«Manche Friedhöfe öffnen sich schon wie die Höllenpforte. Da weiss man, dass man alle Hoffnung fahren lassen kann»: Alle Bilder zu diesem Artikel wurden im Friedhof Zürich Manegg aufgenommen.

«Still gingst du. Gut warst du»

Den Autor Peter Stamm und den Publizisten Andreas Nentwich verbindet eine Friedhofsfreundschaft. Der jüngste Besuch brachte sie in Zürich an die Gräber von Friedrich Glauser und Aglaja Veteranyi. Ein Gespräch über das Leben, das Sterben und das Schreiben.

Von Andreas Nentwich (Text) und Joan Minder (Bilder), 26.01.2019

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Kurz vor Weihnachten habe ich mit Peter Stamm den Friedhof Manegg in Zürich besucht, vor allem wegen Friedrich Glauser und Aglaja Veteranyi. Peter Stamm hat Glauser in unsere Friedhofs­freundschaft eingebracht, ich Veteranyi. Der Unterschied ist nur, dass ich Glauser ebenfalls mag, Peter Stamm Veteranyi aber eher nicht. Oder jedenfalls nicht ihre Texte oder jedenfalls nicht so sehr. Wobei Peter Stamm niemandem bis zur Verdammung abgeneigt ist, sondern immer vorbehaltlich der Einsicht in eigene Kapazitäts­grenzen, wenn es beispiels­weise um Exaltiertheit geht.

Obwohl ich die ganze Zeit über das Aufnahmegerät in der Hand hatte, entwickelte sich zwischen uns auf dem Friedhof Manegg annähernd die gleiche Spontaneität wie in den Jahren zuvor auf den Friedhöfen Fluntern, Kilchberg, Oberer Friesenberg und Sihlfeld. Wir wären noch spontaner gewesen, hätten wir gewusst, dass das Aufnahme­gerät infolge unsachgemässen Hantierens insgesamt nur 6:04 Minuten von mindestens 90 aufgezeichnet hat. Als ich das später auf dem Display sah, wollte ich mich zuerst ertränken wie einst Aglaja Veteranyi. Aber dann habe ich doch nur etwas getrunken und mich des legendären «Zeit»-Autors Ben Witter entsonnen, der bei seinen «Spazier­gängen mit Prominenten» ausschliesslich Ohr war und nie etwas aufgezeichnet oder notiert hat. Er ging nach Hause und schrieb alles Besprochene auf.

Ich ging nach Hause, trank etwas und schrieb alles Besprochene auf. Ich schrieb auf, was ich dem Sinn nach erinnerte, so dicht wie möglich den Peter-Stamm-Sound entlang. Peter Stamm spricht so schmucklos, wie er schreibt, und er ist niemals undeutlich. Ich schickte ihm das Aufgeschriebene, mit der Bitte, sich die von mir verpeter­stammisierten Aussagen vollständig rück­einzuverleiben. Das tat er, weil er den Nicht­kapriziösen nicht nur spielt.

Hauptsache für die Mitwelt, bitte schön: Hier ist der authentische Text.

Höllentor und Mayaengel

Dienstag vor Weihnachten. Wir befinden uns auf dem Weg von der Bushalte­stelle Thujastrasse zum Friedhof Manegg, das Portal ist bereits in Sicht.

Peter Stamm: Ein Höllentor. Manche Friedhöfe öffnen sich schon wie die Höllen­pforte. Da weiss man, dass man alle Hoffnung fahren lassen kann.

Andreas Nentwich: Ja, das Tor hat etwas Jugendstil­böses mit den zwei toten Baum­stämmen dahinter. Es passt ja auch zu denen, die wir besuchen. Glauser war ein armer Tropf, Veteranyi hat sich ertränkt, Walter Diggelmann ist mit 52 an Krebs gestorben. Der Friedhof der Verzweifelten. Manegg tönt auch ein bisschen wie «Wahn».

Stamm: Und dazu haben wir noch einen klassischen Friedhofstag mit Nebel erwischt. Wahrlich eine traurige Angelegenheit.

Nentwich: Ich frage mich immer, ob ich auf einem Friedhof joggen darf oder ob es die Toten stört.

Stamm: Nö.

Nentwich: Ja, aber ich traue mich trotzdem nicht. Ein Bekannter von mir hat sich mal furchtbar über pietätlose Jogger auf Fried­höfen aufgeregt, obwohl er gar nicht religiös, sondern eine Art Kommunist ist. Dabei finde ich es schön, mit den Toten zu leben, und würde zum Beispiel auf einer Jogging­runde bei meiner Mutter vorbeischauen.

