«Die Langstrasse ist komplett überwacht»

An der Zürcher Langstrasse filmen unzählige Kameras den öffentlichen Raum. Statt dagegen vorzugehen, nehmen Ermittlungs­behörden das illegale Film­material bei Vorfällen zu Hilfe. Eine Motion von Gemeinde­räten soll das nun ändern.

Von Daniel Ryser, 21.02.2019

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Hohlstrasse

Militärstrasse

Stauffacherstrasse

Langstrasse

Badenerstrasse

Kamera aussen

Kamera innen, gegen Strasse gerichtet

Quelle: Luca Maggi, Christina Schiller, Republik; Kartenmaterial: © OpenStreetMap

Militärstrasse

Langstrasse

Stauffacherstrasse

Badenerstrasse

Kamera aussen

Kamera innen, gegen Strasse gerichtet

Quelle: Luca Maggi, Christina Schiller, Republik;

Kartenmaterial: © OpenStreetMap

Der Anruf habe sie erreicht, als sie gerade beim Zahnarzt gewesen sei, erzählt die Frau. «Die Stadt­polizei fragte mich, ob sie bei mir in der Wohnung eine Kamera installieren dürfe.» Das war im Januar 2018. Der Anrufer habe sich geweigert, den Grund anzugeben. Daran sei die Sache letztlich gescheitert.

Sie habe aber eine Vermutung, worum es gegangen sei, denn der Polizist habe darauf bestanden, dass die Kamera eine gewisse Zeit vor dem letzten Februar­wochenende installiert werden müsse. «Ich wohnte damals direkt gegenüber des ‹Sächsfoif›, der Bar der GC-Fans, und am 25. Februar stand ein Zürcher Derby an. Man konnte also davon ausgehen, dass es ein heisses Wochen­ende wird.»

Als der Polizist noch einmal anrief, habe sie ihn gefragt, ob er denn keine Bedenken um ihre Sicherheit habe, wenn mutmasslichen Hooligans belastendes Film­material aus ihrer Wohnung präsentiert würde – und ob es der Polizei überhaupt erlaubt sei, den öffentlichen Raum auf diese Art und Weise zu überwachen. Es war das letzte Telefon zwischen der Frau und der Stadtpolizei.

Die Geschichte zeigt eine Problematik auf, die sich zu verschärfen scheint: Die Langstrasse und ihre Umgebung gelten wegen des Nacht­lebens und der Rivalität der Fans des FC Zürich und der Grasshoppers in den Augen von Medien, Politik, Polizei und Sozial­arbeit als Brennpunkt. Mittel wie die Überwachung des öffentlichen Raums, die eigentlich strengen Regeln unterworfen ist, dürften da gerade recht kommen.

Abgesegnet – und trotzdem illegal

Auch rund um die Republik-Redaktion im ehemaligen Hotel Rothaus an der Langstrasse im Kreis 4 wurden in den vergangenen Monaten mehrere Kameras montiert, schwarze Schirme an Nachbar­häusern, die nachts rot blinken und gefühlt jeden Schritt überwachen, den man hier macht. Eine vor wenigen Wochen installierte Rundum­überwachungs­kamera vor dem Hotel Sleep & Go scheint fast demonstrativ vor allem die öffentliche Strasse, nicht aber das private Gebäude selbst zu filmen.

Das wäre gesetzeswidrig. Der «Hotelier, der eine Webcam einrichtet, welche die Umgebung des Hotels zeigt» wird im Kommentar zum eidgenössischen Daten­schutz­gesetz als konkretes Beispiel für illegale Überwachung genannt. Ebenso wie der «Hausbesitzer, der wiederholt Sach­beschädigungen an seinem Haus feststellt, die durch Passanten begangen werden, und daher die Strasse vor seinem Haus überwachen möchte». Illegal. Sache der Polizei.

Sachbeschädigung – damit begründet ein anderer Nachbar der Republik-Redaktion, der Besitzer der Memphis-Bar, warum er dort vor ein paar Monaten zwei schwarze Schirme installiert hat, die nun rot über dem Trottoir blinken: Es sei an der Haus­fassade wiederholt zu Sprayereien gekommen. Wie gestochen scharf diese Bilder sein müssen und dass sie nicht nur die Fassade filmen und somit das Eigentum schützen, zeigt der Umstand, dass der Barbesitzer, wie er am Telefon bestätigt, seine privat aufgenommenen Bilder im Winter der Polizei ausgehändigt hat. Diese fahndete damals nach Männern, die in der Langstrasse andere attackiert haben sollen. Die Ermittler fragten in umliegenden Lokalen nach möglichen Film­aufnahmen.

