«Hör mal zu, da ist ein Schauspieler, der heisst Bruno Ganz …»

Seine Karriere begann der kürzlich verstorbene Schweizer Schauspieler Bruno Ganz in den 1960er-Jahren auf der Bühne. Entscheidend war die Zeit am Theater Bremen unter Peter Zadek, dessen langjährige Lebensgefährtin Elisabeth Plessen sich an die Anfänge erinnert.

Von Elisabeth Plessen, 23.02.2019

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Leicht, frech, poppig: Bruno Ganz 1965 als Moritz Stiefel in «Frühlings Erwachen» am Theater Bremen. Fritz Wolle

Erinnerungssplitter. Weit Zurück­liegendes, das in einem anderen Jahrhundert spielt. Erste wilde Anfänge. Anfänge vieler junger Wilder: hochbegabte, offene, experimentierfreudige Schauspieler. Die Bremer Zeit.

Die aufregenden, poppigen Theaterjahre unter Kurt Hübner, als «Bremer Stil» eingegangen in die deutschsprachige Theatergeschichte. Wilfried Minks als Ausstattungs­leiter und Peter Zadek als Schauspiel­direktor arbeiteten am Bremer Theater am Goetheplatz.

Das Vorsprechen

Alle jungen Schauspieler wollten damals dorthin, und so traf eines Tages, aus Göttingen kommend, auch Bruno Ganz für ein Vorsprechen ein, das Zadek und Hübner alle paar Wochen veranstalteten, um junge Talente an ihr Dreisparten­haus zu ziehen und es vom alten Muff zu befreien. Sie wurden von Assistenten vorgesiebt, bis nur noch wenige übrig blieben; das Übliche. Als der 25-jährige Bruno die «Zoo­geschichte» von Edward Albee vorsprach, war Hübner krank. Und so fing es an.

Peter Zadek schreibt in seiner Auto­biografie «My Way»: «Ich war sehr beeindruckt (…), rief Kurt an (…): Hör mal zu, da ist ein Schauspieler, der heisst Bruno Ganz, ein Schweizer, der so einen komischen Schweizer Dialekt spricht, aber trotzdem finde ich den unheimlich begabt und würde ihn gern engagieren. Kurt bat mich, ihn zu sich nach Hause zu schicken. Und das tat ich. Kurt lag im Bett, und Bruno sprach ihm dann vor und wurde engagiert.»

Das Dreispartentheater musste bedient werden. Es gab Stücke für grosses Ensemble. So trat Bruno in «Die alten Zeiten sind vorbei», einer Art Bettler­oper, als Halb­starker auf, der auf dem Motorrad auf der Bühne rumfuhr, und Jutta Lampe spielte eine Nutte. Allmählich bildete Zadek Bruno Ganz zu seinem jugendlichen Star heran. An Bruno wurde ihm wieder deutlich, was ihn an einem Schau­spieler interessierte: das Innenleben, die Fantasie des Schauspielers.

Schüchternheit und Arroganz

In «Frühlings Erwachen» (1965) spielte Bruno den Moritz Stiefel. Sein Freund Melchior Gabor war mit Vadim Glowna besetzt, auch dieser blutjung, anders verklemmt und scheu in der Rolle als der grüblerische Bruno Ganz.

Minks verwendete als Bühnenbild ein Grossfoto der britischen Schau­spielerin Rita Tushingham. Es liess sich in einer Schiene über den Bühnen­boden hin- und herschieben, sodass der Szenen­wechsel fliessend war. Der Raum vor dieser Wand blieb leer. Rita Tushinghams Porträt, durch den Film «The Knack» in Deutschland berühmt geworden, «so etwas wie das Gesicht einer neuen Generation», erinnerte sich Minks später, «hatte eine merkwürdig erotische Ausstrahlung und eine Art Unfertigkeit, zwischen Schüchternheit und Arroganz, die man nur als Jugendlicher hat». Es korrespondierte vorzüglich mit den jungen Schau­spielern in ihrer Aus­strahlung aus Unfertigkeit, Schüchternheit und Arroganz.