Stamm: Bei mir war es die Frage, ob ich auf Friedhöfen rauchen darf. Aber ich habe mit mir Frieden gemacht und rauche jetzt. Auf Beerdigungen rauche ich natürlich nicht.

Nentwich: Zumal es ja immer mehr Urnengräber gibt. Die Asche eilt den Rauchern voraus.

Stamm: Na ja.

Wir treten ein. Links befindet sich eine Glasvitrine mit Wegplan. Peter stellt fest, dass darauf nur Neu­zugänge verzeichnet sind, keine Prominentengräber.

Stamm: Da gibt es einen Bereich mit Themen-Mietgräbern. Was ist überhaupt ein Mietgrab? Selbst im Tod noch zur Miete sein ist ja irgendwie traurig. Aber wir brauchen einen Plan. Das Büro müsste offen sein. Wollen wir da mal fragen?

Wir steuern das Verwaltungs­gebäude neben der Kapelle an, während Peter sich eine Zigarette anzündet.

Stamm: Ich freue mich auf den Besuch bei Friedrich Glauser. Wir fragen dort nach den Prominenten­gräbern. Nein, wir fragen nach Friedrich Glauser, das wirkt gleich kenntnis­reicher. Prominente ist ein furchtbares Wort.

Nentwich: Soll ich reingehen? Nein, ich warte, bis du zu Ende geraucht hast. Die Kapelle ist etwas martialisch, nicht gerade NS-Stil, aber doch dieser Brutal­klassizismus der 1930er.

Stamm: Aber der Engel davor ist es gar nicht. Er hat ein ungewöhnliches Profil. Er hat indianische Züge. Ein Mayaengel.

Nentwich: Ich dachte zuerst, er sieht asiatisch aus. Das Gewand ist auch schön, es wirkt ganz weich, mit einem Faltenwurf, der gar nicht genug von sich haben kann. Niemals endende Falten. Doch, ich einige mich mit dir auf Mayaengel.

Dann gehen wir hinein. Peter fragt nach dem Grab von Glauser, die Dame hinter dem Tresen sagt etwas von «gleich hinter der grossen Tanne». Als er Veteranyi nachlegt, greift sie hinter sich und zieht ein Plänchen hervor. Peter sagt, dass es ja etwas albern sei, wenn Leute immer nur nach den Prominenten fragen, aber die Dame bescheidet uns streng, es sei nun mal so, dass man die sehen wolle.

Stamm: Das wäre doch ein Job für dich, Auskunft geben, so, hier in der Friedhofs­verwaltung. Da kommt vermutlich nicht oft jemand. Du könntest lesen und schreiben. Und es ist gut geheizt.

Nentwich: Absolut!

Peter geht zielstrebig mit dem Plan in der Hand voran, auf der Suche nach der Tanne, sagt etwas in der Art, dass die Leute heute eben einfach Tanne nennten, was gar keine Tanne sei. Dass Koniferen vielleicht ein zu schwieriges Wort sei.

Stamm: Nach dem Plan müsste das Grab ungefähr hier sein, aber ich habe das Gefühl, wir sind schon zu weit. Der Plan sagt etwas anderes als die Wirklichkeit.

Nentwich: Hier ist es! Viel kleiner als auf dem Foto. Das ist auch immer so. Entweder ist etwas grösser, oder es ist kleiner, meistens kleiner.

Stamm: Was für eine traurige Erkenntnis. Aber wahr. Da hat tatsächlich jemand Rosen hingestellt. Wir hätten auch welche mitbringen können. Oder wenigstens einen Stein wie auf den jüdischen Friedhöfen. Aber jetzt da einen Stein vom Kiesweg holen, das ist zu billig.

Schweres Gemüt und leichtes Gepäck

Nentwich: Du bewunderst Glauser?

Stamm: Na, bewundern. Ich mag ihn. Bewundern ist für mich so keine Kategorie. Ich bewundere eigentlich niemanden, mögen, ja, viele. Ich möchte ja auch nicht bewundert werden. Bewundern hat auch etwas Über­hebliches. Bewunderst du gern?

