Zerbombte Schule in Khanfar, Jemen: Wo einst Kinder lernten, finden nun Vertriebene einen Unterschlupf. Nariman El-Mofty/AP Photo/Keystone

Berichte aus dem unsichtbaren Krieg

Eine Rakete trifft ein Wohnhaus, Granatsplitter töten ein Kind: Zu extrem sind solche Nachrichten, als dass wir sie begreifen könnten. Doch jetzt lässt uns die Autorin Bushra al-Maqtari den Schmerz der Überlebenden in ihrer Heimat Jemen ermessen.

Von Bushra al-Maqtari und Monika Bolliger, 10.01.2019

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Vorbemerkung der Redaktion: Reisen in den Jemen sind extrem gefährlich. Und es ist für Reporter fast unmöglich, ein Visum zu bekommen. Auch deshalb wissen wir im Westen kaum etwas über den Krieg dort.

Da erreicht uns eine Nachricht aus Beirut: Die Arabistin und Nahost-Spezialistin Monika Bolliger schreibt, sie habe eine jemenitische Autorin getroffen, die mehrere Jahre lang heimlich durchs Land gereist sei und – inspiriert von der russischen Literatur­nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewitsch – ein Buch geschrieben habe, in dem Augenzeugen erzählen.

Wir haben Monika Bolliger gebeten, ihr Treffen mit Bushra al-Maqtari zu beschreiben und zwei der Texte für uns zu übersetzen. Die Stücke haben uns schockiert und berührt. Sie sind leise und brutal. Sie erzählen wie es zugeht in diesem Bürgerkrieg, der mit der saudischen Intervention eine überregionale Dimension angenommen hat.

Nasiba erzählt: «Ich stelle mir Rim als Engelchen vor»

Am Nachmittag des 3. Oktober 2016 beschiessen Milizen einen Laden in der Stadt Taiz. Nasiba Abdelmalik verliert ihre vierjährige Tochter Rim, ihre zweite Tochter Malak überlebt schwer verletzt. Das ist der Bericht der Mutter.

«Die Kälte strömt herein durch die Fenster ohne Glas. Staub weht ins Haus, Regen und Windböen dringen in unser Heim. Wir sind den Witterungen ausgeliefert. Mein Mann hat die Fensterscheiben oft repariert, aber jedes Mal, wenn die Milizen uns bombardierten, zersprang das Glas. Da hat mein Mann eingesehen, dass es besser sei, die Fenster ohne Glas zu lassen. Ich freute mich darüber.

Rim ist dort draussen, ich fühle, dass ihre Seele in der Luft schwebt, die durch meine Lungen dringt. Jedes Mal, wenn an kalten Nachmittagen der Wind weht und sich die Kälte in den Knochen festsetzt, spüre ich Rim, eine Seele in der Luft.

Die Alten sagen, dass Kinder ins Paradies kommen und zu Engeln werden, wenn sie sterben. Ich stelle mir Rim als Engel mit rosafarbenen Flügelchen vor, der am Himmel des Paradieses schwebt. Sie tanzt und lacht, und sie singt mit anderen Kindern, die das Leben oder der Krieg getötet hat. Wenn Kinder im Krieg sterben, fügen sie den Herzen ihrer Mütter einen besonders tiefen Schmerz zu. Mich zerfrisst der Schmerz über den Tod von Rim. Die Erinnerung an jenen Tag ist wie eine Wunde, die nie verheilt.

Manchmal überfällt mich das erdrückende Gefühl, dass ich an ihrem Tod schuldig bin. Manchmal befreie ich mich von dieser zermürbenden Pein und sage mir, dass es das Schicksal war oder ein absurder Zufall.

Es war Zufall, dass Rim und ihre Schwester Malak und andere Kinder des Viertels vor dem Laden standen, als die Rakete einschlug, und, ja, die Huthi-Milizen, die sie abgefeuert haben, sind schuld an unserem Kummer und unserem Schmerz.

