Hunde sind dem Menschen treu, ein Leben lang. Elliott Erwitt/Magnum Photos/Keystone

Mensch und Hund

Wir sind die einzigen Lebewesen, die Haustiere halten und mit ihnen in einer Symbiose leben. Vor allem mit Hunden. Warum lieben wir sie so sehr? Sind sie etwa mehr als Tiere?

Von Dirk Gieselmann, 22.01.2019

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Jette, die Labradorhündin meiner Eltern, ist 77 oder 11 Jahre alt geworden, je nachdem, wie man es zählt: in Hunde- oder Menschen­jahren. Und was war sie für meine Eltern denn eigentlich: noch ein Hund oder schon ein Mensch?

Wie lang Jette selbst das Leben vorkam, weiss niemand. Und auch nicht, ob sie einen Sinn darin sah. Sie lebte bloss und starb dann, wie ein Tier, das sie ja war, zoologisch betrachtet. Doch wer einen Hund so liebt, wie meine Eltern es taten, kann das leichthin vergessen.

Jettes Leben war ein erfülltes, ein glückliches und zufriedenes, so viel lässt sich wohl sagen. Sie unternahm zweimal am Tag einen ausgiebigen Spazier­gang am Fluss, im Sommer ging sie baden. Der grosse Garten hinterm Haus war ihr Revier, ohne Konkurrenz und natürliche Feinde, ein Paradies. Hier und da vergrub sie Knochen, unter den Rhododendren und den Fichten, für schlechtere Zeiten, die aber nie anbrachen.

Sie döste gern im Schatten des Werkzeugschuppens auf den von der Sommer­sonne warmen Pflaster­steinen und hörte Radio. Vor allem Schlager der Fünfziger schienen ihrem Gemüt recht gut zu tun. Im Schlaf zuckten ihre Beine, dann träumte sie wohl vom Jagen. Ein Zeichen dafür, dass sie sich selbst noch immer für ein Raubtier hielt, eine Cousine des Wolfs. Zuweilen hob sie auch müde den Kopf, musterte vorbei­kommende Fahr­radfahrer und überlegte, ob es sich lohnte, sie anzubellen. Nur selten aber entschloss sie sich dazu. Sie war ein gezähmtes Tier, ein friedlicher Hund, ein treuer dazu, ein Familien­hund, ein halber Mensch. Nach der Art zu urteilen, wie meine Eltern mit ihr umgingen, beinah ein ganzer.

Ich sage das, ohne gekränkt zu sein: Jette, die Labrador­hündin, ist mein Nachfolger gewesen. Sie wurde die dritte Person im Haus, als ich fort­gezogen war und immer seltener zu Besuch kam, weil ich eine eigene Familie gegründet hatte. Sie war nun das Kind, um das meine Eltern sich kümmerten. Die Schutz­befohlene, deren Wohlbefinden sie das eigene unter­ordneten: Wenn es Jette gut ging, ging es ihnen auch gut.

Meine Eltern sind selbstlose Menschen. Mir haben sie immer mehr gegönnt als sich, und auch bei Jette war es so. Als sie noch ein Welpe war und ihre Mutter so vermisste, dass sie nächtelang heulte, kroch mein Vater zu ihr in die Hunde­hütte und schlief bei ihr.

Der kleine Sinn

Wenn man meine Eltern nun fragen würde, wie alt Jette geworden ist, wie alt sie war, als an einem Morgen im vergangenen Juni der Tierarzt kommen musste, um sie von ihrem Leid zu erlösen, der Hinfälligkeit, der Alters­schwäche, den Geschwüren am Bauch, dann würden sie wohl sagen: 77 Hunde­jahre, ein gesegnetes Alter. Sie hat ihr Leben gelebt. Und zugleich würden sie denken: Für uns waren es nur 11 kurze Menschen­jahre mit ihr. Viel zu wenig. Wie soll es ohne sie nur weitergehen?