Nentwich: Früher war ich ein grosser Bewunderer und Verehrer. Da war mir das sogenannte Geistige oder Genie sehr wichtig. Ich denke im Augenblick viel an ein sehr altes Paar, mit dem ich befreundet bin. Er war Lehrer, hat nach der Pensionierung zehn Jahre in der Kinder­onkologie Babys im Arm gehalten und Kinder getröstet, bis er nicht mehr die Kraft hatte, sie im Arm zu halten. Beide haben ganz geräuschlos eine syrische Familie betreut, bis sie auch das nicht mehr geschafft haben. Nun fängt sie an, vergesslich zu werden, er ist depressiv und versucht, soweit seine Tagesform es ihm erlaubt, einen Schutzwall der Nachbarschafts­hilfe um sie herum aufzubauen. Kinder hat nur sie, und die kommen nicht. Eigentlich sollten sie zusammen sterben können wie Philemon und Baucis. Bei Menschen wie ihnen, guten Menschen, die mit ihrem Gutsein nichts kompensieren müssen, wäre für mich das Wort Bewunderung fällig, aber ich glaube, ohne meine Zuneigung wäre auch die nur eine Pflichtübung. Es ist einfach die Freude, dass es auch solche Menschen, sozusagen ganze Menschen, auf der Welt gibt und dass ich sie kenne. Irgendwann gehen einem immer mehr von denen auf die Totenseite.

Stamm: Eben, nicht bewundern, mögen. Ich sage einfach, ich mag jemanden. Ich hatte ein paar Probleme in den letzten zwei Jahren, da habe ich erst gemerkt, wie viele freundliche Menschen es gibt, wie viele gute Freunde ich habe. Ich habe das vorher vielleicht zu wenig geschätzt. Oder bin einfach davon ausgegangen, dass das normal ist. Jetzt freue ich mich über jedes freundliche Wort am Bahnhofs­kiosk oder sonstwo.

Nentwich: Man klagt immer über die banausische Mitwelt, aber aus der Nähe ist es oft schwierig, eine Kunst­grösse angenehm zu finden. Der Glauser war so ein schmächtiges Männchen, und nach allem, was ich über ihn gelesen habe, wäre er mir vielleicht sogar eine Spur zu angenehm gewesen. Möglicherweise schmeichlerisch und etwas verlogen, wie alle Leute, die eine Sucht überspielen wollen, von der sie bis zur Raserei beherrscht werden und für die sie sich gleichzeitig schämen.

Stamm: Ich mag ihn. Aber ich weiss schon, was du meinst. Als ich in psychiatrischen Kliniken arbeitete, hatten wir viele Drogen­süchtige als Patienten. Die waren meist nett, aber man durfte ihnen kein Wort glauben. Und meistens waren sie, ehrlich gesagt, ziemliche Langweiler. Die nichts mit ihrem Leben anzufangen wussten ausser Drogen zu nehmen. Immerhin habe ich von einer jungen Frau gelernt, eine Prise Salz in den Filter­kaffee zu tun. Das verstärkt den Geschmack.

Nentwich: Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Glausers Helvetismen und lustvolle Umständlichkeiten viel mit deiner Prosa zu tun haben. Mir scheint, er war ein Heimatloser, der sich tief einbürgern wollte ins Schweizerische. Du bist verortet und spazierst heimat­unverbunden, mit leichtem Gepäck hinaus in ungefähre psychische Landschaften. Auch da, wo die Schweiz sehr präsent ist wie in deinem Roman «Weit über das Land», ist es eine Agglo-Schweiz oder ein metaphysisches Weinfelden, also sui generis eine Playmobil-Welt. Das war jetzt gut von mir gesagt.

Stamm: Gut? Na ja. Latein ist natürlich immer sehr beeindruckend. Ich hatte mal ein Büchlein mit lateinischen Rede­wendungen. Ich habe sie dann aber immer nur ironisch verwendet, ganz viele aufs Mal. Aber die Agglo-Schweiz ist doch da, wo die meisten Menschen wohnen, die ist schon sehr real. Ich mag profane Orte.

Nentwich: Du schweifst ab. Glauser ist jedenfalls kein literarisches Vorbild für dich?

Stamm: Vorbild im Schreiben ist Glauser für mich gar nicht. Man sollte im Schreiben ohnehin keine Vorbilder haben. Aber immerhin hat er sich von Simenon inspirieren lassen, und der ist auch für mich wichtig. Ich finde Glauser jedenfalls gar nicht schwülstig und schwerfällig, falls du das gemeint hast.

Nentwich: Überhaupt nicht. Aber du suchst unter den möglichen Wörtern immer das am wenigsten gesucht wirkende aus. Du nimmst so viel weg, dass man den Bilder­strom selbst produziert. Glauser will zumindest ein Stück weit aktiv Atmosphäre schaffen, auch durch Helvetismen. Ich sehe beim Lesen immer einen kräftigen Mann vor mir, der er nicht war.

Wie alles anfing

Stamm: Übrigens ein schöner Friedhof, mit den grossen Bäumen. Gar nicht wie die Friedhöfe, auf denen wir sonst waren. Er scheint fast leer und dadurch viel gross­zügiger. Dabei ist er eher klein.