Doch die Schuldgefühle zerfressen das Herz einer trauernden Mutter, die ihre Kleinen immer schützen wollte, einer Mutter, die ihre zwei Töchter aus dem Haus in den Tod gehen liess.

Ich erinnere mich an Rim, wie sie mit ihren Schwestern spielte, wie ihr Bruder sie neckte, wie sie ihre Grossmutter nachahmte. Wenn die mit dem Beten begann, stellte sich Rim neben sie auf den Gebetsteppich und betete mit, und wenn sich Grossmutter niederbeugte, tat es Rim ihr gleich.

Wenn ich mich an Rim erinnere, bin ich weit weg vom Lärm der Welt, weit weg vom Knallen der Raketen und Bomben, geschützt vom Schrecken, der die Strassen von Bir Pasha erfüllt, unserem Viertel, in dem der Krieg nicht zur Ruhe kommt.

In den ersten Monaten des Krieges flohen wir aus der Stadt in unser Heimatdorf in der Gegend von Maqbana und blieben zwei Monate. Doch es fühlte sich an wie zwei Jahre. Wir lebten im Elend, ohne Strom und ohne Wasser. Wir gingen jeden Morgen zu Fuss in die Berge, um Feuerholz zu sammeln. Unsere Hände und Füsse schmerzten und bekamen Risse. Bis wir es nicht länger aushielten im Dorf und zurückgingen in unsere Wohnung in der Stadt.

Wir reparierten die zersplitterten Fensterscheiben, aber drei Tage nach unserer Rückkehr kam das Haus unter Beschuss, eine Bombe traf das Dach und zerstörte den Wassertank. Danach sperrte ich meine Kinder ein und liess sie nicht mehr aus dem Haus.

Ich weiss nicht, warum ich an jenem Tag Rim und ihre grosse Schwester Malak in den Quartierladen schickte, damit sie Kartoffeln kaufen gingen. Ich erinnere mich an die beiden, wie sie die Treppe hinuntergingen. Rim trug eine rosafarbene Hose und einen eleganten Pullover. Zwei Tage davor hatte ich ihr die Haare geschnitten, und sie betrachtete sich unentwegt im Spiegel und lächelte.

Der Knall der zuschlagenden Balkontür riss mich aus meinen Gedanken, dann erfüllte Rauch das Zimmer. Ich rannte die Treppe hinunter, trat aus dem Haus und lief zum Laden. Die Treppe davor war blutbespritzt, die Kartoffeln mischten sich mit Blut, Rim, meine Kleine, und andere Kinder, sie lagen tot da und hatten keine Köpfe mehr.»

Nasiba Abdelmalik beginnt zu weinen. Dann erzählt sie weiter:

«Was hat Rim getan, dass sie sie töteten? Sie war ein kleines Kind, sie haben sie mir weggenommen und mein Herz gebrochen.

Malak, die Grosse, kann jetzt nicht mehr gehen, ihr Körper wurde von Granatsplittern übersät. Sie erinnert sich jeden Tag, wie sie die Hand ihrer Schwester hielt und die beiden auf ihre Freundinnen Ruba und Rafa warteten, um mit ihnen zu spielen. Sie sagt zu mir: ‹Mama, Rim hatte kein Gesicht mehr. Die Granate hat das Gesicht meiner Schwester zermahlen.›

In ihren Albträumen hört Malak das Geräusch der Granate, die Tausende Male einschlägt, und sieht Rim und die anderen Kinder ohne Köpfe. Malak erzählt die Details des Grauens immer wieder. Nachts im Schlaf ist sie schweissgebadet, und wenn sie aufwacht, redet sie davon, dass der Kopf ihrer Schwester über der Treppe des Ladens verteilt war. Ich halte sie dann fest und weine, und eine kalte Windböe dringt ins Haus, und ich denke an Rim, wie sie über uns schwebt, mit ihren Flügelchen.»

