Fotobuch

Der Mond über Shenzhen

Christopher Anderson: «Approximate Joy»

Grossstadtmenschen. In Porträts von ihnen spiegelt sich die chinesische Megalopole Shenzhen, ohne dass die Stadt selbst ins Bild gerät. Zu sehen ist dafür ihr vieldeutiger Reflex.

Von Barbara Villiger Heilig, 25.01.2019

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In der Pariser Banlieue traf ich einen Chinesen, der dort sein Lebensmittel­geschäft mit Bar betreibt. Er war um die Jahrtausend­wende nach Frank­reich gekommen. Irgend­wann würde er gern, sagte er, zurück «nach Hause», nur wisse er nicht, wo das sei: Als er seinen Herkunfts­ort verliess, war der noch ein Dorf, heute sei daraus – das Handyfoto zeigte die eindrucks­volle Skyline – eine Gross­stadt geworden. Eine Stadt ohne Vergangen­heit, so schnell ist sie explodiert. China entwickelt sich.

Die Vergangen­heit gibt es nicht, und aus der Zukunft wird Gegen­wart: Das beweist exem­plarisch Shenzhen, der Stadtkoloss im Südosten der Volks­republik. Mitte des letzten Jahrhunderts noch ein Fischer­dorf mit geschätzten 3000 Einwohnern, gilt die 13-Millionen-Boomtown heute als eine der am schnellsten wachsenden Städte in der Menschheits­geschichte. Gebaut und bevölkert ist Shenzhen zum grossen Teil von zugezogenen Migranten. Das Pro-Kopf-Ein­kommen toppt dasjenige aller anderen chinesischen Städte (mit Ausnahme von Hongkong und Macau).

Shenzhen habe ihn, wie andere globalisierte Gross­städte auch, an einen Duty-Free-Shop erinnert, sagt der amerikanische Fotograf Christopher Anderson. In «Approximate Joy» fängt er den Reflex dieser Stadt durch Porträts von Menschen ein. Die Gesichter, ihres Kontexts beraubt, haben etwas befremdlich Abstraktes: Obwohl die Kamera so nahe rangeht, dass wir sogar die Poren der Porträtierten sehen, wirken sie zugleich archaisch und futuristisch, wie Masken oder wie künstliche Avatare echter Personen.

Jung sind die porträtierten Menschen. Matte Haut, schwarzes Haar (und Pelz in Form eines Jacken­kragens oder sonstigen Accessoires): Knapper kann Sinnlichkeit kaum sein. Anderson taucht sie in blaugrünen Schimmer, als wären Handyscreens die einzige verfügbare Lichtquelle. Oder der Mond – in einem der wenigen Natur­bilder erscheint er als filigrane Sichel. Ist sie echt?

Komplementäre Farbtöne für die Lippen. Hier leuchtend rot nach­gezogen, da blassrosa und unge­schminkt, brechen sie wie fleischige Blüten auf – oder wie Wunden. Was man diesen Gesichtern nicht absprechen kann: Verletzlich­keit.

Zum Fotografen

Christopher Anderson, 1970 in Kanada geboren, ist ein Mitglied der Agentur Magnum Photos. Bekannt wurde er 2000 dank seiner Bilder von einem haitianischen Flüchtlingsboot, mit dem er selbst unterwegs war. Er wurde unter anderem mit der Robert-Capa-Goldmedaille, zwei World Press Photo Awards und dem Titel «Magazine Photographer of the Year» ausgezeichnet.

Zum Buch

Christopher Anderson: «Approximate Joy» (Limited Edition of 1000), 2018, Stanley/Barker, Hardcover.

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