Wer seinen Hund zu Grabe trägt, der trauert um ihn. Und muss sich von denen, die nie einen Hund besessen haben, oft dies anhören: Er war doch kein Mensch.

Das mag durchaus richtig sein. Es ändert aber nichts an der Trauer und ist erst recht kein Trost. Es führt nur dazu, dass die Hinter­bliebenen verschämt um den Hund trauern, den sie liebten, mit seltsam schlechtem Gewissen, obwohl sie doch nichts verbrochen haben. Dass sie sich rechtfertigen zu müssen glauben und sagen: Ich weiss ja, dass er kein Mensch war, aber.

Aber hätte Jette denn, wäre sie nichts gewesen als ein Tier, spüren können, wenn meine Eltern traurig waren und einsam, wenn sie Sorgen hatten und Angst? Hätte sie ihnen die Schnauze aufs Knie gelegt und sie angeschaut, als wollte sie sagen: Ihr habt doch mich? Hätte sie ihnen das Gefühl gegeben, alles hätte einen Sinn, einen kleinen wenigstens, und sei es der, mit ihr Seite an Seite durch den Wald zu laufen? Hätten sie Jette so sehr geliebt? Würden sie sie nun so sehr vermissen und zurücksehnen?

Sie trauern um sie, jeden Tag. Sie rufen noch immer ihren Namen, aus Gewohn­heit, doch sie kommt nicht mehr herbei. Die Leine hängt ungenutzt am Haken, der Napf ist leer. Jette war ein Hund von vielen und doch nur dieser eine. Sie haben sie bestattet in ihrer Decke. Ihr Grab befindet sich in einem kleinen Hain am Rande des Grund­stücks, ein Holz­kreuz steht darauf: Jette, 2007–2018.

Menschen sind die einzigen Lebewesen, die einander Namen geben, und die einzigen, die wissen, wie alt sie sind. Wer einen Namen trägt, wird zum Individuum. Und wer sein Alter kennt, begreift die Vergänglichkeit.

Schauen sie deshalb so melancholisch, weil sie den Tod kommen sehen? Hundegrab auf dem Tierfriedhof in Hamburg (1951). AKG/Keystone

Der Name und die Zeit: Sie sind der Grund dafür, dass Menschen, anders als Bären etwa, Wale und Schimpansen, nach einem Sinn im Leben suchen. Wer sind sie? Warum sind sie hier? Und warum nur so kurz?

Dass sie sich diese Fragen stellen, haben sie den Tieren voraus. Und die Tiere haben ihnen voraus, dass sie sich diese Fragen nicht stellen. Das ist kein Widerspruch, es markiert nur den Spalt, durch den die Sehnsucht dringt, dumm zu sein und ahnungslos. Wie ein Tier, das nicht an morgen denkt.

Das übersichtliche Herz

Vielleicht sind Menschen deshalb auch die einzigen Lebe­wesen, die sich Haustiere halten und in einer Symbiose mit ihnen leben, die allein dem Zweck dient, Gesellschaft zu haben. Tiere können ein Trost sein gegen die dräuende Sinnlosig­keit, stumme Gefährten auf dem Weg ins Nichts. Sie geben keine Antworten, stellen aber auch keine Fragen: Ihre drollige Naivität gemahnt uns an einen paradiesischen Urzustand. Ihnen zuzusehen beim Spiel, das nur sich selbst dient, wie sie eine schwebende Daune jagen bis ans Ende des Dorfes oder ihren eigenen Schwanz, sie schlafend neben sich zu wissen, sie streicheln zu dürfen und dabei gleichsam sich selbst, in ihre Augen und bis in ihr übersichtliches Herz zu blicken: Dafür lieben viele Menschen sie. Nicht wenige so sehr wie ihres­gleichen, manche mehr.