Eine Kindheit in Trümmern: Ein Junge sitzt in einem Autowrack in der Stadt Mokka. Nariman El-Mofty/AP Photo/Keystone

Intermezzo: «Schreiben ist meine Form des Widerstands»

Ein Buch, bei Kerzenlicht entstanden, weil es kaum noch Strom gibt: Monika Bolliger hat die jemenitische Autorin Bushra al-Maqtari in Beirut getroffen.

Damit hat al-Maqtari nicht gerechnet, in ihren düstersten Vorahnungen nicht: dass ihre beste Freundin eines Tages in ihrem Buch auftauchen würde. Riham, die sie auf ihren Recherchen begleitet hat. Die sie ermutigt und bestärkt hat. Die dokumentierte, wenn Zivilisten getötet wurden und den Angehörigen «mit einer zärtlichen Berührung ihre Tränen wegwischte».

Riham Badr starb am 8. Februar 2018, getötet von einer Granate, während sie Hilfsgüter verteilte. Just an dem Tag, an dem Bushra al-Maqtari den Vertrag für ihr Buch über die Opfer des Krieges erhielt.

Beirut, Mitte Dezember. Bushra al-Maqtari, Schriftstellerin und Journalistin, sitzt auf einem Plüschsofa in der Lobby eines kleinen Hotels. Sie ist 39 Jahre alt und trägt schwarze Jeans und eine knielange olivgrüne Bluse, ein gemustertes Kopftuch umrahmt feine Gesichtszüge. Ihre Augen füllen sich während des Gesprächs einige Male mit Tränen. Sie gebe nicht gerne Interviews, weil sie oft weinen müsse, sagt sie. Doch dann redet sie und hält selten inne, wie jemand, der sich nach langer Zeit etwas von der Seele reden muss. Erschöpft wirkt sie, und entschlossen.

Bushra al-Maqtari sprach unter Lebensgefahr mit ihren Landsleuten im Jemen. Lina Malers

Im Arabischen Frühling 2011 führte al-Maqtari im Jemen Proteste gegen den Autokraten Ali Abdallah Saleh an. Konservative Religionsführer verunglimpften sie in einer Fatwa als Abtrünnige und forderten ihren Tod.

2015 beschloss sie, das Leid der Menschen im Jemen-Krieg zu dokumentieren. Monatelang fuhr sie durchs Land und sammelte Zeugnisse von Opfern und deren Angehörigen. Oft reiste sie inkognito und vollständig verschleiert, um die Kontroll­posten der vielen Kriegs­parteien unbehelligt passieren zu können.

«Für mich ist das Schreiben eine Form des Wider­stands», sagt al-Maqtari. Widerstand gegen Mörder und Kriegs­verbrecher, Widerstand gegen ihre eigene Resignation. Sie schreibe, um lebendig zu bleiben. Weil die Opfer nicht in Vergessenheit geraten dürfen und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

«Was hast du hinter dir gelassen? – Stimmen aus dem Land des vergessenen Kriegs» heisst ihr erschütterndes Buch, das vor einigen Monaten auf Arabisch erschienen ist. Es verleiht den Opfern dieses Kriegs Namen, Gesichter, Stimmen. Diese fehlen in der Berichterstattung über den Jemen-Krieg oft. Für ausländische Journalisten ist das Land schwer zugänglich. Und die lokalen Medien stehen alle irgendeiner Kriegspartei nahe. Umso wichtiger ist das Buch von al-Maqtari. Sie macht uns den horrenden Preis des Kriegs schmerzhaft bewusst.

Ein leises und brutales Buch

Al-Maqtari traf Opfer saudischer Luft­angriffe in Sanaa und Opfer von Huthi-Bombardierungen in Taiz. Sie bereist die Hafenstadt Hudaydah, wo die mit stählerner Faust herrschenden Huthi-Milizen massenhaft Bewohner verschwinden lassen. Sie hörte von Fischern, die aufs Meer hinausgefahren waren und getötet wurden. Sie spricht mit Abgemagerten, mit Ausgezehrten: Der Jemen steht vor einer verheerenden Hungersnot. Für ihre Recherchen bezahlt al-Maqtari immer wieder mit Trauer und Depressionen.

