Eva, Karla, Teresa und Oscar: Mein «Rothaus»

Seit ich in Zürich lebe, ist das «Rothaus» etwas Spezielles. Wenn ich nur schon den Namen höre, fliessen die Erinnerungen.

Ein Essay von René Ammann (Text) und Thomas Ott (Illustration), 15.01.2019

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Vorwort der Redaktion

Das «Rothaus» an der Zürcher Langstrasse hat eine bewegte Geschichte. Es war Hotel, es war Bordell, es war Veranstaltungsort. Seit zwei Jahren ist es die Heimat der Republik. René Ammann ist Journalist beim «Beobachter», er kennt unzählige Geschichten aus Zürich und erinnert sich für uns zum einjährigen Geburtstag der Republik an sein «Rothaus».


Es war Juni 2016 und in Zürich heiss und still, da ging meine Türklingel, die nicht klingelt. Sie quäkt. Ich erwartete niemanden.

«Ja?»

«DHL.»

«DHL? Ich habe nichts bestellt.»

«Da sind zwei Koffer.»

«Was?» (Pause.)

«Ja, sie sind ziemlich schwer.»

«Okay, ich komme.»

Sie wogen fast 50 Kilo. Ich unterschrieb und zerrte die Koffer die Stufen hoch zum Lift und dachte: Oscar? Nicht wirklich! Ich rief ihn an.

«Oscar? Was ist mit den Koffern?»

«Sind die schon bei dir?»

«Ja, was ist da drin?»

«Ich erklärs dir. Ich wollte dich nicht beunruhigen.»

«Mich beunruhigen? Bist du noch in Mexiko?»

«Im Auto zum Flughafen. Wir sprechen uns in Zürich.»

«Okay. Schläfst du hier?»

«Nein. Im ‹Rothaus›.»

Der eine Koffer war schwarz, der andere rot, ein abgeschossenes Zinnober. Ich stellte sie so weit fort von mir, wie das in einer Zweizimmer­wohnung möglich ist. In der Diagonale sah ich sie mir an. Er wird doch nicht …? Oscar wohnt in Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA. Die Mauern um sein Haus sind viele Meter hoch und werfen den Pfiff zurück, der Ismail anlockt. Dann taucht die Schildkröte aus dem Irgendwo der gewehrigen Wüsten­pflanzen auf, schnappt sich das Stück Wasser­melone und verschwindet wieder.

Oscar Gardea Duarte flog nach Zürich, um Teresa zu helfen. Teresa Margolles war zur Manifesta eingeladen worden, einer Ausstellung. Oscar und Teresa sind beide Künstler, beide wohnen in Ciudad Juárez, der Millionen­stadt. Kampfplatz der Drogen­syndikate. Halbiert durch einen Fluss, den Rio Bravo, und geviertelt durch ein Gleis, auf dem muskulöse Güterzüge Eisenerz in den Norden ziehen.

Vier Brücken führen nach El Paso, der Schwesterstadt. El Paso und Juárez wurden 1848 getrennt. Den Norden schlug man zu den USA, den Süden zu Mexiko. Die Schwester im Norden ist blond und entspannt, ihre Gärten riechen nach Dünger und frisch gewaschenen Haaren, ihre Pools nach Chlor. Ihr Zwilling im Süden ist dunkel und staubtrocken, ihr Antlitz so hart wie der Boden, und die frische Wäsche riecht nach fauligem Wasser.


Oscar würde im «Rothaus» schlafen. Ich kannte das Hotel. In den 1990er-Jahren wohnte ich gleich ums Eck, an der Zwinglistrasse. Nummer 38, zweiter Stock. Eines Tages rief mich Eva in ihr Hotelzimmer. Es war lang und kahl. An der Wand kein Wechselrahmen, den man hätte geraderücken können. Unten stand der Verkehr, Benzin­schwaden drückten sich durchs offene Fenster. Eva sass auf dem hintersten der drei Einzelbetten und fischte etwas aus der Einkaufstüte. Wer bucht ein Zimmer mit drei Einzelbetten?

«Und? Was meinst?», fragte Eva. Eva Schlegel, Künstlerin aus Österreich. Es war an einem frühen Nachmittag vor ihrer Vernissage in Zürich. Eva war shoppen gegangen. Ums Eck vom «Tschingg», dem illegalen Kellerlokal, das im Rücken des Hotels Rothaus so lange Bier ausschenkte, bis die letzte Zigarette geraucht war. Der Coiffeur­laden neben dem Kino Roland verkaufte Kügelchen, die man sich in die Haare knüpfen konnte. Und Perücken. «Nun ja», sagte ich, als Evas Locken unter dem hellbraunen Pony verschwanden. Da dehnten Evas Hände einen schwarzen BH. «Okay.»


