Binswanger

Ein Rahmen für den Lohnschutz

Das Rahmenabkommen wurde gut verhandelt, aber der innenpolitische Prozess war ein Desaster. Was sind die Folgen? Die ehrliche Antwort: Wir wissen es nicht.

Von Daniel Binswanger, 05.01.2019

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Jede Diskussion über das Thema sollte mit demselben Satz beginnen, laut und deutlich: Wir haben ein fundamentales Dilemma. Wir haben zwei strategische politische Ziele, die von zentraler Bedeutung sind für das nationale Schicksal der Eid­genossenschaft. Es wird schwierig werden, beide Ziele auch in Zukunft zu verfolgen. Aber wir werden nichts, aber auch gar nichts unversucht lassen, genau dies zu tun.

Sie haben es erraten: Mit dem Thema meine ich die europa­politische Debatte über das institutionelle Rahmen­abkommen. Mit den strategischen Zielen, die in einem Widerspruch stehen, meine ich die Sicherung des bilateralen Weges auf der einen und den Lohnschutz auf der anderen Seite.

Die Diskussion, so wie sie heute geführt wird, beginnt jedoch in der Regel nicht mit der Anerkennung eines Dilemmas, sondern mit polemischen Angriffen auf die Gegen­position. Es ist äusserst bescheiden, auf welchem Niveau die Debatte um das Rahmen­abkommen bisher geführt wird. (Aber es gibt auch hilfreiche Beiträge, zwei Beispiele finden Sie hier und hier.)

Will man die Hauptschuldigen benennen für das Unvermögen, einen konstruktiven Entscheidungs­prozess anzugehen, so muss man nicht weit suchen: Es sind Johann Schneider-Ammann und Ignazio Cassis. Sie hätten mit aller Macht das Signal aussenden müssen, dass sie die Linke mitnehmen wollen. Sie hätten die Gewerkschaften systematisch einbinden und ihnen die höchst­mögliche Sicherheit vermitteln müssen, dass bei den Flankierenden das Maximum herausgeholt wurde. Stattdessen haben sie es mit einer tollpatschigen Überrumpelungs­masche versucht, sie haben eigenmächtig rote Linien zur Disposition gestellt – und dem Rahmen­abkommen vermutlich den politischen Todes­stoss versetzt, bevor es überhaupt zu Ende verhandelt war.

Es ist von bizarrer Ironie, dass ausgerechnet Ignazio Cassis – der Mann, der wie ein Mantra wiederholt, dass Aussen- de facto Innen­politik sei – sich aussenpolitisch, das heisst in den Verhandlungen mit der EU, gar nicht schlecht geschlagen, durch seinen innenpolitischen Dilettantismus die eigenen Erfolge aber sofort wieder infrage gestellt hat.

Der Lohnschutz, so wie er durch die flankierenden Massnahmen instituiert wurde, ist absolut strategisch: Nur aufgrund der vereinfachten Allgemein­verbindlichkeits­erklärung und der häufigen branchenweiten Anerkennung von nicht allgemein­verbindlichen Gesamtarbeits­verträgen haben sich im Schweizer Niedriglohn­sektor die Einkommen so gut entwickelt. Das ist gegenüber dem europäischen Umland die glückliche Ausnahme und von unschätzbarem Wert für den politischen und gesellschaftlichen Ausgleich in unserem Land.

Von allen guten Geistern verlassen

Wer in Zeiten der allgegenwärtigen Triumphe des Rechts­populismus – des Brexit, der Trump-Präsidentschaft, der AfD-Progression –; in Zeiten einer politischen Dynamik, die in allen westlichen Industrie­ländern dadurch befeuert wird, dass die unteren Einkommens­schichten mit Prosperitäts­verlusten und Abstiegs­drohungen konfrontiert sind; wer in diesen Zeiten nicht erkennen will, welch grundlegende Rolle die positive lohnpolitische Entwicklung für das Schweizer Erfolgs­modell spielt, den haben wirklich alle guten Geister verlassen. Wer glaubt im Ernst, es liesse sich noch eine einzige europa­politische Abstimmung gewinnen, wenn die Schweizer Niedrig­löhne ins Rutschen kommen?

