Am Gericht

Mit Zeitungsschnipseln gegen Völkermord

Vollumfänglicher Freispruch für den früheren ivorischen Machthaber Laurent Gbagbo am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Wieder stellt sich die Frage: Warum muss das Weltgericht Schuldige laufen lassen?

Von Yvonne Kunz, 20.02.2019

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Ort: Internationaler Strafgerichtshof (ICC), Den Haag
Zeit: 15. Januar 2019
Fall-Nr.: ICC-02/11-01/15
Thema: Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Vergewaltigung, weitere unmenschliche Taten oder, eventualiter, versuchter Mord und Verfolgung)

Sein Freispruch in allen Punkten gibt zu reden: Laurent Gbagbo. Die erste Kammer des ICC in Den Haag unter dem Vorsitz von Cuno Tarfusser liess den ehemaligen Staatschef der Elfenbein­küste bereits vor Abschluss des Prozesses laufen. Mangels Beweisen. Mit ihm auch Charles Blé Goudé, Gbagbos einstiger Jugend­minister und selbst ernannter street general. Von einem Schock war zu lesen, einem Schlag für Chef­anklägerin Fatou Bensouda. Von einer Ohrfeige für die Opfer und einem neuerlichen Fiasko für das Weltgericht.

Denn es bestehen kaum Zweifel, dass Gbagbos Armee und Milizen nach dessen Abwahl im Jahr 2010 Hunderte Demonstrierende vergewaltigten und töteten, die für den rechtmässigen Sieger und heutigen Präsidenten Alassane Ouattara auf die Strasse gingen. Monatelang krallte sich Gbagbo an die Macht, bis er im April 2011 aus einem Bunker gezerrt und an den ICC überstellt wurde. Seither sass er in Haft, erst 2016 begann der Prozess, nun lebt er in Belgien.

Kein «systematisch angeordneter Angriff»

Thomas Verfuss, langjähriger ICC-Korrespondent und Vorsitzender der dortigen Journalisten­vereinigung, hat den Prozess verfolgt. Am Telefon aus Den Haag sagt er, zumindest ein teilweiser Frei­spruch sei zu erwarten gewesen. Konkret ging es um fünf Ereignisse zwischen dem 16. Dezember 2010 und dem 12. April 2011: Massaker beim Haupt­quartier der Oppositions­partei und bei einem Frauen­marsch sowie der Beschuss aus der Luft dicht besiedelter aufständischer Gebiete in Abobo und Yopougon.

Anders als an einem lokalen Gericht, erklärt der Reporter, reiche der Schuld­nachweis in einzelnen Punkten am ICC nicht: «Für eine Verurteilung wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach Völker­strafrecht ist der Nachweis eines systematisch angeordneten Angriffs auf die Zivil­bevölkerung seitens des Staates oder einer staats­ähnlichen Organisation zwingend.» Linkage, nennt er es im Fachjargon, die Verknüpfung der einzelnen Taten zu einem Plan. Das sei der Anklage nicht gelungen.

Diese machte in der Tat keine gute Figur. Auch Thomas Verfuss spricht von Fehlern: «Es traten Belastungs­zeugen auf, die nicht nur den von der Anklage­behörde erhofften Beweis nicht lieferten, sondern Gbagbo sogar entlasteten.» Verfuss erinnert daran, dass die Klage 2013 zunächst abgewiesen wurde – weil sie sich zur Hauptsache auf NGO- und Zeitungs­berichte stützte. Diese seien gut zur Erstellung des historischen Kontextes eines Konflikts, mahnte damals das Gericht, aber doch nicht als Ersatz für konkrete Ermittlungsresultate.

Der letzte von vielen gescheiterten Versuchen

Den Freispruch sieht Verfuss zudem als Spätfolge einer insgesamt verfehlten Anklage­praxis und -strategie des ersten ICC-Chef­anklägers Luis Moreno Ocampo, im Amt bis April 2012. Er habe zu hoch gegriffen, sich gerne mit klingenden Namen wie Ghadhafi geschmückt, mit Gbagbo den ersten ehemaligen Staatschef angeklagt. Die kriminalistische und juristische Detail­arbeit folgte der Taktik «erst verhaften, dann ermitteln». Und immer nur so weit, wie es die Verfahrens­stufe verlangt. Das rächt sich nun.

Für den ICC ist der Fall Gbagbo nur der letzte von vielen gescheiterten Versuchen, gegen Urheber grösster Grässlichkeiten Verurteilungen zu erwirken. 2014 musste er die Anklage gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta fallen lassen. 2016 wurde Jean-Pierre Bemba, einst Vize­präsident der Demokratischen Republik Kongo, zwar wegen schwerer Kriegs­verbrechen verurteilt. Im Berufungs­verfahren 2018 wurde aber auch er freigelassen – wegen schwerer Verfahrens­mängel. Und Omar al-Bashir, Macht­haber des Sudan, reist trotz Haftbefehl aus Den Haag einigermassen unbehelligt durch die Welt.