Aus dem angeblichen Schutz des Eigentums wurde somit eine von der Polizei abgesegnete Dauer­überwachung des öffentlichen Raums. Illegal ist sie trotzdem. Das gesetzeswidrig aufgenommene Film­material könnte zudem als Beweis­mittel vor Gericht dienen, was in der Schweiz je nach Schwere des Delikts möglich ist.

Auch die Street Parade wird überwacht

Die Überwachung des öffentlichen Raums ist bewilligungspflichtig. Wer ihn filmen will, muss sich an klare gesetzliche Vorgaben halten. «Der Private darf sein Eigentum nur dann filmen, wenn er es schützen will. Das bedeutet aber auch, dass die Kamera nur so installiert werden darf, dass sie eben das zu schützende Eigentum filmt», sagt der Zürcher Daten­schützer Bruno Baeriswyl. So sei es etwa ein legitimer Zweck, einen Bankomaten mit Kameras zu überwachen, wie das Banken tun. Die Kameras dürften aber nur die Nutzung des Bankomaten filmen, nicht den öffentlichen Bereich darum herum.

Die permanente Überwachung des öffentlichen Raums sei auch der Polizei verboten, sagt der Daten­schützer. «Eine Überwachung muss immer verhältnismässig sein, also so lange wie geeignet und wie erforderlich dauern.» Das heisst: An klar deklarierten Ereignissen kann die Polizei vom Verbot der Überwachung des öffentlichen Raums ausgenommen werden. So steht es im Polizei­gesetz. Beispiele für solche Ausnahmen sind etwa beschriftete Kameras an der Street Parade für das sogenannte «Crowd Management», die – auch verdeckt und nicht beschriftet eingesetzten – mobilen Kameras an Fussball­spielen und Demonstrationen oder die verdeckte Überwachung einer bestimmten Einzel­person in der Verbrechens­bekämpfung. «Dass der Staat während Tagen oder Wochen einfach irgendwo verdeckt Menschen erkennbar filmt in der Annahme, es könnte an diesem bestimmten Ort vielleicht etwas vorfallen, ist nicht erlaubt», sagt Baeriswyl.

In der Stadt Zürich brauchen sich Private nicht um diese Gesetze zu scheren: Sie können einfach drauflosfilmen. So will es der Zürcher Stadtrat. In einer Weisung vom Herbst 2016 lehnte er «eine Reglementierung der privaten Video­überwachung auf Gemeinde­ebene» ab, weil die Durchsetzung einer solchen Reglementierung «mit einem erheblichen Verwaltungs- und Kontroll­aufwand verbunden wäre». Das sei eine rechtswidrige Situation, kritisiert Baeriswyl: «Grundsätzlich braucht ein Privater für das Filmen des öffentlichen Raums eine Bewilligung, in der er darlegt, warum das verhältnismässig sein soll. Das müssen schon gute Gründe sein. Kampf gegen Vandalismus genügt da nicht. Das ist die Aufgabe der Polizei.»

Gut ist: Wer gefilmt wird, kann sich wehren. «Jeder Private, der den öffentlichen Raum filmt, ist verpflichtet, Auskunft darüber zu geben, was er filmt», sagt Baeriswyl.

Schlecht ist: Man muss das auf Antrag tun, auf dem zivilrechtlichen Weg.

Es gibt aber durchaus Fälle, wo sich das Gemeinde­wesen gegen die Überwachung durch Private gewehrt hat. Baeriswyl erzählt vom Fall einer Firma, die auf Überwachungen spezialisiert ist und zu Demonstrations­zwecken einfach eine ganze Strasse überwachen liess. «Die betroffene Gemeinde hat das unterbunden. Das müsste auch in der Stadt passieren: dass sich die Exekutive wehrt. Der Gemeinderat müsste die Politik verpflichten, das Gesetz anzuwenden.»

Dass immer mehr mit Video überwacht werde, sei schweizweit zu beobachten, sagt der Daten­schützer. Doch die Reaktionen darauf seien unterschiedlich. So hat die Stadt Bern im Herbst 2018 das Hotel Schweizerhof gezwungen, die Kameraüberwachung einzustellen, nachdem im Laufe eines Strafverfahrens gegen den Teilnehmer einer Demonstration bekannt geworden war, dass die Hotel­kameras nicht bloss den Eingang überwachten, sondern den ganzen Bahnhof­platz. Das sei illegal, so die Gemeinde. Trotzdem verurteilte das Berner Regional­gericht den Demonstrations­teilnehmer aufgrund jener Aufnahmen wegen Landfriedensbruchs.