Über 40 Jemenitinnen und Jemeniten kommen in ihrem Buch zu Wort, eine Auswahl aus mehr als 400 Protokollen, die al-Maqtari zwischen 2015 und 2017 gesammelt hat. Über 40 herzzerreissende Einzel­schicksale, ein winziger Bruchteil der erschütternden Realität des Krieges im Jemen. Es ist ein leises und deshalb umso brutaleres Buch, inspiriert von den Afghanistan-Protokollen der Literatur­nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewitsch.

Unter anderem begegnen wir einem Mann namens Ahmed Abdulhamid Seif. Wieder und wieder lässt er vor seinem inneren Auge ablaufen, wie eine Rakete das Haus seines Bruders trifft und dessen Ehefrau und drei der vier Kinder tötet, ein Horror­film ohne Ton und ohne Schau­spieler. Manchmal beschleunigt er den Film, manchmal lässt er die Bilder in Zeitlupe aufeinander folgen. Manchmal lässt er in Gedanken die Rakete und damit die Zeit einfrieren. Manchmal wünscht er sich eine Natur­gewalt herbei, die die Raketen aufhält, ein Erdbeben oder einen Wirbel­sturm, doch niemand kann die Rakete aufhalten.

«Alle sind Mörder», sagt Ahmed Abdulhamid Seif. «Und es kümmert keinen, was uns widerfahren ist.»

Zehntausende sind im Jemen-Krieg seit 2015 ums Leben gekommen. Eine neue Erhebung zählt 60’000 Todesopfer allein zwischen 2016 und 2018. Viele von ihnen sind Zivilisten, Kinder, Mütter, Väter. Rücksichtslose Belagerungs­taktiken haben Millionen in den Hunger getrieben. Einziger Lichtblick: das im Dezember in Schweden vereinbarte Waffenstillstands­abkommen. Es waren die ersten Gespräche zwischen den Kriegs­parteien seit zwei Jahren. Doch wird es halten?

«Es ist meine einzige Hoffnung», sagt Bushra al-Maqtari.

Wer kämpft gegen wen?

Der Konflikt hat viele Wurzeln, manche gehen Jahrzehnte zurück. Unmittelbar ist der Krieg die Folge der gescheiterten Übergangs­ordnung nach der Revolution von 2011. Die Huthi, eine religiöse bewaffnete Bewegung aus einer abgelegenen Gebirgs­region, nutzen die politischen Wirren und stürmen die Hauptstadt Sanaa. Erst kommt es zum Bürgerkrieg, dann zum Stellvertreter­krieg: Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen die ehemalige Regierungs­koalition. Iran liefert den Huthi Raketen­teile und Militär­berater. Nach vier Jahren Krieg ist kein Ende in Sicht. Keine Seite kann die andere besiegen.

Und je länger der Krieg dauert, desto tiefer wird der Jemen gespalten. Die Huthi kontrollieren die Landes­teile mit der grössten Bevölkerungs­dichte, einschliesslich der Hauptstadt Sanaa, wo auch Bushra al-Maqtari lebt. Immer wieder donnern saudische Kampf­flugzeuge über Sanaa, immer wieder erschüttern Luftangriffe die Stadt.

In Taiz, wo Bushra al-Maqtaris Familie lebt, ist es umgekehrt. Taiz wird regelmässig von Huthi-Einheiten bombardiert.

«Alle haben Blut an ihren Händen», sagt al-Maqtari. Das gilt auch für die USA und Gross­britannien; beide Länder unterstützen die saudisch geführte Koalition militärisch.