Nentwich: Ja, und er wirkt nicht nur wie ein Park, sondern fast wie eine Landschaft mit Hügeln und Tälern im Miniatur­format, obwohl er von Verkehrs­wegen umzingelt sein muss. Ich glaube fast, dass er mir von allen, die wir bis jetzt gesehen haben, der liebste ist. Hat dich eigentlich dein neuer Roman zu unseren Friedhofs­spaziergängen inspiriert? Ich frage das nur, weil ich zu schamhaft und bescheiden bin, das Gegenteil zu fragen. Die Handlung von «Die sanfte Gleich­gültigkeit der Welt» beginnt ja nach einem kurzen Vorspann mit einem Friedhofs­spaziergang in Stockholm.

Stamm: Nein, sicher nicht. Den Roman habe ich erst 2016 angefangen, als gerade der vorletzte erschienen war. Tatsächlich hat ein Spazier­gang auf diesem Friedhof in Stockholm, der ja sogar Weltkultur­erbe ist, die Initial­zündung gegeben. Skogskyrkogården.

An einem Kreuzweg, der die ungefähre Mitte dieser Friedhofs­landschaft bilden könnte, schnurrt eine rot-weisse Katze. Sie streicht um Peters Beine. Peter bückt sich und streichelt die Friedhofs­katze. Dann schaut er wieder auf den Plan.

Stamm: Wir müssen jetzt Veteranyi suchen und Diggelmann. Veteranyi muss irgendwo da oben sein, in diesem waldigen Abschnitt.

Nentwich: Weisst du noch, wann wir zum ersten Mal über einen Friedhof gegangen sind?

Stamm: Ich habe die Korrespondenz noch. Wir haben im Februar 2015 mit Fluntern angefangen. Mit Joyce.

Nentwich: Und Canetti.

Stamm: Eigentlich hat es noch früher angefangen. Unseren ersten Spaziergang haben wir bei dir in der Gegend gemacht, und da habe ich ein Klo gesucht, als wir genau bei diesem Friedhof waren. Das haben wir richtig auf dem Friedhof vermutet, und so fing es an.

Nentwich: Dann haben wir uns seither im Niveau gewaltig gesteigert. Jedenfalls in dem unserer Besuchsanlässe.

Stamm: So ist es. Obwohl man den Metabolismus auch nicht unterschätzen sollte. Da fällt mir ein Gedicht von E. E. Cummings ein. Aber eigentlich passt das gar nicht, merke ich grad. Schön ist es trotzdem.

Nentwich: In Kilchberg waren wir bei Thomas Mann. Golo liegt abseits. Das ungeliebte Kind hat sich über den Tod hinaus für den Halb­gehorsam entschieden. Dabei war Golo ein grossartiger Autor, mir lieber als sein Vater. Ich habe eine Abneigung gegen Schriftsteller, die ihre Figuren denunzieren und durch stereotype Ironien von vornherein zur Lächerlichkeit stempeln.

Stamm: Das ist eine Seite von Thomas Mann, die mich nie interessiert hat. Wichtig ist, dass man als Autor den Respekt behält. Dass man Sympathie für seine Personen hat und sie nicht preisgibt. Ironie ist halt eine etwas billige Haltung. Der Ironiker steht immer über allem, geht nie ein Risiko ein.

Nentwich: Aber grausam muss man auch sein. Man muss ertragen, dass die Personen ein gerechtes oder ein ungerechtes Schicksal trifft.

Stamm: Ja, das muss man. Es ist in der Literatur halt wie im Leben. Da geschieht allerhand. Aber wenn man seinen Figuren schon Dinge zustossen lässt, sollte man sie wenigstens mit Sympathie und Mitgefühl behandeln.

Peter bleibt vor einem Grabstein stehen, auf dem der Kinder­spruch angebracht ist: «Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.»

Stamm: Das ist das Grab von einem Erwachsenen. Diesen Spruch will ich nicht auf meinem Grabstein haben. Und auch nicht solche Kitsch­engelchen wie auf immer mehr Gräbern. Ich habe mal neben einem Friedhof in Frankreich bei einem Grabstein­händler ein Schild gesehen: «Frühlings­aktion». Würde jemand sterben wollen, nur weil die Grabsteine im Angebot sind? Ich kaufe ja auch gern Aktionen, Lachs zum Beispiel sollte man nie zum regulären Preis kaufen. Aber Grabsteine? Die gehen ja sowieso nur den Nach­kommen vom Erbe ab. «Ich bin klein, mein Herz ist rein!»