Was Privaten erlaubt ist, darf die Polizei nicht: Im Januar 2019 entschied das Bundes­gericht, dass die polizeiliche Video­überwachung eines Angestellten in Geschäfts­räumen nicht verwendet werden dürfe, weil diese nicht von der Staats­anwaltschaft angeordnet worden sei.

49 Kameras auf 300 Metern

Dass sich die Politik für eine Regelung einsetzt, verlangen in einer aktuellen Motion auch die Zürcher Gemeinde­räte Luca Maggi (Grüne) und Christina Schiller (AL). «Wir sind die Langstrasse abgelaufen und haben auf knapp 300 Metern 49 Kameras gezählt», sagt Maggi. «Und das nur in der einen Hälfte der Langstrasse im Kreis 4. Den Kreis 5 haben wir uns noch nicht angeschaut.»

«Die Langstrasse ist komplett überwacht», sagt Christina Schiller. Bei einem Treffen in einem Café hätten sie direkt gegenüber zwei weitere, noch nicht mitgezählte Kameras vor einer Bar namens Green Mango entdeckt. Die Skala scheint also nach oben offen. Auch wenn man nicht wisse, in welchem Winkel die Kameras filmten, so könne man wegen der Ausrichtung davon ausgehen, dass ein grosser Teil den öffentlichen Grund ziemlich sicher mitfilme. «Gewisse Fälle wie das Hotel Sleep & Go oder die Memphis-Bar sind krass: Sie überwachen ziemlich offensichtlich in erster Linie den öffentlichen Raum», sagt Maggi. «An der Langstrasse 116 filmen drei rot blinkende Kameras, die an einem leer stehenden Ladenlokal angebracht sind, das Trottoir mit. Welches höhere Interesse besteht dort, den öffentlichen Raum zu filmen?»

Eine illegale Praxis, die wiederum der Polizei zugutekommt – die sich «aus taktischen Gründen» nicht äussern will. Für Luca Maggi ist klar, «dass das Auswerten des Video­materials im Fall der Memphis-Bar kein Einzelfall ist». Der grüne Politiker ist Mitglied einer Gemeinderats­gruppe, die sich mit dem Nacht­leben im Kreis 4 befasst, und arbeitet selber in einer Bar in diesem Quartier. «Viele Bar- und Club­betreiber sagen es offen: Es ist zwar nicht so, dass die Polizei einen bittet, Aufnahme­geräte zu installieren und den öffentlichen Raum gleich mitzufilmen. Aber sie empfehlen einem zumindest die Installation von Kameras. Und wenn was passiert, fragen sie nach.»

Was sagt die Stadtpolizei dazu? Sie äussert sich «aus taktischen Gründen» nicht zu konkreten Fragen der Republik. Auch folgende Fragen liess sie bis Redaktionsschluss unbeantwortet: Sind Kameras, die den öffentlichen Raum filmen, ein Thema bei der Stadt­polizei? Greift die Polizei bei der Aufklärung von Vorfällen regelmässig auf Aufnahmen Privater zurück und nicht nur bei dem hier geschilderten Vorfall rund um die Memphis-Bar? Wir liefern die Antworten nach.

Die lasche Reglementierung der Stadt komme einer «Überwachung des öffentlichen Raums durch die Hintertür» gleich, sagt Christina Schiller. In ihrer aktuellen Motion fordern die beiden Politiker vom Stadtrat das, was Daten­schützer Baeriswyl aus rechtlicher Sicht sowieso als zwingend erachtet: dass «eine Bewilligungs­pflicht für die Überwachung des öffentlichen Raums durch Video­kameras Privater» festgelegt werde. «Dabei soll insbesondere gewährleistet werden», schreiben die beiden Gemeinde­räte, «dass die Bevölkerung vor übermässiger Überwachung durch Private geschützt wird und solche Kameras bei einer allfälligen Bewilligung durch die Stadt ausreichend und gut sichtbar gekennzeichnet werden.»

Ein Schutz, der laut Daten­schützer Baeriswyl immer notwendiger wird: «Früher waren die Kameras ziemlich gross, da fühlten sich die Menschen schnell gestört und überwacht. Heute sind diese Geräte zum Teil so klein, dass man sie kaum noch sieht. Die Qualität der Bilder aber wird immer besser.»

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