Am Gericht

Dialog mit einem Kriminal­touristen

Zwei Welten prallen aufeinander, wenn sich ein Richter und ein notorischer Gauner im Gerichtssaal gegenübersitzen. Szenen eines Straf­prozesses.

Von Brigitte Hürlimann, 16.01.2019

Teilen2 Beiträge2

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Ort: Winterthur
Zeit: 19. Dezember 2018, 8 Uhr
Fall-Nr.: DG180095
Thema: Gewerbs­mässiger Diebstahl, mehrfacher Hausfriedens­bruch, Landesverweisung

Vor dem Bezirksgericht Winterthur muss sich ein 37-jähriger Rumäne verantworten, der ohne Über­treibung als klassischer Kriminal­tourist bezeichnet werden darf. Er wird von zwei Polizisten in Hand­schellen ans Gericht geführt, direkt aus dem Flughafen­gefängnis, wo er den Straf­vollzug vorzeitig angetreten hat. Der Mann war in die Schweiz eingereist, um hier zu stehlen, und dies nicht zum ersten Mal. Er delinquiert seit sech­zehn Jahren in verschiedenen Ländern, und er wurde bisher zu Freiheits­strafen von insgesamt acht­zehn Jahren verurteilt, die er teilweise abgesessen hat. Was Straf­prozesse betrifft, ist er erfahren, er tritt dement­sprechend souverän auf.

In der aktuellen Angelegen­heit ist er voll­umfänglich geständig, er hat gegenüber Staats­anwalt Andreas Wicky sämtliche Vorwürfe anerkannt. An der Haupt­verhandlung steht er dem drei­köpfigen Gerichts­gremium unter dem Vorsitz von Andreas Oehler mithilfe einer Dolmetscherin Rede und Antwort – willig und manchmal recht ausschweifend. Der nachfolgende Dialog zwischen ihm und Gerichts­präsident Oehler wird leicht gekürzt wieder­gegeben; vor allem wird darauf verzichtet, das genaue Vorgehen des Kriminal­touristen zu schildern oder die Namen der betroffenen Geschäfte zu nennen, um Nachahmer­taten zu verhindern. Der Gerichts­präsident eröffnet die Befragung:

«Es werden Ihnen Diebstähle in Zürich und Basel vorgeworfen sowie Hausfriedens­brüche. Sie haben vor allem Kosmetik­artikel und Parfüm gestohlen. Ist das korrekt?»

«Ja.»

«Warum haben Sie gestohlen?»

«Soll ich aufstehen?»

(Der Gerichts­präsident schüttelt den Kopf. Der Kriminal­tourist bleibt sitzen.)

«Ich möchte einfach die Wahrheit sagen: Es gab nicht wirklich Gründe für die Diebstähle. Ich war nicht in einer schlimmen Situation in Deutschland, ich hatte eine Arbeit, meine Freundin auch. Ich hatte aber keine Kontrolle mehr über meine Spielsucht. Wenn ich nachts nicht mehr schlafen konnte und Geld hatte, musste ich dieses Geld in Kasinos verspielen – in Zürich, Karlsruhe oder Mannheim.»

«Haben Sie deshalb Kosmetika gestohlen, weil man sie gut zu Geld machen kann?»

«Ich werde sehr ehrlich zu Ihnen sein. Ich ging in dieses Geschäft in Winterthur, weil ich seit 2016 weiss, dass man dort die Diebstahl­sicherung leicht umgehen kann.»

«Gehen wir der Reihe nach. Am 15. August 2018 haben Sie in Zürich in einem Gross­verteiler Kosmetika im Wert von 3474 Franken gestohlen.»

«Korrekt. Ich habe allerdings nicht so genau auf die Preis­schilder geschaut. Aber der Gross­verteiler wird das schon richtig berechnet haben.»

«Zwei Tage später haben Sie in Winterthur in einem Waren­haus Parfüm im Wert von 2088 Franken gestohlen.»

«Ja.»

«Drei Tage später in Basel, in einem Gross­verteiler, Kosmetika im Wert von 4960 Franken.»

«Ja.»

«Am 23. August 2018 in Basel Kosmetika im Wert von 2988 Franken.»

«Ja.»

«Am 31. August 2018 in Winterthur Parfüm im Wert von 2813 Franken.»

«Ja.»

«Am 4. September 2018, erneut in Winterthur, Parfüm im Wert von 3546 Franken, zusammen mit dem Komplizen.»

«Ja.»

«Liessen sich in allen Läden die Diebstahl­sicherungen so einfach umgehen?»

«Gewisse Artikel hatten gar keine Sicherung.»

«War Ihnen von Anfang an klar, dass Sie nur darum in die Läden gingen, um zu stehlen?»

«Ja.»

«Zweimal hatten Sie einen Komplizen mit dabei.»

«Ja. Er wohnte in Strassburg und hatte eine schwere Operation hinter sich, war obdachlos und über­nachtete draussen. Als er von mir erfuhr, dass ich das mache, hat er mir angeboten, mir zu helfen, und wir teilten uns den Gewinn.»

«Wo haben Sie die Sachen verkauft?»

«In Zürich, an der Langstrasse, an Frauen, die in Klubs und Salons arbeiten.»

«Haben Sie das Geld wegen Ihrer Spiel­sucht gebraucht? Oder hatten Sie auch noch Schulden?»