Wie gross ist Peter Stamm?

Nentwich: Du bist ja auch gross. Mindestens 1 Meter 78.

Stamm: 1 Meter 85. Ich will auf meinem Grabstein stehen haben: «Er war mittelgross.»

Nentwich: Das soll von dir auf die Nachwelt kommen.

Stamm: Hm. Ich fand es nur immer seltsam, dass man bei Geburts­anzeigen Grösse und Gewicht angibt, aber bei Todes­anzeigen nicht. Dabei sind da die Variationen viel grösser. Babys sind ja alle mehr oder weniger gleich gross und schwer.

Nentwich: Ich will nicht nostalgisch der Normierung durch Konvention und religiöse Bräuche das Wort reden, aber die Individualisierung der Trauer hat zu einer Infantilisierung geführt. Immer mehr Gräber sehen aus wie Kindergräber.

Stamm: Bei Kinder­gräbern verstehe ich das. Aber die Leute sind eben hilflos gegenüber dem Tod, wenn die Vorgaben wegfallen. Und Ästhetik braucht noch einmal Erfahrung und Schulung. Es soll Leute geben, die guten von schlechtem Fussball unterscheiden können, andere kennen sich mit Eisen­bahnen aus oder mit Auto­modellen. Da bin ich völlig hilflos. Wir sind halt Ästheten und kennen uns ein bisschen mit Schönheit aus.

Nentwich: Ich hoffe, dass ich im Alter, also in sehr wenigen Jahren, endlich die Reife und die Klugheit erlange, falsche Kunst, Sprache und Architektur nicht mehr mit Lüge gleichzusetzen. Ob das Leben im Falschen wahr ist oder nicht, lässt sich anhand von Kitsch­engelchen nicht beurteilen.

Stamm: Sehr wahr. Ich habe mal in einer Poetik­vorlesung über Diddlmäuse geschrieben. Dass, wenn ein Kind oder sogar ein Erwachsener eine Diddlmaus liebt, dieses Gefühl nicht falsch sein muss, nur weil die Diddlmaus ganz schrecklich ist. Eigentlich etwas vom Schrecklichsten, was der menschliche Geist erdacht hat. Und sie hat sogar eine Website. Aber das haben heute ja fast alle.

Nentwich: Gehst du denn in den Städten, in die dich deine Lese­reisen führen, auch auf Friedhöfe?

Stamm: In einigen grossen Städten schon. Aber meistens habe ich ja keine Zeit dazu und sehe nicht viel mehr als die Buch­handlung, ein Lokal und das Hotel. Aber ich gehe. Ich gehe. Überall, wo ich bin.

Nentwich: Neben diesem hier hat mir der Israelitische Friedhof Oberer Friesenberg am besten gefallen, wo wir Mascha Kaléko besucht haben. Mein Lieblings­toter dort war David Zauderer, erinnerst du dich? Ich stelle mir unter ihm einen armen Handels­vertreter vor, der nie auf einen grünen Zweig kommt, weil er so schüchtern und ängstlich ist …

Stamm: Ein Name, den man im Roman nie verwenden würde. Er ist zu vordergründig. Ich war kürzlich auf einem Friedhof, da hing direkt hinter der niedrigen Friedhofs­mauer eine Wäscheleine, an der Unter­wäsche zum Trocknen hing. Da ist wieder das Profane. Und dort stand auf einem Grabstein, meinem Lieblings­grabstein: «Still gingst du. Gut warst du.» Das würde vielleicht zu deinem Herrn Zauderer passen.

Nentwich: Also, einmal im Leben überwindet mein Herr Zauderer alle Furcht und rettet einen anderen Menschen, indem er einem Goliath eins auf die Nase haut. Eine Tat, die ihn sofort zu den grössten Helden aufschliessen lässt.

Stamm: Schau mal hier, das Kreuz. Da liegen eine Vierzehn­jährige und noch eine Zweijährige. Kein Erwachsener, obwohl es nicht wie ein Kindergrab ausschaut. Die Namen kommen mir ungarisch vor. Seltsam, nicht?

Nentwich: Ja, seltsam. Da weht uns ein Schicksal an.

Stamm: Habe ich dir mal von dem Workshop erzählt, den ich für eine Gruppe von Pfarrern gegeben habe? Ich habe ihnen Grabsteine gezeigt und sie dann Geschichten über die Toten schreiben lassen. Plötzlich merkt man, dass ein Grab sehr viel erzählt, natürlich der Stein, der Schmuck, die gewählten Symbole, dann die Namen, die Lebens­daten. Und manchmal auch, wer da mit wem zusammenliegt. Nimm zum Beispiel mal an: ein Paar, das alt geworden ist, und dann ein Sohn, der nicht so alt geworden ist, vielleicht 53. Man denkt: 53 und noch bei den Eltern! Was für ein Schicksal!