Alles, was man hier sehen konnte, war das Gegenteil der «damals so schwerblütigen deutschen Besetztheit» (Minks). Es war Oberfläche, leicht dem Eindruck nach, Frechheit, Pop-Art. Klares, helles Licht aus Neon­röhren, der Zuschauer­raum blieb beleuchtet. Das erzeugte eine grosse Spannung zum Text, zu seiner eher verschwiemelten Jahrhundert­wenden­psychologie und Hoch­geschlossenheit  – zu den Halb­wüchsigen in ihren Schul­uniformen, die sich über die ersten erotischen Erfahrungen austauschten. Melchior-Glowna, dem Anschein nach bereits erfahrener, Moritz-Ganz, seiner zarten poetischen Träumerei über die Dinge des Lebens und des anderen Geschlechts nachsinnend bis hinein ins melancholische Gedanken­spiel über den Tod, ein etwaiges Leben danach: Hamletgedanken.

(Daraufhin bot Hübner Bruno Ganz den «Hamlet» an – obwohl Zadek abriet, der Bruno für diese Rolle noch für viel zu jung hielt. Erst 1982 unter Klaus Michael Grüber spielte Bruno den Hamlet wieder, nun an der Schaubühne.)

Die Fantasie an die Macht!

1966 dann Zadeks grösste Provokation des deutschen Bildungs­bürgertums damals mit Schillers «Räubern». Bruno Ganz spielte den Franz Moor, Glowna dessen Bruder Karl, Edith Clever die Amalia. Minks, der Ausstatter und Masken­bildner bei dieser Inszenierung, hatte Bruno eine affenartige Halbmaske verpasst, mit weit abstehenden Ohren, Henkeln geradezu, rot geschminkten Affenlippen, Knopfaugen, Krisselhaar, und ihm zusätzlich wie einem vierfachen Richard III. einen Buckel samt Klumpfuss gegeben.

Ein Lichtenstein-Comic, das berühmte «Crak!», auch vervierfacht und die Schützin in ein Männer­gesicht verwandelt, war das Bühnenbild, ein Halbrund von 16 Metern Länge, vor dem der schmale Bruno auf und ab humpelte, ein Bündel Briefe in der Hand, und 100-mal schrie: «Die Post ist da, die Post ist da!» Spätestens da verliessen die Leute buhend den Saal, oder sie blieben, fasziniert, sitzen. Mit böse blitzenden Augen las Bruno den Brief an den Vater vor. Das war zu viel an Frei- oder Frechheit auf der Bühne, war schiere Anarchie, befanden die Meinungs­macher von rechts und mahnten zum Zügeln, zu Ehrfurcht und Ordnung.

Surrealistisch und over-the-top: Bruno Ganz und Edith Clever mit Konstantin Paloff (links) in «Mass für Mass», 1968. Archiv Ilse Buhs/Deutsches Theatermuseum München

Eine Schallmauer war durchbrochen. Fürs Publikum der aufziehenden 68er-Jahre und das junge Theater war es ein elektrisierender Schub, der aus dem Aufbruch in die Fantasie kam, sodass er auf seine Weise noch an die Castorfschen Gestade schwappen konnte. Die Fantasie an die Macht! In «Mass für Mass» trieb Zadek das Spiel mit den Schauspielern noch weiter ins nahezu Surrealistische, ein Over-the-Top auch das extreme Spiel mit den Stimmen. Bruno Ganz spielte Angelo, Edith Clever die Isabella. Sie kreischten sich an, wild mit dem Zeigefinger gestikulierend, Werner Rehm und Bruno bekämpften sich auf einem Stuhl wie Hähne mit ihren Falsettstimmen.

In Berlin

Als Zadek das Theater am Goetheplatz 1967 verliess, kam Peter Stein ans Haus und arbeitete mit Bruno Ganz und dem jungen Ensemble weiter. Das Resultat der «Torquato Tasso» mit Bruno als Tasso in Minks’ Bühnen­bild, woran sich viele heute noch erinnern (auch, da es im Fernsehen gezeigt wurde). Als Stein zwei Jahre später nach Berlin ging, nahm er die Stars des Bremer Ensembles mit, Werner Rehm, Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz, und formte mit ihnen den Kern seines Schaubühne-Ensembles.