Sicher: Auch die langfristige Sicherung des bilateralen Weges ist von strategischer Wichtigkeit. Die Fortentwicklung der bestehenden Verträge wird über kurz oder lang unausweichlich, in mehreren Sektoren sollten mittelfristig neue Abkommen geschlossen werden, für den Forschungs­standort Schweiz ist eine optimale Integration in die europäischen Förder- und Wissenschaftsnetzwerke von zentraler Wichtigkeit.

Allerdings sind beide Politikfelder – sowohl der Lohnschutz im Falle der Unterzeichnung des Rahmen­abkommens als auch die Fortentwicklung der Bilateralen – mit grossen Unwägbarkeiten belastet. Niemand scheint genau zu wissen, welche Handlungs­option welche präzisen Folgen nach sich ziehen würde – und die Nebel der Zukunfts­ungewissheit tragen nicht zur Versachlichung der Debatte bei.

Was wir heute brauchen, sind möglichst präzise Folge­abschätzungen zur EuGH-Rechts­praxis, zur EU-Rechtsentwicklung, zur Arbeitsmarkt­entwicklung und zur Binnenmarkt­integration gemäss den verschiedenen Szenarien. Stattdessen decken sich die Konflikt­parteien mit Beleidigungen ein – und zanken sich hingebungsvoll um eine 4-Tage- oder eine 8-Tage-Regelung, von der alle Parteien wissen, dass sie einen irrelevanten Neben­schauplatz darstellt.

Würde das Rahmen­abkommen den Lohnschutz in der Schweiz entscheidend schwächen? Es ist gut nachvollziehbar, dass sich die Gewerkschaften davor fürchten. Dass ausländische Firmen künftig erst nach einem Verstoss eine Kaution hinterlegen müssten, bringt die Gefahr mit sich, dass sie systematisch gegen Regeln verstossen und sich im Fall einer Busse einfach aus dem Staub machen. Es ist ein notorisches Problem innerhalb der ganzen EU, dass Bussen grenz­überschreitend nur sehr schwer eingetrieben werden können.

Skeptisch sein, aber auch die Chancen sehen

Allerdings muss auch zugestanden werden, dass Brüssel in diesem Feld grosse Anstrengungen unternimmt. Das sogenannte Binnenmarkt-Informations­system, dem die Schweiz gemäss Rahmen­abkommen ebenfalls beitreten müsste, soll Abhilfe schaffen. Wird die EU hier Fortschritte erzielen? Skepsis ist angebracht, aber auszuschliessen ist es nicht.

Würde die EU die Häufigkeit von Kontrollen ausländischer Firmen, so wie sie heute praktiziert wird, weiterhin akzeptieren? Ausländische Firmen werden in der Schweiz viel häufiger kontrolliert als inländische. Es ist gut möglich, dass der EuGH dies als diskriminierend betrachten würde. Andererseits sind die Kontrollen jedoch auch anders geartet und führen sehr häufig zur Entdeckung von Verstössen. Es liesse sich also argumentieren, dass die Massnahmen verhältnismässig sind.

Auch die Befürchtung, dass der EuGH das Schweizer System der tripartiten Kommissionen nicht akzeptieren würde, ist nicht von der Hand zu weisen. In diesen Kommissionen sind Schweizer Unternehmen vertreten, die Aufsichts­funktionen gegenüber ihren ausländischen Markt­konkurrenten wahrnehmen. Ein level playing field sieht sicher anders aus.

Andererseits wird in der Durchsetzungsrichtlinie zum Entsendegesetz auch wiederholt betont, dass «die Verschieden­artigkeit der nationalen Systeme der Arbeits­beziehungen und die Autonomie der Sozialpartner ausdrücklich anerkannt» werden. Auch Überwachungs­funktionen werden den Sozialpartnern nach Artikel 10, Absatz 4 ganz explizit zugestanden. Würde der EuGH die tripartiten Kommissionen als legitime Form der sozial­partnerschaftlichen Aufsicht betrachten? Wir wissen es nicht.

