein Text­verarbeitungs­programm nicht einmal das Wort kennt.

Darin liegt eine Pointe, die man durchaus als feministisch verstehen kann: Nicht die Mutterschaft steht im Vordergrund, sondern die Frage, wie sich die Erzählerin überhaupt definieren kann in den Rollen, die sie für sich selbst gewählt hat. Die der Autorin steht dabei an erster Stelle, alles andere ist nachgeordnet.

Ihren Fragen spürt Heti nach, indem sie das eigene Leben mit dem ihrer Mutter vergleicht, die als Tochter einer Überlebenden der Shoah nach Kanada emigrierte, ihre eigene Mutter früh verlor und nicht aufhören konnte, darüber zu trauern. Mit jeder Generation nehmen in diesem Stammbaum die biografischen Härtegrade ab, was mit immer grösseren Möglichkeiten der Individualisierung einhergeht – und mit einer grossen Distanz.

«Meine Mutter», heisst es da, «wollte ein pflichtbewusstes Mädchen – ich war keines –, das ihr gehorchte und Respekt zollte. Sie war streng und wünschte sich, dass ich Ärztin wurde wie sie, während mir immer nur an der Kunst gelegen war. Sie sah nicht, was einem daran liegen konnte. Was ich am meisten liebte, hatte für sie keinen Wert, deshalb stand für mich die Frage im Raum, welchen Wert ich für sie haben konnte.»

In seiner hemmungslosen Subjektivität beschreibt Hetis Buch einen biografischen Moment, in dem dieses gut bekannte Mutter-Tochter-Drama sichtbar wird. Ihre Eigenheiten und ihr persönliches Nachdenken bietet sie dabei auf dieselbe Weise an, mit der sie ihre Münzen nutzt: als Möglichkeit, sich über die vorliegende Konstellation aufzuregen, ihr zuzustimmen oder sich wiederzuentdecken; als Anlass dafür, die eigene Position zu überdenken.

Wie ein Coming-out

Nach und nach erinnert sich Hetis Erzählerin, regelmässig sehr deutlich gespürt zu haben, dass sie keine Mutter sein wolle. Und an anderer Stelle heisst es, sie habe sich immer eine Art Coming-out gewünscht: «Ich hätte gern von mir sagen können: Dies weiss ich schon seit meinem sechsten Lebensjahr über mich. Manche haben mich deshalb scharf verurteilt, aber jetzt, seit meinem Coming-out, geht es mir viel besser. Nun gehört mein Leben wirklich mir.»

Die Identität, die darin besteht, sich nicht sexuell reproduzieren zu wollen, beschreibt Heti nicht als Leerstelle. Nach einem nächtlichen Alptraum, in dem sie von einem Monster überfallen wird, denkt sie über Jakob nach, jene alttestamentarische Figur, deren verwickelte Familien­geschichte ihren Höhepunkt in einem nächtlichen Ringen mit dem Dämon erreicht. Dieses Ringen ist der Ort, den Heti in «Mutterschaft» beschreibt und der ihre Mutterschaft ist.

Was sagen die Münzen?

«Jakob nannte seine Geschichte Pniel, das bedeutet: Hier stand ich von Angesicht zu Angesicht mit Gott. Mit was stehe ich von Angesicht zu Angesicht? Mit der Aussicht auf die Mutterschaft? – Ja / In Jakobs Geschichte segnet ihn dort der Engel. Aber Moment mal – was heisst es eigentlich, gesegnet zu werden? Dass das, womit wir ringen, zu unserem Wohl da ist? – Nein / Dass uns das Ringen retten wird? – Ja.»

Dass uns das Ringen retten wird – das ist eine neue frohe Botschaft. Und wie für jede frohe Botschaft gilt, dass nicht jede und jeder sie hören kann, will oder muss. Glücklich sind jene, die mit Hetis Buch darüber entscheiden können.

Das Buch

Sheila Heti: Mutterschaft. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019. 320 Seiten, ca. 34 Franken.

Zur Autorin

Hanna Engelmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kultur­wissenschaftlichen Institut Essen. Essays und Rezensionen von ihr erschienen zuletzt im «Merkur», in der «TAZ» und in der «Süddeutschen Zeitung». Sie twittert unter @HannaEngelmeier.

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