Wir passieren einen Henry-Moore-haft gerundeten Grabstein aus den 1950er-Jahren. Ich sage: «Schön.» Peter sagt: «Nein, wieso?» Ich sage: «Es ist Fünfziger­jahre-Kunst.» Dann zeigt Peter auf die Skulptur einer Ballett­tänzerin und sagt: «Äpfelchen.» Die Tänzerin mit kleinen Brüsten und bemoostem Haupt finden wir beide schön. Bei einer zeitlos katalog­schönen Knienden aus Goldbronze vergessen wir kurz, dass wir über Geschmäcker nicht richten wollten, und stellen fest, dass es nichts Bestürzenderes gibt als nicht-ganz-lebensgross. Endlich entdeckt einer von uns den Grabstein von Aglaja Veteranyi, eine schöne Stele.

Stamm: Ich kannte sie nicht gut. Ich glaube, ich bin ihr ein bisschen aus dem Weg gegangen. Sie war nett, aber mir zu überschwänglich.

Nentwich: Sie ist ja in dieser polyglotten und gleichzeitig weltlosen Zirkuswelt aufgewachsen und soll fast Analphabetin gewesen sein. Sie hat sich die deutsche Sprache erobert, glaube ich, als Rumänin, und dann noch das Schreiben überhaupt. Dieses Erobern erklärt das Reflektierte, aber auch Mutwillige ihres Kinder­tons und die unbekümmerte Artistik ihrer Sprach­bilder. Das irre Glück einer Eroberung. Ich kann mir vorstellen, dass so ein Ton, wenn er in die Jahre kommt oder wenn er nicht mehr durch die Wucht eines eigenen Traumas aufgeladen ist, zur tragischen Groteske wird. Wie ein Auf-jung-geschminkt-Sein. Aglaja Veteranyi hat noch Geschichten um Daniil Charms geschrieben, die fast besser sind als Charms selber. Nein, Scherz. Sicher ist: Da haben zwei sich gefunden.

Stamm: Ich bin nicht so ein Charms-Freund. Ich mag auch das Groteske nicht besonders. Vielleicht ist es dieses sprunghaft Exaltierte bei ihr, das ich für mich eher schwierig fand. Aber das ist natürlich kein Qualitäts­urteil. Nur Geschmacks­sache. Ich kenne tatsächlich viel zu wenig von ihr. Ich mache mir manchmal Urteile über Autorinnen und Autoren aufgrund von ganz wenig Text­material. Und dann schäme ich mich dafür. Immerhin habe ich kein Problem damit, wenn jemand meine Bücher nicht mag, aber so zehn oder zwanzig Seiten sollte man schon mindestens lesen, bevor man sich ein Urteil macht. Ich wollte nie irgend­jemanden von meinen Büchern überzeugen. Das wäre ja absurd. Wie jemandem, der keinen Rosen­kohl mag, zu erklären, warum er das tollste Gemüse ist. Wenn er ihn nicht mag, mag er ihn nicht. Ich mag dafür keine Kohlrabi. Jedenfalls nicht gekochte.

Wir verlassen das Grab und beschliessen, den Besuch bei Walter Matthias Diggel­mann auszulassen, mit dem wir beide nur flüchtig bekannt sind.

Nentwich: In diesen Charms-Texten von Veteranyi steht ein angebliches Zitat, dazu der Vermerk, dass es erst 120 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden darf, was du wahrscheinlich nur müde witzig findest. Ist es auch. Es heisst: «Bitte missverstehen Sie mich richtig.» Deine «sanfte Gleich­gültigkeit» habe ich erst beim zweiten Lesen richtig nicht verstanden.

Stamm: Haha.

Nentwich: Mir kommt es vor, dass die Figuren in ihr durcheinander durchgehen wie Geister. Immer können sie gleich der oder die andere sein.

Stamm: Ich weiss nicht, welche Deutung zutrifft, es gibt mehrere, das ist auch nicht wichtig.

Nentwich: Aber auf jeden Fall geht es in dem Buch doch um die Frage, ob man sein Leben korrigieren oder bestimmte Entscheidungen anders treffen würde oder die gleichen Fehler noch einmal macht. Wenn ich jemanden kennenlernen würde, der genau ist wie ich vor zwanzig oder dreissig Jahren, wäre er mir unsympathisch. Weil ich da rückblickend mit vielem nicht einverstanden bin und natürlich meine Finten von damals kenne.