Auch der globale Einfluss der Entsendungen aus der EU auf das Schweizer Lohnniveau ist nicht einfach zu prognostizieren. Bisher ist das Gesamt­volumen dieser Leistungen nicht sehr bedeutend. Würde das so bleiben, wenn die Kontrolldichte abnähme und Umgehungs­möglichkeiten gewissermassen institutionalisiert würden? Ein Evaluierungsversuch von Avenir Suisse (immerhin hat der Thinktank den Versuch einer Quanti­fizierung gemacht) stellt diese Frage gar nicht erst.

Was wir auch nicht wissen, ist, was genau geschehen würde, wenn der EuGH eine Schweizer Lohnschutz­massnahme zurückwiese, die Schweiz sie aber trotzdem aufrecht­erhielte. Gemäss Rahmenabkommen wäre dann die EU zu einer «verhältnismässigen Ausgleichs­massnahme» berechtigt. Man kann nur betonen, wie zentral dieser Mechanismus ist: Die Eidgenossenschaft wird gemäss Vertrag zur Nichteinhaltung von EU-Recht ermächtigt, wenn sie mit den Ausgleichs­massnahmen leben kann.

Auch hier gibt es Unwägbarkeiten: Was sind verhältnismässige Ausgleichs­massnahmen? Viel würde davon abhängen, wie hart die EU auf Rechts­brüche reagieren und wie das Schieds­gericht die Verhältnis­mässigkeit bewerten würde. Aber dennoch: Das Doppelsystem von EuGH-Zuständigkeit und Schiedsgericht hat die Möglichkeit für Schweizer Extrawürste institutionell festgeschrieben. Das ist ein unverhoffter Verhandlung­serfolg – der bisher in der Diskussion viel zu wenig honoriert wurde. Auf dieser Grundlage würde es auch denkbar, dass die Schweiz im Bereich des Lohnschutzes weiterhin ihr eigenes Ding macht – und mit entsprechenden Gegen­massnahmen lebt.

Die Frage nach dem Hauptrisiko

Die Unwägbarkeiten betreffen aber auch die Fort­entwicklung des bilateralen Weges. Sicher: Irgendwann werden die bilateralen Verträge wertlos werden, wenn sie nicht mehr fort­entwickelt werden können. Irgendwann wird die Schweiz ein Finanz­dienstleistungs- und wohl auch ein Strom­abkommen brauchen. Aber wann? In zwei, in fünf, in zehn Jahren? Wie gross wäre der faktische Schaden, wenn die Verhandlungen erst 2020 wieder aufgenommen würden, die Börsen­äquivalenz zwischenzeitlich aufgehoben würde? Wenn der Forschungs­standort Schweiz in «Horizon Europe» zunächst nicht regulär integriert werden könnte? Auch hier ist eine realistische Abschätzung der Folgen alles andere als simpel.

Das Hauptrisiko bestünde wohl darin, dass wir zu einem späteren Zeitpunkt einen schlechteren Deal bekämen. Aber auch das ist nicht gesichert: Der Lohnschutz dürfte innerhalb der EU in den nächsten Jahren weiter gestärkt werden. Gut möglich, dass man der Schweiz gegenüber in Zukunft mehr Verständnis haben wird.

So wie es heute aussieht, wird das Rahmenabkommen keine innen­politische Akzeptanz finden. Man wird ein zweites Mal ansetzen müssen. Nächstes Mal bitte unter Einbindung der Gewerkschaften und mit der glasklaren Ansage: Wir werden den Lohn­schutz nicht preisgeben.

Was für ein Jammer, dass die innenpolitische Abfederung so fürchterlich vermasselt wurde: Auch mit dem heutigen Deal hätte die Schweiz eine vernünftige Chance gehabt, beide strategischen Ziele zu erreichen.

Illustration: Alex Solman

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