Der ICC war 2002 nach den Ruanda- und Jugoslawien-Tribunalen angetreten, einen Raum der internationalen Straf­justiz zu schaffen. Ein ständiges Gericht nach dem Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit, vor dem sich kein Diktator oder General, keine Rebellen­gruppe oder Junta verstecken kann. Ohne Recht keine Abschreckung, ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung, so die Philosophie. 123 Länder unterzeichneten 1998 das Römer Statut, die Rechts­grundlage des ICC.

Inzwischen ist die Ernüchterung gross. Der ICC wird weitherum als ineffektiv, opportunistisch, ja illegitim wahrgenommen. Seit das Welt­gericht seinen Betrieb aufgenommen hat, sind nur vier Verurteilungen zustande gekommen. Insbesondere in den einst engagierten afrikanischen Mitglieds­staaten hat der ICC ein Image­problem. In den ersten zehn Jahren wurden nur Afrikaner angeklagt. Für die beklagten Herrscher wurde es so ein Leichtes, die Stimmung in ihren Ländern gegen den «imperialistischen» ICC zu wenden. Gbagbo nannte den Prozess gegen ihn einen «französischen Plot».

Warum nicht George W. Bush?

Nicht alle Kritik aus Afrika sei billige antikoloniale Rhetorik, sagt Thomas Verfuss, der auch bei Journalists for Justice aktiv ist. Die ursprünglich kenianische NGO unterstützt Bericht­erstatter aus den betroffenen Ländern, finanziell und inhaltlich. Die afrikanischen Kolleginnen fragten: Warum nur Afrikaner? Warum nicht George W. Bush? Was ist mit Israel? Dort wäre die völkerrechts­widrige Siedlungs­politik als staatlicher Plan leicht zu beweisen. «Das ist mit juristischer Logik nicht nachvollziehbar», sagt Verfuss, «nur mit politischer.»

Angesichts des schwindenden Willens zur internationalen Kooperation hätte es der auf Freiwilligkeit beruhende ICC auch ohne eigene Versäumnisse schwer. Keine Grossmacht anerkennt das Gericht – weder die USA noch Russland, auch nicht Israel oder China. Die USA drohten im September 2018 offen allen Staaten mit Sanktionen, die in den Untersuchungen von Folter­vorwürfen in Afghanistan mit dem ICC kooperieren. Der aussen­politische Berater von Präsident Trump, John Bolton, sagte: «Der ICC ist tot.»

Der Druck auf den ICC ist symptomatisch für die Probleme der internationalen Strafjustiz. Der Rücktritt des langjährigen deutschen UN-Richters Christoph Flügge letzte Woche lässt tief blicken. Als einen Grund nannte er «alarmierende» Vorgänge bei der Neu­besetzung des türkischen Richter­postens. Der frühere Amts­inhaber Aydın Sefa Akay wurde in seinem Heimat­land wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet und angeklagt. Schon das ist «eine schändliche Miss­achtung des Grund­satzes der diplomatischen Immunität des Richters», wie Verfuss sagt.

Im Dezember 2018 wählte die General­versammlung der Vereinten Nationen den von der Türkei vorgeschlagenen Richter. Damit, sagte der zurück­getretene Flügge der «Zeit», wurde die Türkei für ihr politisches Manöver belohnt. Offenbar hätten die Diplomaten nicht verstanden, dass es um ein internationales Gericht geht, nicht um den Weltpost­verein. Da fehle jegliche Vorstellung davon, was eine unabhängige Justiz wert sei.

Grundsätzliches Dilemma

Der Eklat weist auf das grundsätzliche Dilemma des ICC hin: Als Arm der Justiz muss er apolitisch sein – ist aber für seine Legitimität auf das Zusammen­wirken mit politischen Repräsentanten und diplomatischen Vertretern angewiesen. Ansonsten kann das Gericht wenig ausrichten. Ein Gericht mit, wie Thomas Verfuss auch sagt, im Vergleich zu den Ruanda- und Jugoslawien-Tribunalen wenig finanziellen Mitteln. Und mit einer Chef­anklägerin, die seit Monaten kaum fassbar sei.

Vielleicht wird sich Fatou Bensouda ja zum Austritt der Philippinen nächsten Monat äussern; nach Burundi im vergangenen Jahr ist es das zweite Land, das den ICC verlässt. Ein philippinischer Anwalt hatte gegen das harte Durch­greifen von Präsident Rodrigo Duterte im Kampf gegen Drogen­kriminelle am ICC Klage eingereicht. Nun laufen Vorermittlungen wegen Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die philippinische Regierung wollte von Kriegs­verbrechen nichts wissen, sprach von legitimer Polizei­arbeit oder Notwehr – und schickte postwendend die Kündigung. Mit dem Rückzug, schreibt die philippinische Regierung, beziehe man Stellung gegen all jene, die Menschen­rechte politisierten.

Illustration: Friederike Hantel

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