Woher kommst du wohin

Der deutsch-jüdische Dichter Rainer René Mueller ist im Alter von siebzig Jahren zum ersten Mal nach Israel gereist. Für die Republik hat er aufgeschrieben, was das für ihn bedeutet.

Von Rainer René Mueller, 01.03.2019

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«Ich spüre eine beantwortbare Erwartung und eine Verantwortung»: Rainer René Mueller. Dirk Skiba

Rainer René Mueller ist einer der grossen Unbekannten der deutschen Gegenwartsliteratur – mit Betonung auf «gross». Dass dieser Satz – mit Betonung auf «unbekannt» – in letzter Zeit etwas weniger wahr wurde, ist auch das Verdienst eines Schweizer Verlegers: Seit Urs Engeler 2015 eine Auswahl von Muellers Gedichten aus drei Jahr­zehnten publiziert hat, erfährt seine Lyrik unter Kennern breite Wertschätzung.

Anfang dieses Jahres ist Mueller, trotz schwerer Krankheit, im Alter von siebzig erstmals in seinem Leben nach Israel gereist, zu einer sechsteiligen Lese- und Vortragsreihe, eingeladen von der Hebrew University of Jerusalem. Wir haben ihn gebeten, seine Eindrücke aufzuschreiben, und er hat das auf seine Weise getan: nicht mit einem konventionellen Erklärtext. Eher, könnte man vielleicht sagen, mit einem wirklichkeits­gesättigten «poème en prose».

Woher kommst du wohin

... schon im Bereich des Counters der El Al im Flughafen Frankfurt, beim Warten auf den Sicherheits­check, auf den Rollstuhl und auf den mich begleitenden Arzt, geht mir eine Zeile eines Gedichts durch den Kopf, vor vielen Jahren, 1984 geschrieben – nun gegenwärtig, da: «… plötzlich ist alles dort / noch im Abflug / unterliegst du, / : das Sinken Steigen ...»

Ja, ich unterliege, meiner Einschränkung, ich unterliege den Bildern von etwas mir Unbekanntem, wohin ich reise, ich unterliege jetzt schon den an ihrem Ort noch nie eingelösten Versen, die in elf Tagen gelesene, gehörte, übersetzte gewesen sein werden. Wohin woher?

Als jüdischen Dichter in Deutschland, mit der in den Gedichten lesbaren Bindung an das, was unter dem Titel «The Legacy of German-Jewish Thought and Literature Today» zur Sprache kommen würde, – nein, nicht bebürdet, aber deren Bedeutung schon gewiss, erfasst mich nun so etwas wie eine eingesperrte Unruhe. Ich spüre eine beantwortbare Erwartung und eine Verantwortung.

In der Maschine, mein Sauerstoff-Konzentrator läuft leise, mein Arzt sitzt neben mir, prüft, kontrolliert den Sauerstoff­gehalt im Blut, später wird er mir ein Medikament injizieren, werden Luft, Luft­geräusche, Auf und Ab, Atmen und Atem zu – nicht Bruch­wörtern, nein, sondern zu einzelnen Bruchteilen gedachter Zeilen. Etwas, das nie geschrieben werden würde, aber als sich drehender Text, zerlegter Wortkörper, in der kaleidoskopischen Innen­spiegelung sich immer wieder neu zusammenfügt.

Jetzt erst, ja: Es sind jüdische Menschen da, die Bilder kehren wieder. Kurz vor dem Abflug zu sehen, das junge orthodoxe Paar, einige ältere Herren, im Schwarz­weiss der gegebenen Kleidungs­vorschrift, jene feine sehr alte, sehr kleine Dame, die später, nach der Landung in Tel Aviv, leise sprechend, erzählen würde, dass sie noch rechtzeitig aus Polen «herausgekommen» ist und jetzt nach Hause kommt.

«Woher kommst du», da wird sie zum ersten Mal auftauchen, diese Frage, und dort wird sie als ein Begegnungs­kennzeichen gelten und wirksam sein, weil eine ganze Geschichte von Generationen darin sich findet. Mit einem Mal fühle ich mich sicher, ungefährdet, etwas von einer Gelassenheit, einer Ruhe, die ich in dieser Einfachheit bei mir «zu Hause» nicht empfinde, stellt sich ein. Ich errege hier mit Kippa kein «öffentliches Ärgernis», wie mir ein Polizist in Heidel­berg bedeutete, als ich ihn um Hilfe bat.

