Warum die Nationalbank keine Renten retten muss

Politiker wollen, dass die SNB Geld in die Pensionskassen einschiesst. Dieser Forderung liegen drei grundlegende ökonomische Irrtümer zugrunde.

Ein Kommentar von Simon Schmid (Text) und Till Lauer (Illustration), 26.02.2019

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Bei der Geldbeschaffung für die Altersvorsorge wird die Politik gern kreativ. Es gibt praktisch keine Quelle, die nicht schon in die AHV hätte umgelenkt werden sollen: das Nationalbankengold, die Überschüsse des Bundes, die Mittel für die Entwicklungshilfe, das Mehrwertsteuer-Demografieprozent.

Neueste Idee der SP, der Gewerkschaften und der SVP: Die National­bank soll aus ihren regulären Einnahmen jährlich zwei Milliarden Franken in die Pensions­kassen einschiessen, um die Renten in der zweiten Säule aufzubessern. Legitimiert wird die Forderung mit dem Verweis auf die aktuelle Geldpolitik. Die National­bank zerstöre die Alters­vorsorge, wird behauptet, ihre Negativ­zinsen frässen das Pensionskassen­vermögen auf.

Die Argumentation, die zuletzt gleich von mehreren grossen Medienhäusern verbreitet wurde, klingt plausibel. Doch sie ist irreführend. Die Vorstellung, wonach die Geldpolitik die Ursache der Probleme in der Alters­vorsorge – oder sogar deren Lösung – sei, beruht gleich auf mehreren Trugschlüssen.

1. Die Geldwertillusion

«Früher zahlte die Bank vier Prozent Zinsen, heute keinen Rappen mehr.» So lautet eine häufige Klage, seit das Zinsniveau gefallen ist. Menschen ärgern sich, weil sie glauben, ihr Erspartes werfe auf dem Bankkonto nichts mehr ab.

Warum diese Klage fehlgeleitet ist, haben wir in der Rubrik «Auf lange Sicht» beschrieben. Sie vernachlässigt, dass die Inflation früher deutlich höher war als heute. Auf dem Papier mögen Banken in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren ansehnliche Zinsen bezahlt haben – doch in Wirklichkeit waren diese hohen Verzinsungen nicht viel mehr als ein Teuerungs­ausgleich.

In den Wirtschafts­wissenschaften spricht man in diesem Zusammenhang von der sogenannten Geldwertillusion. Damit ist die Tendenz vieler Menschen gemeint, dass sie den Wert des Geldes unabhängig von der aktuellen Teuerung einschätzen. Das Phänomen ist tief in der Psyche verankert und spielt in der Theorie wie auch in der Praxis eine wichtige Rolle. So pochen etwa Arbeit­nehmer in Boom­phasen mit hoher Inflation typischerweise zu wenig auf Lohn­erhöhungen und fordern in der Rezession umgekehrt zu viel.

Die Geldwertillusion ist auch in der Alters­vorsorge weitverbreitet. Wegen der tiefen Zinsen würden die Pensions­kassen ausbluten, glauben viele. Ein Fehlschluss. Tatsächlich waren die realen Anlage­renditen in der zweiten Säule – also die Renditen abzüglich der Inflation – seit der Einführung der beruflichen Vorsorge im Jahr 1985 noch nie so hoch wie von 2010 bis 2015. Die Renten der heutigen Pensionäre sind aus realer Sicht höher, als bei der Einführung des Systems vor gut dreissig Jahren ursprünglich vorgesehen war.

Dies kann sich in Zukunft natürlich auch ändern – das soeben abgelaufene Anlagejahr 2018 verlief für viele Kassen zum Beispiel deutlich schlechter als die Jahre zuvor, in denen es an der Börse zu hohen Kurssteigerungen gekommen war.

Ob die Renditen in den Jahren 2019, 2020 oder 2021 wieder höher ausfallen als 2018, ist jedoch nicht der springende Punkt. Langfristig geht es vielmehr darum, die erforderliche Renten­höhe in der zweiten Säule – und damit auch die notwendige Verzinsung der Alters­guthaben – anhand der tatsächlichen Teuerung der Konsumenten­preise zu ermitteln. Und hier steckt das Denken vieler Leute in der Vergangenheit fest. Früher waren die Inflations­raten hoch. Doch seit der Finanzkrise herrscht in der Schweiz praktisch Nullinflation.