Stamm: Darüber habe ich mir tatsächlich auch Gedanken gemacht. Und festgestellt, dass es mir auch so geht. Vermutlich habe ich mich nicht einmal damals wirklich gemocht. Jedenfalls nur zeitweise. Vielleicht ist das die Kunst des Lebens? Sich mögen lernen. Oder so zu werden, dass man sich mögen kann.

Abschweifungen von Andreas und anderes

Nentwich: Viele Autoren halten ihr letztes Buch für das beste. Ist das bei dir auch so?

Stamm: Nein, eigentlich nicht. Mir sind alle lieb. Ich stelle aber fest, dass mir «An einem Tag wie diesem» immer noch nah ist. Den Roman habe ich vor über zehn Jahren geschrieben.

Nentwich: Das verstehe ich. Nicht nur, weil der Held Andreas heisst. Dieser Andreas ist von einer aufwandslosen Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber, die jede mögliche Lebens­lüge im Keim erstickt. Nur scheinbar spricht dagegen, dass er sich der drohenden Krebs­diagnose nicht stellt. Er macht sich keine Illusionen. Der Preis dafür ist eine gewisse Unverbundenheit mit allen, sogar mit sich selbst. Ich finde, du hast da aus einer Empfindungs­ebene, die in vielen in uns steckt, ich kenne sie jedenfalls, einen Typus geformt, wirklich eine neue Gestalt in der Literatur. Und es ist schön geschrieben, elegant, vorwärts­drängend, eine Treibjagd der Sätze.

Stamm: Was soll ich da noch sagen? Vielen Dank.

Nentwich: «Gärrn gschäh», wie meine Stuttgarter Nachbarin Frau Harsch immer gesagt hat.

Stamm: Ja, es wird so viel gelogen bei Gefühlen. Oder noch nicht mal gelogen. Es gibt einfach viel falsches Gefühl. Wenn ich die amerikanische National­hymne höre, läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken. Bei der russischen auch. Das hat nichts mit meinen Gefühlen für diese Länder zu tun, nur mit der Wirkung der Musik. Das Leben ist viel zu kompliziert für einfache Gefühle. Es ist ein bisschen wie im Physik­unterricht in der Schule. Da berechnet man irgendwelche Dinge, alles geht auf, aber dann sagt der Lehrer, in der Wirklichkeit ist natürlich alles viel komplizierter. Da gibt es immer noch Reibung oder Luft­widerstand oder was weiss ich. Die Coriolis­kraft vielleicht? Die hat einen so schönen Namen.

Nentwich: Du, das muss ich noch loswerden: Rauchen auf dem Friedhof! Bei der Beerdigung seines Vaters schnippt Andreas – dein Buch­protagonist – beinah seine Zigaretten­kippe ins Weihwasser­becken, dann versteckt er sie in den gefalteten Händen und lässt sie schliesslich unauffällig zu Boden gleiten.

Stamm: Das würde ich natürlich nie tun. Fast nie. Weihwasser­becken sehen tatsächlich oft aus wie Aschen­becher. Und stehen auch an der Tür, nur drinnen statt draussen. Es gibt Orte, wo das Rauchen verboten ist und doch überall Aschen­becher rumstehen. Was soll man da tun? Kippen mitbringen?

Nentwich: Ja. – Ich nehme an, du bist ein grosser Kürzer vor dem Herrn? Bis die letzten malerischen Adjektive herausgekehrt sind?

Stamm: Nein, ich schreibe sehr konzentriert und arbeite mich langsam vor. Ich überarbeite meine Texte zwar oft, aber ändere meist nicht viel. Nur Kleinigkeiten.

Nentwich: Jean-Paul-artig oder auf eine noch so grandiose Weise formlos jedenfalls wirst du niemals werden.

Stamm: Aber ich muss sagen, dass es grossartige Abschweifer gibt, Musil zum Beispiel. Oder Laurence Sterne. Vielleicht auch Nabokov? Obwohl ich den eigentlich nicht mögen will. Aber im Allgemeinen glaube ich tatsächlich, dass Texte nicht verlieren, wenn man sie kürzt. Um ein Viertel kürzen geht fast immer, auch um ein Drittel. Wenn man ihn halbieren will, muss man meistens schon strukturelle Eingriffe machen. Ich mache das übrigens sehr gern, dass ich in Workshops jemandem den Text auf die Hälfte kürze und er oder sie dann merkt, dass eigentlich nichts fehlt.