Sinken. Im Anflug sichtbar, im mittelmeerischen Licht des Spät­nachmittags, die Küstenline: nie von mir betretenes Land, bisher immer nur ein Gedachtes, ein Gelesenes, das wegen meiner Erkrankung als unerreichbar galt. Nun zeichnet es sich ab, zuerst als Farbspiel, wohltuend, ja, jenseits der Strandlinie, zuvor noch die scheinbar stillstehenden Schaum­kronen auf den Wellen­kämmen, die hellen Gelb-Ocker-Töne, das später noch so deutlich werdende Gelbliche-Weissliche, und auffallend: grün, hingelegt wie Teppiche.

Flughafen Ben Gurion, es sind die Farben des verbauten Gesteins, die mich unvergessbar begleiten werden, es sind die Farben des Tempel­bergs, es sind die Farben der Jerusalemer Mauern, es sind hier schon die Farben der Geschichte in diesem Land, versteinert, versintert, verkieselt in seinem Boden. Hier hoch aufgerichtet in die repräsentative Funktions­architektur. Und beim Gepäck­band steht «meine» sehr alte polnische Dame und lächelt und jetzt erst sagt sie die Worte vom Nachhausekommen.

Rainer René Mueller an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Philipp Trunzer

Knapp eineinhalb Stunden später sind wir drei, mein Arzt und mein vertrauter Pfleger, im Hotel Cinema am Dizengoff-Platz, mitten in Tel Aviv, einem alten Kinocenter im Bauhaus-Stil, umgewidmet zu einem Hotel, das seine Herkunft zeigt, in einem Viertel aus Immigrations-, aus Fluchtgut: Bauhaus-Architektur, hier in dieser so jungen Stadt am Meer, zum Teil schon abgenutzt, gebraucht eben, restauriert, überlebend, ein Zeugnis dessen, was einmal, an einem anderen Ort, als Zeichen eines freieren Denkens, nicht zu dieser Verwirklichung kam.

Ein kurzer Gang später ums Carré – : das zuvor unerlebte Gefühl, sicher zu sein. Und – skurril genug – was sind das für Bäume? Es sind die in zahlreichen Büros kümmernden Benjamini, die hier zu grossen, im Stamm auffällig gedrehten Bäumen hochwachsen.

Nach einem Ruhetag, genutzt zu einer Stadt­rundfahrt, genutzt zum escape, dem Verschwinden aus dem Minivan für ein Strachandern in Jaffa, und der Rückkehr mit dem Stadtbus nach Tel Aviv, aufs Geschäfts­treiben der Allenby Road schauend, finde ich mich am Folgetag vormittags in einem Seminar­raum des Minerva Institute for German History, Tel Aviv University, ein.

Nun: Ich unterliege meinen Gedichten, den Fragen ihrer Wirklichkeit, ihrer schwierigen Sprachlichkeit. Studenten und Lehrkräfte des German Department hören zu, fragen, hören. Die Übersetzung von «... man nennt es Glück» durch Chiara Caradonna ist so gut, dass ich das Gedicht in englischer Sprache so lesen kann wie in Deutsch. Jede Nuance ist erfasst. Es klingt mir, als hätte ich es so geschrieben.

Klang: Ich spreche kein Hebräisch; höre dann die Übersetzungen in hebräischer Sprache und bemerke, dass die rhythmische, – sagen wir die «metronomische» – Eigenheit des Gedichts erhalten ist. Und, die Zuhörer beobachtend, spüre ich, wie die Sequenzen sich entfalten.

Das Unerwartete geschieht: Das Geschriebene, mein geschriebes klingt zurück. Das ist das Kostbare, was hier geschieht: Unbekanntes von einem hier Unbekannten wechselt im Lesen in die Gegenwart tonalen, poetisch begrifflichen Verstehens vor dem Hintergrund der «Woher-kommst-du-wohin»-Geschichtlichkeit der poetischen Rede. In diesem Land, hier, bei jungen Menschen.

Einer kommt nach dem reading zu mir, Asif, zugetan, offen, aufmerksam, mit einer zaghaften Neugier. Ich signiere ihm, mit mehr als nur einer Unter­schrift, eines der wenigen Bücher, die ich bei mir habe: «Chasse de Neige / Schneejagd». Es liegt so vieles zurück, da es zum Vorschein kommt.