Entsprechend sinken auch die Renditen, die eine Pensions­kasse überhaupt erwirtschaften muss. Dies anzuerkennen, wäre der erste Schritt, den die Verantwortlichen in der beruflichen Vorsorge und in der Politik tun müssten (die Stell­schrauben dazu: Verzinsung des Spar­kapitals, Umwandlungs­satz). Es würde einige Kopf­schmerzen lindern. Und es würde den Fokus weg von der Geldpolitik lenken – die im Grunde genommen nichts damit zu tun hat.

2. Die Illusion der Geldpolitik

«Wir werden alles tun, um den Euro zu retten», sagte Mario Draghi vor sieben Jahren, zum Höhe­punkt der Eurokrise. Manchen passte dies zwar überhaupt nicht, doch wohl oder übel läutete der Präsident der Europäischen Zentral­bank mit diesen Worten das Ende der Krise ein (und wurde dafür auch mit dem Preis der Republik geehrt).

Sicher: Zentralbanker wie Draghi oder Thomas Jordan, der Präsident der Schweizerischen Nationalbank, standen in den vergangenen Jahren im Rampen­licht und haben mit ihren Handlungen massgeblich die Wirtschaft beeinflusst. In der Schweiz sorgte die SNB etwa mit dem Euro­mindestkurs dafür, dass die Konjunktur nicht abstürzte und das Land in eine Krise geriet.

Allerdings überdeckt die geldpolitische Show – die zuweilen nötig ist, um bei den Wirtschafts­subjekten die gewünschten Effekte zu erzielen – zu einem gewissen Grad den tatsächlichen ökonomischen Einfluss von Zentralbanken.

Vor allem auf die lange Sicht. Was die Geldpolitik gut kann: kurzfristig die Wirtschaft stimulieren und das Finanz­system in Situationen unterstützen, in denen das Vertrauen zusammenbricht. Den Zentral­banken wird daher zu Recht eine wichtige Rolle in der Bekämpfung von Krisen eingeräumt.

Was die Geldpolitik dagegen weniger gut kann: die Entwicklung von realen Wirtschafts­grössen über längere Zeit­räume steuern. Dazu gehören etwa das Wirtschafts­wachstum und die Löhne – und auch: die Realzinsen.

All diese Grössen befinden sich nun schon seit mehreren Jahr­zehnten im Sinkflug. Ökonomen haben dafür das Diktum der «säkularen Stagnation» beziehungsweise der «neuen Normalität» geprägt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die Wirtschaft in einem anderen Gleich­gewicht als früher befindet – einem Gleich­gewicht mit niedrigeren Wachstums­raten als zu den einstigen Boom­zeiten und einer veränderten Demografie: Weniger Kinder kommen zur Welt, viele Erwerbs­tätige sparen im Hinblick aufs Alter.

Tiefere Realzinsen sind ein wichtiges Merkmal dieser neuen Ära. Es sei sinnlos, den 1990er-Jahren mit ihren hohen Zinsen nachzutrauern, schreibt etwa John Williams, Chef der Federal Reserve Bank of New York. Ein baldiger Wiederanstieg sei etwa so unwahrscheinlich, wie dass die Menschen im 21. Jahrhundert wieder Pager und Walkman benutzen oder Macarena tanzen.

Obwohl diese Diskussion nun schon mehrere Jahre geführt wird, erliegen viele Kommentatoren nach wie vor der Illusion, für die niedrigen Renditen am Finanz­markt seien primär die Zentral­banken verantwortlich. Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt: Die tiefen Leitzinsen der Zentralbanken sind ein Symptom der neuen Normalität, in der wir uns heute befinden.

Das gilt auch für die Negativ­zinsen, welche die SNB auf Einlagen der Banken erhebt. Ihretwegen würden die Pensions­kassen ausbluten, wird behauptet. Das ist Unsinn. Denn erstens halten die Kassen nur einen Bruchteil ihres Vermögens in flüssiger Form auf der Bank, wo es direkt von Negativ­zinsen betroffen ist. Und zweitens hängen die Renditen auf dem restlichen Anlage­vermögen viel stärker von Fundamental­faktoren ab – von der neuen Normalität – als von der Politik der Schweizerischen Nationalbank.

3. Die Souveränitätsillusion

«An der Grenze des Erträglichen» sei die Bilanz der SNB, liess der damalige Finanz­minister Ueli Maurer vergangenes Jahr am Rande eines Treffens verlauten. «Hier möchten wir dann auch etwas zurückbauen in Zukunft.» Er bezog sich dabei auf die Fremdwährungsreserven im Umfang von fast 800 Milliarden Franken, welche die National­bank in ihren Büchern hat.