Nentwich: Ja, das finde ich auch. Genau die Sätze, an denen man selbst sehr hängt, die aber den Fluss stören oder einen fremden Gedanken reinzwingen, sind die ersten, über die man sich später ärgert, weil sie eitel herausknallen.

Stamm: Schau mal, so einen geschmiedeten Blechvogel würde ich nicht auf meinem Grab haben wollen. Aber da oben die vielkantige Stele, die ist sehr schön. Die würde ich nehmen. Wie heissen diese Steine, die dicht neben­einander hochwachsen?

Nentwich: Das ist Basalt. Den gibt es in der Gegend von Hessen, aus der ich stamme, aber er soll auch den Grund der Ozeane bilden. Wird mein Stein.

Stamm: Ein globaler Heimatstein. In Irland gibt es die auch, giant’s irgendwas, heisst es da, glaube ich, pathway vielleicht. Würdest du eigentlich lieber neben einem Friedhof wohnen oder neben einem Zoo?

Nentwich: Ich bin eigentlich nicht sehr zooaffin und würde die Friedhofs­nachbarschaft vorziehen, wie ich es überhaupt schön finde, wenn die Lebenden und ihre Toten nah beisammen sind. Das ist mir lieber, als mich schlotternd ans dünne Fädchen irgendeiner Jenseits­hoffnung zu krallen. Du?

Stamm: Na ja, Zoos sind halt schon Tier­gefängnisse, das kann man nicht bestreiten. In Karlsruhe habe ich oft in einem Hotel direkt neben dem Zoo gewohnt. Und dann nachts die Schreie exotischer Vögel gehört, das fand ich schon immer sehr schön. Aber vermutlich wäre ein Friedhof tatsächlich angenehmer. Schon wegen der Gerüche. Trinken wir noch einen Kaffee irgendwo? Kennst du das SBB-Personal­restaurant im Bahnhof?

Nentwich: Du wirst lachen, das kenne ich. Günstig, tolle Aussicht. Sie machen es extra nicht publik.

Stamm: Wir machen es auch nicht publik.

Nentwich: Weil du von den Abschweifern geredet hast. Was ich sehr übel nehme, sind Abschweifungen, in denen mich die Autoren plötzlich auf ihre eigene Kleinheit stossen lassen.

Stamm: Schriftsteller sind immer ein bisschen Hochstapler und glauben, alle Welt müsse sich unbedingt für das interessieren, was sie für wichtig halten.

Nentwich: Ja, da haben sie eine privilegierte Position. Umso mehr nehme ich es einem Autor übel, wenn er das Privileg missbraucht, um seine intellektuellen oder emotionalen Grenzen in der Fiktion auszustellen. Ich lese nicht einen Roman, um mich mit Zufalls­wissen, privaten Gekränktheiten oder ideologischen Ausrastern herumzuschlagen.

Stamm: Es ist immer ein Fehler, wenn ein Autor die Erzähl­ebene verlässt. Bei den ganz starken Büchern, bei Hemingway zum Beispiel, der ein ziemliches Grossmaul gewesen sein muss, zeigen die Figuren alle menschlichen Möglichkeiten, weit über das hinaus, was der Autor persönlich denkt oder tut. Er ist in ihnen toleranter und auch klüger, als er es privat sein mag. Vielleicht war Glauser ja auch so ein Fall. Vielleicht ist es besser, seinen Figuren zu begegnen, als ihm selbst.

Wir passieren das grosse Tor. Peter kratzt sich mit einem Zigaretten­stummel die Friedhofs­erde aus den Schuhsohlen. Beim nächsten Mal besuchen wir die Toten von Winterthur. Oder die Toten von Riehen oder Herisau. Oder spontan ganz einen anderen Friedhof. Wenn Sie demnächst zwischen Gräbern unterwegs sind und einen Langen sehen, der die Schultern hochgezogen hat, dabei den Kopf etwas neigt und vielleicht eine Zigarette raucht, und einen Kleineren, der eine Kappe trägt, dann sind es wir zwei.

Zu Peter Stamm

Der Schriftsteller ist 1963 geboren und in Weinfelden TG aufgewachsen. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes», für seinen bislang letzten Roman, «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», erhielt Peter Stamm 2018 den Schweizer Buchpreis.

Zum Autor

Andreas Nentwich ist freier Publizist und lebt in Zürich. 2012 erschien von ihm im Deutschen Kunstverlag «Alfred Polgar. Leben in Bildern». Zurzeit arbeitet er an einem Buch über moderne Sakral­architektur in der Schweiz, das im Herbst 2019 erscheinen soll. Für die Republik hat Nentwich zuletzt den Text «Und blöde starr ich so hin» geschrieben.

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