Später, nach meiner Rückkehr nach Deutschland, erfahre ich, dass dieser junge Mann über Paul Celan arbeitet, der vor fünfzig Jahren, im Herbst 1969, nach Jerusalem kam und vorzeitig abreiste; das späte Gedicht «Die Pole» spricht davon.

Jerusalem. Die Fahrt von Tel Aviv, in ihrer raschen Flüchtigkeit, vorbei an Blühendem, an Grün, an der Sichtbarkeit geologischer Strukturen hiesiger Erde, die sich an den aufgeworfenen Rändern der Schnell­strasse zeigen, führt uns ins Guest House Mishkenot Sha’ananim. Der folgende Morgen gibt uns, meinem begleitenden Pfleger und mir, den Blick auf den Tempel­berg, auf den Davids­turm, indes vor der Terrasse, ungeachtet der anderen Vögel, vor allem die kleinen, braunen, ins Rot schimmernden, von mir «Salomon-Tauben» genannten, sehr alten orientalischen Tauben. Der Rosmarin blüht und der Salbei steht im Wuchs.

Die Hochgebaute Stadt. Wirklich.

Oben auf dem Mount Scopus, meine Verpflichtungen dort, im German Department der Hebrew University, eine masterclass zu «Love Poetry in German(y)» erscheint vor dem Hinter­grund des Zeit­ vergehens fast nicht möglich. Und doch: Ein einziges Gedicht, «Der Schönen von St. Denis», reicht aus, um von Baudelaire in die Gegenwart zu führen, «... man nennt es Glück» / «... they call it bliss» war gegenwärtig; die englische Übersetzung präsent.

Ich habe hier ja über einen der p o e s i e, der Dichtung zugeordneten Aufenthalt zu berichten; ich kann nicht so tun, als kämen meine vers nicht vor.

Eine erste Fassung des Gedichts «Mount Scopus» ist während des Aufenthalts in Jerusalem entstanden. Nach seiner Rückkehr nach Heidelberg hat Mueller dem Text die endgültige Form gegeben. Für die Republik hat er auch eine Rezitation des Textes eingelesen (siehe Audiofile). Rainer René Mueller

«Mount Scopus»

Es gab mehrfach die Situation: Ich wollte «… man nennt es Glück» nicht mehr lesen. Oder «Lirum, Larum», das sich in seiner geschichts­verweisenden Wörtlichkeit, wenn ich es dann doch las, stets als gegenwärtig zeigte, nach so vielen Jahren, unverhofft, überraschend für mich, da es doch, so schien es mir, in der Erscheinung des «Kinder-reimlichen» als etwas gelten konnte, was im Musikalischen als «Bagatelle» hätte genannt werden können. Es ist keine Bagatelle.

«Lirum, Larum»

Ein andermal: Es ging nicht. Also las ich die «Lasker Variation», Else Lasker-Schüler war bekannt hier, ihr Grab in Jerusalem wurde bei der kriegerischen Vereinigung der getrennten Stadt­hälften zerstört, mir bleibt nur die Vergegen­wärtigung einer Dichtung im Nachruf.

Gleichwohl ist es möglich, in diesem (sprachlich) deutschen Zusammenhang, und unter der Begrifflichkeit «Jewish-German Thought», auf den Unterschied zwischen legacy und heritage hinzuweisen, auf den Bruch.

Wie erarbeite ich legacy, um die schmale, reiche heritage in etwas zu übertragen, das sich in der Gegenwart als Fortführung, als wirkende Weiter­gestaltung – in seiner teilweise inhärenten Vergeblichkeit – darstellen liesse?

Freilich, da sind die grossen Namen: Benjamin, Nelly Sachs, Bloch, Celan, Adorno, Arendt, Auerbach, Peter Szondi …

Am übernächsten Tag, Leo Baeck Institute; Frau Dr. Lina Baruch vom Franz Rosenzweig Minerva Research Center erwartet mich. Mein Übersetzer ins Hebräische, Dr. Jan Kühne, ist schon da, auch Dr. Chiara Caradonna, die unendlich viel für diesen Aufenthalt in Israel getan hatte. Ich lese aus «LiedDeutsch», jener Sammlung, die schon in den 80er-Jahren erschienen war, spreche dann mit den Zuhörern, es sind sehr junge Menschen da (Aktion Sühnezeichen), ältere auch, eine alte Dame, die – wie sie sagte – mir von der vorherigen Lesung gefolgt war und feuchte Augen­winkel hatte. Angerührt denke ich, sie hatte wahrscheinlich schon sehr lange keine deutschen Gedichte mehr gehört und den «Raum» wahrnehmen können, von dem her sie geschrieben waren.