«Ich habe Schulden von 2200 Euro bei einem Freund in Rumänien, er hat mir das Geld aber auf lange Sicht geliehen. Ich weiss, geehrte Instanz, dass dies kein wirklicher Grund und keine Entschuldigung ist. Aber es ist die Wahrheit. Ich könnte sagen, dass ich es wegen meiner Mutter oder meiner Kinder getan habe, es war aber meine Spiel­sucht. Das ist ein Zustand, als ob man unter Drogen stünde.»

«Sie waren mit einer Einreise­sperre für die Schweiz belegt, die am 9. August 2018 ablief. Und kaum ist die Frist abgelaufen, stehen Sie wieder da, gehen in die Läden und stehlen. Was soll das?»

«Ich wusste einfach, dass man die Ware leicht aus den Geschäften nehmen kann. So kam ich halt wieder.»

«Leben Ihre Eltern noch?»

«Ja.»

«Sie gingen acht Jahre lang in Rumänien zur Schule, haben eine Berufs­schule begonnen, um Auto­mechaniker zu werden, diese jedoch nach einem Jahr abgebrochen. Warum?»

«Das war 1997, ich hatte ein schwieriges Jahr. Ich war fünfzehn­einhalb Jahre alt, war sitzen­geblieben und hätte die Prüfung nach­holen müssen. Da ging ich mit Freunden an ein Fussball­spiel, geriet in eine Messer­stecherei und wurde schwer verletzt. Das war ein Schock für mich, ich musste zwei Wochen lang ins Spital und danach in die Psychiatrie, habe es dann aber doch geschafft. Der Täter wurde nie gefunden.»

«2012 kamen Sie nach Deutsch­land.»

«Ja.»

«Dort haben Sie als Pizzaiolo gearbeitet.»

«Ja.»

«Später auf dem Bau.»

«Ja, aber zwischen­durch wurde ich auch verhaftet.»

«Sie haben in Deutsch­land bei Ihrer Freundin gelebt.»

«Ja, sie war schon seit acht Jahren in Deutsch­land.»

«Sie hätten in Deutsch­land eine Arbeits­stelle in Aussicht gehabt. Von Ihrem Gesundheits­zustand her wären Sie in der Lage zu arbeiten.»

«Darf ich das zehn Minuten lang erklären?»

«Nein, das will ich jetzt nicht erklärt haben!»

«Wenn ich mich genauer analysiere, dann verhalte ich mich nicht wie ein normaler Mensch. Ich bin unzufrieden, wenn ich zufrieden sein müsste, und bin unglücklich, wenn ich glücklich sein müsste … Aber das soll keine Entschuldi­gung sein.»

«Sie sind Vater von zwei Kindern.»

«Ja.» (will ausholen, wird vom Gerichts­präsidenten unterbrochen)

«Sie haben Vorstrafen in der Schweiz, in Deutsch­land, in Österreich und in Rumänien, wegen Raubs, banden­mässigen Dieb­stahls, Einbrüchen, Sach­beschädigung und anderem.» (Der Kriminal­tourist fällt dem Gerichts­präsidenten ins Wort und wird aufgefordert, den Mund zu halten und zuzuhören.)

«Sie haben mehrere Jahre im Gefängnis verbracht.»

«Ja.»

«Was sind Ihre Pläne nach dem Gefängnis­aufenthalt in der Schweiz?»

«Es ist wohl schwer, mir zu glauben, aber ich bin in einem Alter, in dem ich nur noch ein normales Leben führen möchte. Ich will arbeiten und ein ausgeglichenes, einfaches, ruhiges Leben führen.»

Nach der Befragung stellen Staatsanwalt Andreas Wicky und Verteidiger Michael Ricken­bacher ihre Anträge und begründen sie. Der Staats­anwalt betont, die Sache mit der Spiel­sucht höre er heute zum ersten Mal, das sei nicht glaubwürdig und als reine Schutz­behauptung zu werten. Der Beschuldigte habe innert kurzer Zeit Waren im Wert von rund 20’000 Franken gestohlen, ohne wirtschaftliche Not, und er sei berufsmässig vorgegangen. Der Verteidiger hingegen erwähnt die «laschen Sicherheits­vorkehrungen» der Läden und meint: «Gelegenheit macht Diebe.» Sein Mandant sei nicht besonders clever vorgegangen. Eine teil­bedingte Freiheits­strafe von zwölf Monaten wegen mehr­fachen Diebstahls sei angemessen, die Hälfte davon zu vollziehen, und der Mann sei nur für drei Jahre des Landes zu verweisen.

Das Gericht zieht sich zur Urteils­beratung zurück und eröffnet kurz vor dem Mittag das Verdikt; es folgt den Anträgen des Staats­anwalts. Der geständige Kriminal­tourist wird zu einer unbedingten Freiheits­strafe von 24 Monaten verurteilt und für zehn Jahre des Landes verwiesen. Ausserdem erfolgt ein Eintrag im Schengener Informations­system. Gerichts­präsident Andreas Oehler nennt das Vorgehen des Mannes «dumm und eine unglaubliche Frechheit».

«Darf ich noch etwas fragen? Kann ich zurück nach Deutsch­land zu meiner Freundin, wenn ich die Strafe in der Schweiz abgesessen habe?»

«Das entscheiden nicht wir. Das entscheiden die deutschen Behörden. Die Verhandlung ist geschlossen.»

Illustration: Friederike Hantel

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!