Raumdeutung

Schlingensiefs Geist

Bis heute ist ein Film wie «Das deutsche Kettensägenmassaker» ein Vorbild politischer Kunst.

Von Philip Ursprung, 12.02.2019

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Vor kurzem nahm ich anlässlich der «Woche der Kritik» an einer Podiums­diskussion in der Berliner Volks­bühne zum Werk von Christoph Schlingensief teil. Die «Woche der Kritik», die dieses Jahr zum fünften Mal stattfand, ist eine Initiative von jungen Film­kritikerinnen und Film­kritikern. Sie versteht sich als Gegen­gewicht zur kommerziell geprägten Berlinale. Die Film­vorführungen sind von Gesprächen gerahmt. Kritik soll performativ stattfinden, nicht bloss auf Papier. Gesucht wird nicht der Konsens, sondern die Kontroverse.

Zu Beginn der Veranstaltung wurde Schlingensiefs einstündiger Film «Das deutsche Kettensägenmassaker» (1990) im 35-Millimeter-Format projiziert. Der Film wurde in gut zwei Wochen mit einem minimalen Budget gedreht.

Schauplatz ist eine Industrieruine im Ruhrgebiet. Der Vorspann ist eine kurze Sequenz der Feier zur deutschen Einheit vor dem Reichstagsgebäude in Berlin am 2. Oktober 1990. Darauf folgt die Ankündigung des Horrors: «Seit Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 haben Hunderttausende von DDR-Bürgern ihre alte Heimat verlassen. Viele von ihnen leben heute unerkannt unter uns. Vier Prozent kamen niemals an.» Die Handlung folgt dem Film «The Texas Chain Saw Massacre» (1974) und ist rasch erzählt: Eine Gruppe von West­deutschen lauert Ost­deutschen auf, die in den Westen übersiedeln wollen, und verwurstet sie.

Ich kannte den Film vom Bildschirm. Auf der grossen Leinwand der legendären Volks­bühne zeigte sich seine ganze formale Kraft. Strukturell ist er ein engmaschiges Gewebe von Tönen, Farben, Rhythmen. Das Knattern der zerbrechlichen Trabis mit den wehrlosen Opfern geht über ins Geheul der Kettensägen. Das Schleudern des roten Mercedes-Cabrio der Kannibalen verschwimmt mit dem Verspritzen von roter Farbe und dem Zerhacken von Fleisch. Das Lippenrot der vom Opfer ermordeten Kannibalin Margit (Susanne Bredehöft) schmiert über die Fensterscheibe des Wohnwagens und findet sich wieder im «Peace»-Zeichen, das der verrückte Jonny (Udo Kier) mit seinem blutenden Armstumpf auf die Kacheln der Wursterei zeichnet.

Die Akteure sind ständig in Bewegung. Sie jagen durch Korridore und über Industriebrachen. Sie ringen mit sich und mit Gegen­ständen, drücken Türen zu, quetschen Fleisch durch den Wolf und rammen Ketten­sägen in die Körper der Opfer. Sie übergeben sich, sie würgen und schreien in einem fort ihre Wut aus sich heraus. Die Kamera rückt ihnen zu Leibe, als wäre sie selber eine Kettensäge, die den Strom der Zeit zerstückelt.

Der Film arbeitet mit dem seit dem Surrealismus bekannten Mittel der Montage. In Zwischen­schnitten sind auf einem farb­verschmierten Schwarzweiss-Fernseh­schirm Szenen von Aufmärschen aus Nordkorea eingeblendet. Dieses found footage korrespondiert mit dem Vorspann. Der damalige Bundes­präsident Richard von Weizsäcker beendet seine Ansprache, danach hört man ihn sagen, wahrscheinlich zum neben ihm stehenden Helmut Kohl: «Und jetzt kommt die Nationalhymne», als ob er der Regisseur einer Opern­inszenierung wäre.

Beim Anblick der Politiker, die der Hymne lauschen, die ihrerseits vom Krachen des Feuerwerks überlagert ist, wird klar, dass die Politik im Grunde viel theatralischer ist als der Film, den der Regisseur Schlingensief mit seiner kleinen Equipe geschaffen hat. Im Unterschied zum Spektakel der Politik legt der Film die billigen Effekte der eigenen Entstehung genüsslich offen und lässt die Zuschauer hinter die Kulissen der Illusion blicken.

Bis heute entziehen sich die deutsche Trennung und die Wieder­vereinigung einer adäquaten Darstellung in der visuellen Kultur. Schlingensiefs «Kettensägen­massaker» ist eine Ausnahme. Lange als extremes Produkt eines exzentrischen Provokateurs abgetan, zeigt sich im Rückblick seine historische Tragweite. Der Film erschliesst die inneren Widersprüche des historischen Ereignisses. Er legt den Finger auf die Kluft zwischen Ost und West, auf die beidseits gestauten Aggressionen, die Gewalt­tätigkeit und die Irrationalität. Er rückt einen für viele Betroffene traumatischen Prozess künstlerisch ins Licht.

Im Vergleich zur analytischen Kraft des «Kettensägenmassakers» verblassen Rührstücke wie «Good Bye, Lenin!» (2003) oder «Das Leben der Anderen» (2006). Fünf Minuten «Kettensägenmassaker» lehren uns mehr über Trennung und Wiedervereinigung als die jahrelange Diskussion um das Freiheits- und Einheitsdenkmal, die «Einheitswippe».

Schlingensief sagte mir einmal, dass er keine «politische Kunst» mache. Sonst wäre er besser Politiker geworden und würde sich um Kompromisse, Lösungen und das Machbare bemühen. Seine Kunst ist aber dennoch politisch wirksam, denn sie hält ihrer Zeit den Spiegel vor. Dies wurde mir wieder bewusst, als in der Volks­bühne Ausschnitte des «Hamlet» von 2001 im Zürcher Schauspielhaus und aus damit zusammen­hängenden Fernseh­berichten gezeigt wurden.

Der Regisseur hatte damals die ganze Stadt Zürich in ein Theater verwandelt. Es gab Aktionen, in denen er das Verbot der SVP forderte und zur Schliessung des Theaters aufrief. Auf der Bühne traten unter anderem als Darsteller «aussteigewillige» Neonazis auf, die in der Schweiz resozialisiert werden sollten.

Eine solche Art von Kunst fehlt heute. Mit Ausnahme von Thomas Hirschhorn und dem Zentrum für politische Schönheit unter Philipp Ruch, von Christoph Büchel und Ursula Biemann gibt es in der Schweiz kaum künstlerische Haltungen, die die Dinge beim Namen nennen und zugleich künstlerisch produktiv machen. Schlingensiefs Œuvre schafft in dieser Hinsicht ein Vorbild. Bewaffnet nur mit den Mitteln der Kunst, stürzte er sich zusammen mit seinen friedlichen Mitstreitern auf die brennenden Probleme seiner Zeit.

Die Aktionen, Filme, Performances und Texte bleiben präsent und gegenwärtig bis heute, weil die Fälle, denen sie gelten, nicht gelöst sind. Es fehlt aber nicht nur Schlingensief als Person, die sich am liebsten mit Menschen verbündete, die die Gesellschaft an den Rand drängt. Es fehlt an einer Perspektive, welche die Gegensätze im Blick hat, Tod und Leben, Gut und Böse, Hochkunst und Slapstick. Und es fehlt an den Elementen, die seine Kunst so unverwechselbar macht, Ironie, Unterhaltung, Nüchternheit und Spielfreude.

Illustration: Michela Buttignol

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