Die letzte Veranstaltung ist für das Goethe-Institut, Tel Aviv, vorgesehen. Abermals steht «LiedDeutsch» zur Lesung.

Noch bleibt Zeit: Die Altstadt von Jerusalem zieht uns in ihre Gassen. Ich kann mir nicht helfen – trotz oder wegen der in dieser Stadt wirkenden Geschichte –, ich kann sie mir als Stadt des Christentums nicht denken, ich kann es nicht, wohl wissend um alles und angesichts der Steine, die hier verbaut sind. Es ist der Meleke, der (nach der arabischen/hebräischen Wortwurzel) königliche Stein, über Weiss, bräunlich, ins gebrochene Gelb changierend, der eine Verbindung einzugehen scheint mit dem Licht. Vor der Klagemauer bleibe ich sprachlos, im Abstand vor dem Ort des Gebets.

Ein Schwächeanfall hätte beinahe die letzte Lesung in Tel Aviv verhindert. Sie fand statt. Einmal noch wollte ich nach Jaffa, und – wie Wege sind –, ich bleibe in den Gassen des flee market, eine wunderschöne persische, silberne, durchbrochene Schale aus dem 19. Jahrhundert in der Hand, im Laden eines iranischen Juden hängen. Sie ist viel zu teuer für mich, er schenkt mir eine sehr schöne, mustergewebte seidene Krawatte, mit der Bemerkung, ich sei ein «weiser Mann».

Das wird mein Reisesegen sein. Woher kommst du wohin?

Für meinen Arzt Dr. Chr. H., für Phil, und für C. C.

Zum Autor

In Würzburg geboren und seit der Kindheit überwiegend in Heidelberg ansässig, begann Rainer René Mueller in den 70er-Jahren erste Gedichte zu veröffentlichen. Auf sein Buchdebüt «LiedDeutsch» von 1981 folgte eine Reihe von Bänden mit Lyrik und Prosa­gedichten, allesamt bei kleinen, bibliophilen Verlagen erschienen und stets in Zusammen­arbeit mit einem bildenden Künstler. Die Texte schlossen an das Werk von Paul Celan an, dessen zentrale Fragen – nach der adäquaten Erinnerung an die Shoah, dem Fortleben des Antisemitismus und der Möglichkeit eines lyrischen Sprechens nach Auschwitz, zumal auf Deutsch – Mueller in die Gegenwart fort- und in eine eigene Poetik überführte.

1994 erschien der Band «Chasse de Neige / Schneejagd» unter dem Pseudonym Ellis Eliescher, eine namentliche Reverenz an seine Grossmutter, die, wie Celan, aus Czernowitz stammte. Es sollte auf Jahre hin der letzte Gedicht­band des Autors bleiben.

Der Initiative des Lyrikers Dieter M. Gräf und des Verlegers Urs Engeler war es dann zu verdanken, dass 2015 eine Auswahl von Muellers Gedichten aus den vergangenen drei Jahrzehnten erschien. Das veränderte den Blick auf Muellers Werk schlagartig. Als Joachim Sartorius wenig später das Gedicht «Lirum, Larum» aus Muellers erstem Gedicht­band in der FAZ vorstellte, sprach er stellvertretend für das Gros der Leserschaft, dem die Bedeutung von Muellers Werk bis dahin entgangen war: «Wir müssen seine Gedichte lesen», lautete das Fazit. Lesen – und hören, könnte man ergänzen.

Zum Weiterlesen und -hören

Rainer René Mueller: POÈMES – POËTRA. Ausgewählte Gedichte 1981–2013. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Dieter M. Gräf. roughbook, Schupfart 2015. 108 Seiten.

Rainer René Mueller: geschriebes. selbst mit stein. Edition a o u e y, Heidelberg 2018. 56 Seiten.

Die beiden Gedichtrezitationen in obigem Text hat Rainer René Mueller eigens für diesen Beitrag angefertigt. Auf lyrikline.org, einer laufend erweiterten Hörbibliothek, die seit 1999 Dichter­stimmen aus aller Welt versammelt, ist er mit weiteren Rezitationen eigener Gedichte zu hören.

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