Ich werde nicht aufgeben

Als ihre Freunde in Beirut sie kürzlich fragten, was sie während ihres Besuchs unternehmen möchte, hat sie ihnen gesagt: im Freien spazieren gehen. Das habe sie schon so lange nicht mehr gemacht.

Viele ihrer Freunde, sagt al-Maqtari, seien tot oder geflohen. Sie selber aber werde zurückgehen nach Sanaa. Sie könne sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben.

Das Buch hat sie bei Kerzen­licht geschrieben, weil es in Sanaa kaum mehr Strom gibt. Ihr Mann brachte den Laptop einmal am Tag zur nahe gelegenen Apotheke, um ihn dort gegen Bezahlung am Strom­generator aufzuladen. Dann tippte sie ihre Notizen ab.

Weder in Sanaa noch in Taiz kann sie sich frei bewegen, und schon gar nicht ohne Abaya, den schwarzen Ganz­körper­umhang für Frauen. Religiöse Extremisten sind im Krieg erstarkt. Und keine der Krieg führenden Parteien mag, was sie schreibt.

Sie hatte deshalb auch Schwierigkeiten, einen Verlag für ihr Buch zu finden. Viele Buch­verlage der arabischen Welt werden von Regierungen finanziert, die am Krieg beteiligt sind. Nun ist ihr Buch bei Riad el-Rayyes erschienen, einem libanesischen Verlag, der manchmal Bücher publiziert, von denen andere Verlage die Finger lassen.

Das letzte Kapitel handelt nun von Riham, die ihre beste Freundin war und am 8. Februar 2018 getötet wurde, als sie Hilfs­güter verteilte. An jenem Tag sagte al-Maqtari zu sich: Egal, wie müde ich bin, ich darf nicht aufgeben. Und sie hat Wort gehalten.

Die Strasse zwischen Abyan und Aden: Im Jemen ist ein baldiges Ende der Kämpfe nicht in Sicht. Nariman El-Mofty/AP Photo/Keystone

Raqiya erzählt: «Als habe er den Krieg verflucht»

Am Morgen des 23. September 2016 beschiessen Kampf­flugzeuge ein Wohnhaus in der Hafenstadt Hudaydah. Die Rakete tötet 24 Menschen, mehr als 50 werden verletzt. Raqiya Ahmad Yahya Ali Qabih verliert ihren Bruder Salim und dessen Familie.

«Nachmittags sitze ich oft vor meiner Haustür und lasse meinen Blick durch die Gasse unseres alten Viertels wandern. Man nennt es das Inder-Viertel. Ich lausche den Schritten auf den Pflaster­steinen und sage mir: Das sind die Schritte von Salim, das sind die Schritte von Sabrin, das sind die Schritte von Nujud, das sind die Schritte … und dann weiss ich, dass sie an meiner Haustür vorbeigegangen sind.

Früher hat mich Salim, mein Bruder, jeden Tag besucht. Wir waren Nach­barn. Jeden Tag wartete ich auf seinen Besuch. Manchmal, wenn er von der Arbeit zurückkam, setzten wir uns auf die Treppe vor der Haustür und schauten auf die Dächer der alten Häuser. Wenn er nachmittags kam, tranken wir Tee und redeten über das, was uns beschäftigte.

In den Tagen der Luftangriffe brachte er seine Familie oft zu mir. Seine Töchter fürchteten sich vor dem Beschuss, sie beruhigten sich, wenn sie mit meinen Töchtern zusammen waren. Er liess sie bei mir und sagte zu ihnen: ‹Bleibt bei eurer Tante.›

An jenem Tag kam Salim wie gewohnt vorbei und rief mir mit seiner tiefen Stimme von der Gasse aus zu: ‹Meine Schwester, was hast du heute gekocht?› Ich hatte Reis mit Fisch zubereitet. Im Krieg hatten wir uns daran gewöhnt, unsere Häuser füreinander zu öffnen, um unseren Hunger zu stillen und uns gegenseitig beizustehen, so gut es eben ging. Ich weiss noch, wie merk­würdig er das Glas in seiner Hand hielt an jenem Tag, wie ungewöhnlich schweigsam er war.