Vor meiner Haustür an der Zwinglistrasse las ich manchmal Leute auf mit Beulen am Kopf, gross wie Hühnereier. Erst war der Platzspitz geschlossen worden, dann der Letten. Wohin man auch kam im Quartier, ging das Licht an. Es war fixerblau. Damit keiner sich in der Garagen­einfahrt oder im Eingang zum Geschäfts­haus einen Schuss setzen konnte. Drogen und Spritzen überall – und Schlepp­eiter. Das Wort lernte ich damals im Kreis 4. Süchtige, die sich die Pickel aufkratzten, verteilten den Eiter übers Gesicht und ihren restlichen Körper. Nachts das Geschrei der Verzweifelten und das Gequietsche der Bremsen.

Im Innenhof meines Hauses fixte ein Dealer kichernde Mädchen an, als ich Basilikum vom Fensterbrett zupfte. Gegenüber die Ochsen-Bar, aus der Männer brüllten und durch die Strasse schossen. Nebenan der Laden von Frau Tschümperlin mit ihrem Pudel. Beinahe ein Idyll. Im Repertoire Polyester­decken mit Tigern drauf und Flaschen, bis zum Hals mit Schnüren verklebt. Und die Frau, die stockbesoffen versuchte, die Tür zu ihrem winzigen Sexshop gegenüber zu öffnen. «Findest du das Loch nicht?», rief der Bauarbeiter, es war zehn Uhr früh, als er den Graben vor ihrem Laden aushob. «Ich schiess euch alle nieder. ALLE!», gab sie mit schwerer Zunge zurück. Und schoss alle mit ihren Fingern tot.


Kurz vor 19 Uhr wunderte sich der Galerist, warum seine Künstlerin nicht an ihrer eigenen Vernissage aufgetaucht sei, wo sie doch extra aus Wien angereist war. «Doch, doch, sie ist in Zürich», sagte ich, «ich war am Nachmittag bei ihr im ‹Rothaus›.» Unter die Gäste, die sich die Bilder ansahen – auf manchen waren Pornoszenen in Blei gepunzt, auf anderen Kratzspuren unter blassgrünem Lack – hatte sich eine Frau gemischt, die keiner kannte, auch ihr Galerist nicht. Der helle Pony stiess auf ihre Sonnenbrille, das lange glatte Haar fiel ihren Rücken hinab zum Schlauchjupe. Eva Schlegel. In High Heels.


Nun bezog also Oscar im «Rothaus» ein Zimmer. Oscar Gardea Duarte. Fast zwei Meter, sicher 100 Kilo. Er bezog keinen seltsamen Dreierschlag wie Eva Schlegel im Jahr 1994. Er schlief in einem Dach­zimmerchen, das nach Bier roch. Er hatte den Kopf an der Schräge angeschlagen, die Dose war ihm aus der Hand geglitten und aufs Bett gefallen. «Es ist nicht, was du meinen könntest», sagte Oscar, als ich das nasse Laken sah.

Oscar und ich hatten uns 2014 kennengelernt, an seiner Vernissage in Zürich. Es gab Bier und Würste, ich war müde, und da hingen Gemälde von Stieren. Alle Einwanderer aus Übersee liessen sich Nutztiere nach Mexiko schicken. Vor allem Kühe und Stiere. Die ersten Tiere waren mager und hatten ein helles Fell. Die letzte Züchtung eines Stiers ist der Brangus, ein Monster. Es war unmöglich, auf etwas anderes zu blicken als auf die Hoden der Stiere, sie wurden von Bild zu Bild grösser. «Ihre Potenz gab ihren Besitzern Macht», sagte Oscar, der mich durch seine Ausstellung führte.

Im selben Jahr besuchte ich Oscar in Ciudad Juárez. Dort ist er aufgewachsen. In der Stadt, in deren Umgebung man die Leichen von mehr als Tausend vergewaltigten und ermordeten jungen Frauen fand. Zusätzlich wurden allein 2010 während des Kriegs zweier Drogen­kartelle 3111 Menschen erschossen, erstochen, mit Baseball­schlägern zu Tode geprügelt oder erwürgt aufgefunden.