Ich habe Bruno Ganz bei Stein in den Tschechows und in Gorkis «Sommer­gästen», als Prinz von Homburg und an den zwei opulenten Abenden des «Peer Gynt» gesehen: Ja, er konnte das mittlerweile alles darstellen. Bruno als Peer, der von Ekel und Lust getriebene junge Mann in den Fängen der Grünen, des Schweins, der Trolle und als Heim­kehrer an den Ort seiner Kindheit. Für mich in der Rückschau alles brillant, gekonnt erdacht, doch auch etwas wie Theater-Marktplatz. Immer war da aber eine Sehn­sucht in Brunos Wesen, schien mir, die in der Arbeit mit Stein nicht aufging. In seiner Arbeit mit Grüber ging sie auf.

So ist es für mich kein grosser Sprung aus den vergrübelten Momenten des jungen Moritz Stiefel in Bremen zu den tiefen, rätselhaften Bildern, oft extrem existenziellen Momenten bei Grüber. Bruno als Pentheus in der Spitze der Fichte auf der Flucht vor den rasenden Bakchen, herunter­geschüttelt am Boden der Messehalle, wo die Aufführung stattfand, der Kopf abgetrennt von der Mutter Agaue – die Edith Clever spielte – und deren Entsetzens­schreie über sich. Die Szene ist mir ins Gedächtnis eingebrannt. Die Erkundung eisiger Welt- oder Gefühls­gegenden im «Tod des Empedokles», was zu spielen kein anderer Regisseur als Grüber Bruno Ganz hätte geben können.

Die Hamletfrage

In all dem Spiel war der Moritz Stiefel zugegen, der sich fragte, wie denn die Welt oder ob sie geordnet sei. Die unbeantwortbare Hamletfrage, vor sich selbst nur abfällig als «Worte, Worte, Worte!» ausgewiesen, da es sie das Leben lang zu ergründen galt. Ich glaube, Bruno hat es versucht. Wenn er als einsamer Läufer – er wirkte nicht grösser als eine Stecknadel – vor frierenden Zuschauer­grüppchen im naziverfilzten Berliner Olympia­stadion Hölderlin rezitierte («Winterreise», 1977). Als einzige Kulisse liess Grüber die Ruine des Anhalter Bahnhofs zu: das Ende einer Kultur.

Die Bremer Zeit war ihm offenbar bis zum Ende sehr nah, wie mir unser gemeinsamer Freund, der Arzt Hartmut Rühl, jetzt sagte, es sei eine herrliche, beste, wunderbare Zeit gewesen. Bruno Ganz und ich haben nie viel miteinander gesprochen. Das brauchte es nicht. Bei manchen Menschen reichen auch Blicke.

Bruno Ganz

Geboren am 22. März 1941 in Zürich. Ausbildung zum Schauspieler, erste Rollen in Filmen von Karl Suter und Kurt Früh. 1962 ging Bruno Ganz nach Deutschland, wo seine Bühnenkarriere begann. Ausschlaggebend wurden die Jahre 1964 bis 1969 in Bremen unter dem Intendanten Kurt Hübner und den Regisseuren Peter Zadek und Peter Stein. Mit Stein kam Bruno Ganz 1969 ans Schauspielhaus Zürich; die Truppe wurde nach kurzem wieder vertrieben, was zur Gründung von Steins Berliner Schaubühne führte und – dank Regisseuren wie Claus Peymann, Klaus Michael Grüber, Luc Bondy – eine Glanzzeit des Ensemble­theaters einläutete. Im Film arbeitet Bruno Ganz mit Eric Rohmer, Wim Wenders, Reinhard Hauff, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Kurt Gloor, Claude Goretta, Alain Tanner, Theo Angelopoulos und vielen andern. In «Der Untergang» von Oliver Hirschbiegel (2004) spielte er Adolf Hitler. Bruno Ganz blieb auch dem Schweizer Film treu und trat unter anderem in «Vitus» von Fredi Murer (2006) und «Heidi» von Alain Gsponer (2015) auf. Am 16. Februar 2019 starb er in Zürich.

Zur Autorin

Elisabeth Plessen ist Schrift­stellerin und Übersetzerin. Als Mitarbeiterin – und Lebensgefährtin – des Theater­regisseurs Peter Zadek hat sie zahllose seiner Inszenierungen begleitet. Sie lebt in Berlin und Vecoli. Am 1. März erscheint ihr neuer Roman «Die Unerwünschte».

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