Das Vakuum von Davos

Die Eliten aus Politik und Wirtschaft begnügten sich im Nachgang der Finanzkrise vor zehn Jahren damit, den Status quo ante wieder­herzustellen. Das rächt sich nun. Ein Kommentar zur Eröffnung des World Economic Forum.

Von Mark Dittli, 22.01.2019

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Es geht wieder los. Die Augen der Welt sind für vier Tage auf Davos gerichtet. Wieder berichten die TV-Sender rund um die Uhr aus dem Schweizer Schnee. Wieder protestieren irgendwo ein paar hundert Demonstranten. Und wieder wird WEF-Gründer Klaus Schwab wohl­klingende Phrasen von sich geben, dieses Mal zu «Globalisierung 4.0». Das jährlich wechselnde offizielle WEF-Thema ist jeweils so über­raschend wie die Farbe der Anzüge der Teilnehmer.

Das WEF ist eine einzige Parodie seiner selbst. Die Spitze der globalen Elite trifft sich an einem streng bewachten Ort in den Alpen, diskutiert über die Ungleichheit auf der Welt, debattiert Fragen, wie das Wirtschafts­wachstum inklusiver und nachhaltiger gestaltet oder wie der Klima­wandel bekämpft werden soll. An den Abenden feiern die rund 3000 Teilnehmer – vier Fünftel sind Männer – rauschende Partys und fliegen Ende der Woche wieder in alle Himmels­richtungen davon.

Und trotzdem: Jenseits aller Parodie gibt das WEF jeweils eine Moment­aufnahme des Gemüts­zustandes der globalen Eliten, der politischen Entwicklungen und der konjunkturellen Tendenzen, die die Führungs­etagen gerade beschäftigen. Oder die sie gerade sträflich verschlafen. Auch die diesjährige Ausgabe hält der Welt­wirtschaft den Spiegel vor: Sie befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Aber leider nicht zum Besseren.

Die Abwesenden dominieren

In der Regel ist die Gästeliste das dominierende Gesprächs­thema am WEF. Chinas Staats­präsident Xi Jinping etwa, der vor zwei Jahren die Chuzpe hatte, die Volks­republik als weltoffenen Gegen­entwurf zu den USA des frisch gewählten Donald Trump zu präsentieren. Oder eben­dieser Trump, der sich letztes Jahr für seine Steuer­reform feiern liess, Autogramme kritzelte und gelobte, Amerika sei open for business.

Dieses Jahr ist anders. 2019 dominieren die Abwesenden das Gespräch:

Trump kommt nicht, weil er im Zuge einer inszenierten Flüchtlings­krise an der südlichen Grenze die Regierungs­geschäfte seines Landes lahm­gelegt hat. Als Folge des shutdown hat die gesamte offizielle Delegation der Vereinigten Staaten ihre Teil­nahme am WEF abgesagt.

Emmanuel Macron bleibt nach wochen­langen Protesten der gilets jaunes lieber in Paris. Sich in Davos zu zeigen, grenzte für den Präsidenten der Republik an politischen Suizid. Stattdessen versucht Macron, mit der Bevölkerung Frank­reichs ins Gespräch zu kommen.

Theresa May taumelt nach der verlorenen Brexit-Abstimmung von vergangener Woche derweil durch die «Mutter allen Schlamassels», wie es der «Economist» in seiner aktuellen Ausgabe schreibt.

Angela Merkel ist zwar in Davos, ebenso wie Japans Premier Shinzo Abe, und Xi hat immerhin seinen engsten Vertrauten, Vize­präsident Wang Qishan, in die Schweiz geschickt. Doch bezeichnender­weise ist es Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der als erstes ausländisches Staats­oberhaupt am heutigen Dienstag­nachmittag eine special address im grossen Saal halten wird. Der Mann, der in seiner politischen Lauf­bahn unzählige Male offen mit Sexismus, Rassismus, Homophobie und den Methoden der Militär­diktatur geflirtet hat, ist quasi der Stargast des WEF 2019.

Und über allem hängt der Handels­disput, den der Präsident der grössten Wirtschafts­macht gegen die zweitgrösste Wirtschafts­macht der Welt losgetreten hat – ein Disput freilich, der noch vor einem Jahr von den glitterati in Davos für höchst unwahrscheinlich gehalten worden war.

Taking back control

Der Isolationismus von Donald Trump, der Brexit, die Revolten in Frankreich, der Aufstieg des Illiberalen und Autoritären: All das sind Symptome von Strömungen, die durch die Bevölkerungen zahlreicher Nationen gehen und tiefes Unbehagen ausdrücken. Diese Strömungen lassen sich am besten mit dem Leitspruch der Brexit-Befürworter zusammen­fassen: taking back control. Bürgerinnen und Bürger, die die Kontrolle zurück­gewinnen wollen, irgendeine Form von Kontrolle, über die Grenzen des eigenen Landes, über ihre Arbeits­plätze, ihr Leben, ihre Zukunft.

Es ist ein tief greifender Wandel. Die Ära, als sich in den Jahr­zehnten nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung der USA immer mehr Staaten – Westeuropa, Japan, Taiwan und Korea, fast ganz Südost­asien und Indien, nach 1991 der ehemalige Ostblock und China mit der Aufnahme in die Welthandels­organisation 2001 als Krönung – in das liberale, regel­basierte Weltwirtschafts­system einfügten, ist vorbei. Die Globalisierung war das grösste und erfolgreichste Armuts­bekämpfungs­programm der Geschichte; sie hat Hunderte Millionen Menschen in den Mittel­stand gehievt und die weltweite Ungleichheit in der Einkommens­verteilung gesenkt.