Oscar holte mich am Flughafen von El Paso ab. Auf dem weitläufigen Parkplatz stand sein Hummer, feuerrot, am Heck das Wort «Rufian». Der Name seiner Band, es heisst «Zuhälter». «Ich werde dich beschützen», sagte er. Ich kam mir vor wie ein grosses Kind, obwohl ich doppelt so alt war wie Oscar.

Wir fuhren über die Grenze nach Juárez und gingen auf ein Bier in den Club «Quinze». Die Bar heisst so, weil sich dort maximal 15 Gäste aufhalten durften. Auf der Höhe der Füsse gibts eine Rinne. Die Männer konnten auf den runden roten Hockern sitzen bleiben. Sie brauchten bloss die Hose zu öffnen und pissten an den Tresen, die Rinne trug den Urin fort. Das ist lange her und bloss noch eine Anekdote in diesem Lokal, das bis zur Decke vollgepflastert ist mit Pin-up-Fotos aus den Fünfzigern.

Den Tequila tranken wir bei Roberto im «La Cucaracha». Roberto ist der Besitzer des Lokals, erfindet stets Geschichten, in denen Mäuse eine Rolle spielen. Mal leben hundert Mäuse in je einer leeren Flasche in einer Badewanne, mal empfängt ihn eine Maus immer am selben Ort, wenn er nach Hause kommt.

In Robertos Bar hat Oscar ein Musikvideo gedreht, es heisst «Master and Servant». Hauptfigur ist Karla. Sie steckt sich eine Zigarette an und bewegt sich gelangweilt durch den grossen Raum, der nun wirklich bessere Zeiten gesehen haben muss. Im Erdgeschoss Billard­tische, dann eine breite Treppe, die zur Estrade führt. Jetzt stapeln sich auf der Treppe und den Billard­tischen Kartons mit leeren Flaschen und Harassen. Die helfen wenigstens, das Dreckwasser vom Eingang wegzulenken. Wenn es in Ciudad Juárez regnet, steht man knietief darin.

Beide Bars liegen an der Hauptstrasse des Vergnügungs­viertels. Viele der Häuser­reihen hinter der Hauptstrasse waren im Jahr 2010 plattgewalzt worden. Einzelne Strassen­züge blieben übrig, und in einem der Häuser wohnte Karla. Wir gingen sie besuchen. Links der Eingangstür stand ein kleiner runder Salontisch mit einer gehäkelten Decke drauf. Rechts führte eine geschwungene Treppe in die zwei oberen Geschosse.

Aus einem der Rattanstühle erhob sich eine stark geschminkte junge Transfrau, als wir nach Karla fragten. Das Aufeinander­treffen irritierend, bis Oscar die Rollen geklärt hatte. Wir waren keine Freier. Karla begrüsste und umarmte Oscar mit einem Lächeln und mich mit einem festen, unverbindlichen Händedruck. Sie hatte in einem der schäbigen Variétés zum Play-back gesungen, im «Palacio de las Estrellas», dem Palast der Sterne. Auch dieser «Palast» war plattgewalzt worden. Nun vermietete Karla, die über 60 war, jüngeren Transsexuellen Zimmer und nahm dafür 50 der 150 Pesos pro Stunde Sexarbeit.

Die Tanzflächen der abgerissenen Variétés gab es noch, auch jene des Sternenpalasts. Teresa Margolles suchte 2015 die Transfrauen auf, die dort aufgetreten waren. Und fotografierte sie auf den freigelegten Kacheln, herausgeputzt und in High Heels in der Öde der Hinterhöfe. Auch Karla stand Modell.

Teresa hatte Karla nach Zürich eingeladen. Im «Rothaus» sollte sie in Zimmer 104 mit weiteren Transfrauen Poker spielen. Es kam nicht dazu. Karla wurde am 29. Dezember 2015 umgebracht. Oscar rief mich damals an, wir sprachen eine Stunde lang.


Erneut quäkte meine Türklingel. Ich stand am Kühlschrank und erwartete niemanden. Es war im Juni 2016, Oscar hatte die Koffer inzwischen abgeholt und war ins «Rothaus» gezogen.

«Ja?»

«Wir sinds. Teresa und Oscar.»

«Echt? Na dann, kommt rauf!»


Wir sassen an meinem Esstisch.

«Habt ihr schon gegessen?»

«Nein.»

«Ich auch nicht. Ich koche uns was.»

«Sag, würdest du einen Text auf Schweizerdeutsch lesen?», fragte Teresa, als ich Weisswein einschenkte.

«Schon. Aber wofür denn?»