Er schaute aus dem Fenster und betrachtete das Viertel eingehend, als würde er sich den Anblick der alten Häuser und ihrer Bewohner einprägen wollen. Schliesslich sagte er: ‹Ich bin verdriesslich, liebe Schwester.› Ich versuchte ihn aufzuheitern, aber er verfiel wieder ins Schweigen, sass da und starrte zu Boden.

Dann sagte er zu seiner Frau und seinen Töchtern: ‹Los, lasst uns nach Hause gehen. Die Luftangriffe haben aufgehört.› Seine Tochter Aswan bettelte noch, sie wolle bei mir bleiben: ‹Wir wollen nicht getötet werden.› Doch er bestand darauf, zu gehen.

Ich ging nicht zur Tür, um ihn zu verabschieden. Keiner von uns drehte sich zum anderen um, wie sonst.

Kaum waren sie aus dem Haus, hörte ich die Explosion. Die Mauern erzitterten, das Dach stürzte ein. Ich sah um mich und sah nichts, weil so viel Staub in der Luft lag. Wo sind Salim und seine Familie?, schoss es mir durch den Kopf, und in mir zog sich alles zusammen.

Ich lief hinaus und sah die zertrümmerten Häuser der Nachbarschaft. Einige hatten ihre Bewohner unter sich begraben. Ich ging um sie herum und erspähte meinen Bruder Salim. Da lag er am Boden, um ihn herum seine Frau und seine vier Töchter, ihre Leichen nur wenige Schritte von meinem Haus entfernt.

Ich stand da wie erstarrt und schrie um Hilfe. Ich konnte nicht zu ihnen, die Steine der zerbombten Häuser lagen im Weg, ein Berg aus Trümmern. Ein Nachbar trug die Leichname von Salim und seiner Familie weg. Die Söhne der Nachbarschaft kamen mit Laternen, um Opfer aus den Trümmern zu bergen. Ich hörte sie, wie sie die Toten und Vermissten zählten. Meine Töchter zerrten an mir, sie wollten aus dem Viertel hinaus, aber ich war wie angefroren und starrte auf den Ort, an dem saudische Kampf­flugzeuge die Familie meines Bruder auslöschten.

Sie waren unschuldig. Salim war ein kleiner Beamter am Flughafen von Hudaydah, eine Art Laufbursche, er hatte nichts mit dem zu tun, was ausserhalb seines Hauses geschah. Er liebte das Leben, und sein Traum war es, seiner Familie ein anständiges Leben zu ermöglichen.

Einzig sein Sohn Abu Bakr wurde verschont. Wenn ich ihn heute sehe, ist es, als ob mir der Geist meines Bruders erscheinen würde.

Wenn ich mich an den Tagen und Nachmittagen in Gedanken verliere, während ich das Essen zubereite, sage ich mir: Jetzt ist dann gleich Salim hier, ich sehe ihn schon kommen. Ich sehe ihn, wenn ich Tee trinke, ich stelle mir vor, dass er neben mir sitzt, und wenn mir bewusst wird, dass er tot ist, verwünsche ich dieses Leben.

Ich werde Salim bis zum letzten Tag meines Lebens in Erinnerung behalten: seine Gesichtszüge, seine Träume, unser Leben unter einem Dach als Geschwister und dann als Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen. Ich werde mich immer an dieses letzte Bild erinnern: wie die Augen seines Leichnams offen standen. Als habe er das, was ihm und seiner Familie widerfuhr, mitansehen müssen. Als habe er den Krieg verflucht.»

Übersetzung: Monika Bolliger (die Originale finden Sie hier in einer PDF-Version).

Monika Bolliger

Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahost-Korrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig.

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