Doch gleichzeitig hat diese Ära – nebst der Globalisierung war sie auch von Faktoren wie dem techno­logischen Fortschritt und der Entfesselung des Finanz­systems geprägt – innerhalb einzelner Staaten die Ungleichheit dramatisch steigen lassen. Im naiven Glauben, wonach offene Grenzen für den Handel grund­sätzlich gut sind und die Flut am Ende alle Boote hebt, haben die Eliten die Globalisierungs­verlierer vergessen.

Selbstverständlich ist es viel zu plump, jede Trump-Wählerin, jeden Brexit-Befürworter und jeden Träger eines gilet jaune als Verlierer der liberalen Markt­ordnung zu stempeln. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass in den westlichen Demokratien eine breite Schicht von Menschen lebt, die in den letzten zwanzig, dreissig Jahren nicht vom Fleck gekommen ist, ja, real sogar verloren hat. Das Gefühl, die neue Generation sei schlechter gestellt als die vorher­gehende, ist mittlerweile weit verbreitet. Da darf es nicht erstaunen, dass sich diese Schichten gegen das herrschende System wenden und danach trachten, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Dass sich, um das Beispiel der USA zu nehmen, die Republikanische Partei in einem kollektiven Wahn gegen jede Form von Einwanderung wendet, zeigt, wie tief das Zerwürfnis in der Gesellschaft ist. Diese Partei und ihre Basis sind Lichtjahre von Figuren wie Ronald Reagan oder George H. W. Bush entfernt. Deshalb wäre es auch ein grosser Fehler, Trump bloss als vorüber­gehendes Phänomen zu sehen und zu hoffen, der Spuk sei 2020 mit der nächsten Wahl vorbei.

Das Versagen der Davoser Elite

Noch vor zehn Jahren, unter dem Eindruck der globalen Finanz- und Wirtschafts­krise, bewies die Staaten­gemeinschaft grosse Fähigkeit zur Kooperation. Mit koordinierten Handlungen, darunter zwei gigantischen staatlichen Ausgaben­programmen in China und den USA, gelang es den Regierungen damals, einen Absturz der Welt­wirtschaft in die Depression zu verhindern.

Das WEF im Januar 2009 stand unter dem Thema Shaping the Post-Crisis World. Darin jedoch haben die hohen Politiker der mächtigen Nationen kläglich versagt: Sie haben die Zeit nach der Krise nicht gestaltet. Sie haben das Finanz­system nicht reformiert. Und sie haben nicht die Frage gestellt, ob die Früchte der liberalen, multilateralen Markt­ordnung auch einigermassen gerecht verteilt werden.

Die Gräben waren damals schon längst sichtbar, hervorragend beschrieben beispielsweise von Raghuram Rajan, dem früheren Chef­ökonomen des Internationalen Währungs­fonds. Doch die politischen und wirtschaftlichen Eliten, symbolisiert von der Davos crowd, begnügten sich damit, den Status quo ante wieder­herzustellen. Das rächt sich nun.

Es lässt sich eine direkte Kausalkette von den Versäumnissen im Nachgang der Finanz­krise hin zur Wahl von Donald Trump und seiner «America first»-Politik ziehen. Ebenso zum Brexit-Ja, zum Aufstieg des Autoritarismus, zum Wieder­erwachen des Protektionismus und zu den populistischen Revolten in Ländern wie Frankreich und Italien. Der Konsens der weltoffenen, liberalen und regel­basierten Wirtschafts­ordnung wird an den Wahlurnen verworfen, ohne dass eine echte Alternative in Form eines tragfähigen neuen Gesellschafts­entwurfs bestünde.

Für den Moment genügt die dünne Formel des taking back control – mit dem fatalen Resultat, dass der Wille zu globaler Koordination heute auf einem Tiefpunkt liegt. Dabei wäre genau jetzt internationale Zusammen­arbeit wichtiger denn je: Die Folgen des Klima­wandels, dessen Realität höchstens noch von politischen Scharlatanen geleugnet wird, lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Techno­logischer Fortschritt und Automatisierung werden in den kommenden Jahren Dutzende Millionen Arbeits­plätze obsolet machen, was den Druck auf den gesellschaftlichen Zusammen­halt in vielen Ländern weiter erhöhen wird.

Und just zum heutigen Zeitpunkt bewegt sich die Welt­wirtschaft, diesmal möglicherweise angeführt von China, in einen konjunkturellen Abschwung, ohne dass die wichtigen Zentral­banken überhaupt mit der Bekämpfung der letzten Krise abgeschlossen hätten. Vieles deutet auf eine stürmische Zukunft hin.

In einem Beitrag im Magazin «Foreign Affairs» im September 2018 forderte der frühere Nato-Botschafter der USA, Ivo Daalder, die traditionellen Alliierten der USA auf, die Führung zu übernehmen. Deutschland, Japan, Frankreich, Gross­britannien, Kanada, Italien, Südkorea, Australien und die EU müssten eine Art G-9 bilden und gemeinsam die liberale Welt­ordnung verteidigen, schrieb Daalder. Zumindest so lange, bis in Washington wieder eine vernünftige Regierung sitzt.

Doch das ist eine Illusion. Mindestens die Hälfte dieser Staaten ist selbst gelähmt. Das Führungs­vakuum ist vollkommen. Das wird am diesjährigen WEF in Davos schonungslos sichtbar werden.

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