«Für die Installation im ‹Rothaus›.»

Wir mussten die Aufnahmen mehrfach wiederholen.

«Sprich den Text wie ein Nachrichtensprecher», sagte Teresa.

«Das war schon besser. Nochmals. Lass alle Emotionen weg.»

Und nochmals las ich laut vor, dass Karla in der Nähe ihres kleinen Hauses in Ciudad Juárez erschlagen worden war. Ohne ersichtlichen Grund. Erschlagen. Mit Steinen. Von zwei jungen Männern. Kurz nach Weihnachten. Ende Dezember 2015. Keiner hatte etwas gesehen. Keiner hatte etwas gehört.


Dann kam der Tag der Vernissage der Manifesta. Zimmer 104 im «Rothaus» hatte etwas Feierlich-Düsteres. Teresa hatte das Pokerspiel abgesagt. In einer Ecke des Zimmers hing ein bordeauxroter Vorhang. Davor ein lebensgrosses Schwarzweiss­foto von Karla. Sie steht auf den blanken Kacheln der plattgewalzten Variété-Bar, in der sie einst gesungen hatte, dem «Palacio de las Estrellas». Dem Palast der Sterne.

Vor dem Foto von Karla lagen die Steinbrocken, mit denen man sie totgeschlagen hatte. Sie waren in den Koffern gewesen, die mir DHL nach Hause geliefert hatte. Aus dem Off erzählte eine Stimme in Englisch und Spanisch, was geschehen war. Dann ging es in Schweizerdeutsch weiter. Als ich meine Stimme hörte, verliess ich den Raum.


Oscar wollte mehr über die Umstände des Mordes an Karla in Ciudad Juárez wissen. Er fragte die Nachbarin, eine Transfrau. Sie sagte: «Wer Karla umgebracht hat? Wie soll ich das wissen? Ich war gar nicht dort. Ich war bei einem Mann, der neben dem Gefängnis wohnt. Ich nenne ihn Opa, weil er keinen mehr hochkriegt. Er will mich heiraten und mir sein Haus vererben und seine Pension. Es war sehr kalt. Ich wollte ihr einen Kaffee kaufen und ging sie suchen. Ich weiss bloss, dass sie schon tot war, als ich sie fand.»

Karlas Freundin Anibal sagte: «Nicht einmal Asche gab es von ihr. Ich sagte, wir hätten doch untereinander Geld sammeln können und sie begraben. Aber nein. Das tat weh, sehr weh. Ich sage immer: Nicht einmal der Morgen gehört uns.»


Am Tag, als dieser Text fertig war, rief mich Teresas Zürcher Galerist an. Das war seit Jahren das erste Mal. Ich erzählte ihm, ich hätte soeben eine Geschichte über Eva, Karla, Oscar und Teresa geschrieben. «Die Installation im ‹Rothaus› wurde vom Hirshhorn-Museum in Washington gekauft», sagte er. «Das ist das Museum, das gleich neben dem Weissen Haus liegt. Möglich, dass es einen Zusammen­hang gibt mit Mexiko, der Mauer, der Gender­debatte.»

«Dann ist ja meine Stimme auch dort?»

«Ja, schon. Aber die wird in Amerika keiner hören wollen.»

Ich drehte mich zur Wand hinter meinem Tisch, an dem ich esse und schreibe. Ich hatte sie vor zwei Jahren aus irgendeinem Grund rot gestrichen. Rot wie der Vorhang in Karlas Zimmer Nummer 104. Aber stümperhaft. Daher wollte ich sie grau umstreichen. Ich rief die Website des Hirshhorn-Museums auf und las, das Museum sei wegen des Shutdowns gegenwärtig geschlossen.

Zu den Personen in der Reihe ihres Auftretens

Oscar Gardea Duarte ist bildender Künstler, Musiker (als Rufian oder Peccata Minuta) und Essayist. Er wohnt in Ciudad Juárez, Mexiko. Seinen Essay über Teresa Margolles findet man im Katalog «Ya Basta Hijos de Puta».

Eva Schlegel ist Künstlerin und Kuratorin und lebt in Wien.

Karla / Hilario Reyes Gallegos wurde am 29. Dezember 2015 in Ciudad Juárez, Mexiko, mit Steinen erschlagen. Sie ist im Video «Master and Servant» von Oscar Gardea Duarte zu sehen.

Teresa Margolles ist Mexikos berühmteste Künstlerin der Gegenwart. Sie lebt seit ein paar Jahren in Ciudad Juárez.

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