Und die Tiere, vor allem die Hunde, spiegeln die Liebe, die ihnen entgegen­gebracht wird, ohne jeden Zweifel, jeden Vorbehalt. Sie sind dem Menschen treu, ein Leben lang. Als niemand mehr an die Heimkehr des Odysseus glaubte, so heisst es bei Homer, wartete sein Hund noch immer auf ihn.

Odysseus’ Hund hiess wegen seiner Wachsamkeit wie die hundertäugigen Riesen: Argos. Andere heissen Bonzo, Teddy, Waldi oder eben Jette. Menschen erheben die Tiere, indem sie auch ihnen Namen geben, zum Individuum wie sich selbst. Indem sie ihnen, die keine Vorstellung von Vergänglichkeit haben, die nur leben und dann sterben, ein Alter zuschreiben. Sie rechnen es sogar um auf die Lebens­spanne, die ihnen geschenkt ist. Ein Hunde­jahr, so heisst es, zähle sieben Menschenjahre.

Diese Umrechnung ist der Versuch, sie sich anzuverwandeln, sie sich noch näher zu holen, so nah, wie es eben geht. Und zugleich ist es der Versuch, das viel zu Kurze zu verlängern, das Unerträgliche erträglich zu machen: dass ein Hund vor der Zeit stirbt und der Mensch, der ihn liebt, ohne ihn weiterleben muss. Wer ein Tier ins Herz schliesst, schliesst immer gleich den Schmerz des Verlusts mit ein. Er weiss aber auch um die Kostbarkeit der Tage. Als Odysseus nach zwanzig Jahren endlich nach Ithaka zurückkehrte, war Argos, sein Hund, zu schwach, um ihn zu begrüssen. Er wedelte nurmehr mit dem Schwanz, senkte die Ohren und starb. Odysseus sah es, schreibt Homer, und trocknete heimlich eine Träne.

Die vielen letzten Male

Meine Eltern haben bereits begonnen zu trauern, als sich Jettes Leben dem Ende zuneigte. Als sie ein Bein nachzuziehen begann, immer weniger frass, ihr Blick glasig wurde und melancholisch. Der Abschied dauerte Monate und bestand aus vielen letzten Malen: dem letzten Spazier­gang, dem letzten Bad im Fluss, dem letzten Streicheln.

Hängen Hunde eigentlich am Leben? Wissen sie, wie alt sie sind? Wissen sie, wie sie heissen, weil sie die Menschen, die sie lieben, so oft ihren Namen haben rufen hören? Wissen sie, was Liebe ist? Sind sie ein Individuum, mehr als ein Fuchs im Dickicht und ein Biber am Fluss? Wie ähnlich sind sie dem Menschen? Wissen sie, dass die Menschen um sie trauern werden? Schauen sie deshalb so melancholisch, wenn sie den Tod kommen sehen: weil sie Mitleid haben mit denen, die um sie trauern werden?

Nun hängt auch Jettes Bild in der Ahnengalerie der Hunde, über der Eckbank in der Küche meiner Eltern: Susi, Mandy, Conny, Erwin, Jette. Ein Dackel, ein Neufund­länder, ein Boxer, ein Landseer, ein Labrador. Fünf Hunde, Familien­hunde, halbe Menschen, vielleicht mehr als das. Fünfzig Menschen­jahre, 350 Hunde­jahre. Die Zeit vergeht, die Namen nicht.

Jette war die Letzte, sagen meine Eltern, wir können nicht mehr. Sie sind 82 und 74 Jahre alt.

Ich habe Hunde nie so sehr geliebt wie sie. Doch nun trauere auch ich um Jette, mehr als um die anderen zuvor, weil ich Angst habe vor der Lücke, die sie hinterlässt. Ich studiere nun seit einiger Zeit die Annoncen in den Zeitungen: Hund abzugeben in gute Hände. Denn: Was wird aus meinen Eltern ohne Hund? Ohne Schutz­befohlenen? Um wen sollen sie sich kümmern? Was ist der kleine Sinn des Lebens?

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