Sicher: Es wäre angenehm, wenn die SNB seit der Finanz­krise etwas weniger Wert­papiere angehäuft hätte. Dann würde die Bewertung dieser vornehmlich in Euro und Dollar lautenden Papiere am 31. Dezember jeweils weniger stark schwanken, und die Buch­gewinne, welche die Gewinn­ausschüttungen an Bund und Kantone speisen, wären stetiger als in den letzten Jahren.

Egal wie man die Bilanz bewertet, um eine Feststellung kommt man nicht herum: Eine echte Wahl, ob sie intervenieren will oder nicht, hatte die SNB in den vergangenen Jahren nicht. Dafür war das Umfeld zu extrem: auf der einen Seite die Euro­länder mit ihrer Existenz­krise, auf der anderen Seite der starke Franken als sicherer Hafen. Unter diesen Umständen musste die SNB auf die eine oder andere Art einschreiten und den Franken schwächen – sei es mit dem Mindest­kurs, mit Negativ­zinsen oder Devisen­käufen. Alles andere wäre unvernünftig gewesen und gegen den gesetzlichen Auftrag.

Die populistische Lesart dieser Epoche, die noch nicht zu Ende ist, lautet: Negativ­zinsen sind eine ungerechte Steuer, die grosse Bilanz ist des Teufels, und alles muss so schnell wie möglich wieder so werden wie vor der Krise.

Die realistische Lesart lautet: Einem kleinen und offenen Land wie der Schweiz kann es noch so gut gehen – wenn die Handels­partner im Sumpf stecken, wirkt sich dies zwangsläufig in irgendeiner Form im Inland aus.

Zu glauben, die Schweiz könne in einer Welt­wirtschafts­krise unbeirrt ihre Geld­politik nach altbewährter Manier weiterführen und dabei weiterhin in den Genuss sämtlicher bekannter Annehmlichkeiten kommen – eine stetige Konjunktur, ein hohes Lohn­wachstum, überdurchschnittliche Anlage­renditen –, ist eine Illusion. Sich ihr hinzugeben, heisst, die Augen zu verschliessen: vor der wirtschaftlichen Realität und den Kompromissen, die sie erfordert.

Das gilt auch für die Alters­vorsorge. Natürlich könnte die SNB bereits morgen die Negativ­zinsen abschaffen – und damit der EZB zuvorkommen, die dies vermutlich erst 2020 tun wird. Dann würden wohl auch die Zinsen auf Eidgenössische Staats­anleihen ein paar Zehntel­prozentpunkte nach oben gehen, und Pensions­kassen hätten einen Tick mehr Spielraum beim Anlegen.

Andererseits würde damit der Franken erneut gestärkt und die Konjunktur gebremst – was wiederum der AHV zur Last fiele, die durch Abgaben auf den Konsum (Mehrwert­steuer) und den Lohn (Abzüge) gespeist wird. Gewonnen wäre mit einer plötzlichen geldpolitischen Umkehr also nichts.

Schluss

Die Altersvorsorge ist ein System, das von zahlreichen Einflüssen abhängt: von der Demografie, vom Wirtschafts­wachstum, vom Finanz­markt und von den Ansprüchen der Versicherten in der ersten und in der zweiten Säule.

Verändern sich diese äusseren Einflüsse, kommt man nicht darum herum, an gewissen Stell­schrauben in diesem System zu drehen und Modifikationen vorzunehmen: am Renten­alter und an den AHV-Beiträgen sowie an den Soll­renditen und Umwandlungs­sätzen in der beruflichen Vorsorge.

Was dagegen nichts nützt, ist, mit dem Finger auf die Geldpolitik zu zeigen. Denn diese ist nicht die Ursache der fundamentalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Sondern bestenfalls eine Begleit­erscheinung, die negative Folgen der Krise während einer begrenzten Zeit abfedern kann.

Möglich, dass es, wenn sich die Eurozone dereinst wirtschaftlich stabilisiert, tatsächlich eine grosse Stange Geld von der SNB zu holen gibt. In deren Ausschüttungs­reserve befinden sich zurzeit 45 Milliarden Franken: Das sind zwar 22 Milliarden Franken weniger als noch vor einem Jahr, aber immer noch eine ordentliche Summe. Diese steht letztlich der Allgemeinheit zu.

Um darüber zu werweissen, was mit diesem Geld passieren soll, ist es aber noch zu früh. Ein Rückfall in die Krise bleibt möglich. Politiker, die in der Zwischenzeit etwas für die Vorsorge­werke tun wollen, sollten ihre Kreativität also in anderen Feldern als der Geldpolitik ausleben. Und dem Irrglauben, es gäbe einen Rentenklau durch die National­bank, ein für alle Mal abschwören.

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